Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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in einer Männerhose, mit kurz geschorenen Haaren und einem Strohhut«, die sich nach ihrem Pädagogikstudium in der Schweiz nun anschickte, das dort erworbene Wissen an die jungen Russinnen weiterzugeben, lud zwecks Unterstützung alle Freiwilligen ein. »Sofja Perowskaja blieb mir im Gedächtnis als eine blühende junge Frau. Sie hob sich ganz stark von ihren Kolleginnen ab, da sie stets Stiefel, kurze schwarze Röcke und um die Taille gegürtete Herrenhemden anhatte«, berichtet Marja Karpowa, eine der Kursteilnehmerinnen, Sofja in ihren Memoiren.

      »Auch ihr Benehmen war sehr originell, sodass sie rasch die Aufmerksamkeit der Einwohner auf sich lenkte. Nach dem Unterricht ging sie mit einem Buch in den benachbarten Wald und blieb dort bis zum Abend. Pilz- und Beerensammler sahen sie sehr oft auf dem nackten Boden schlafen oder Blumen und Kräuter pflücken, weswegen die Ortsweiber das Gerücht verbreiteten, die Perowskaja sei eine Hexe. Aus diesem Grunde stellten die jungen Kerlchen sie unter Beobachtung, spionierten ihr nach und drohten, sie umzubringen. Wir haben sie davor gewarnt, aber sie winkte lachend ab und ließ sich nicht abschrecken. Ab und zu fuhr sie mit dem Boot auf das andere Wolgaufer, wo sie dann auch übernachtete. Während der Ferien nahm sie die Pockenimpfung wieder auf.«

      Aber auch der neue Schwung währte nicht lange: »Ich befinde mich in einer furchtbaren Stimmung«, klagte Sofja der Alexandra Obadowskaja einige Wochen danach. »Über mein Dasein hier kann ich dir nur sagen, dass ich einfach in den Tag hinein lebe und mittlerweile sogar mit dem Impfen aufgehört habe. Die Kurse finden nicht mehr statt, weil die Ortsbehörden den Mädchen verboten haben, sie zu besuchen. Wie du siehst, habe ich keine Ahnung, wie ich weiterleben soll. Aber eines weiß ich ganz genau, ich will eine Arbeit, egal welche, sogar körperliche, egal, Hauptsache, es gibt sie. … Ich würde so gerne von hier weg, aber dafür fehlt mir das Geld. Deswegen bitte ich dich, schau dich mal um, frage, ob ich irgendwo eine Beschäftigung bekommen könnte. … Denn nur so, in vier Wänden allein, stets mit einem Buch vor der Nase, tagelang nichts Vernünftiges zu tun oder aber mal mit diesem, mal mit jenem zu quatschen, macht alle meine Sinne stumpf. Dann kann ich auch nicht mehr lesen, sondern tigere von einer Zimmerecke zur anderen, irre durch den Wald, und hinterher fühle ich mich noch elender, werde noch apathischer, sodass ich auf alles, was mich hier umgibt, mit einem Widerwillen reagiere.«

      Noch schlimmere Erfahrungen machte Wera Figner, die sich nach der Ehescheidung sowie der Rückkehr aus der Schweiz den Bauernpropagandisten anschloss und sich als Feldscherin in einigen Dörfern des Gouvernements Saratow betätigte: »Schmutziges, ausgemergeltes Volk, die Krankheiten alle verschleppt, bei den Erwachsenen meist Rheumatismus, Kopfschmerzen oft seit fünfzehn Jahren, fast bei allen Hautkrankheiten, nur in einzelnen Orten gab es Bäder, sonst wusch man sich in einem russischen Ofen, unheilbare Magen- und Darmkatarrhe, Bruströcheln, mehrere Schritte weit vernehmbar, Syphilis bei Leuten jeglichen Alters, Geschwüre und Eiterbeutel ohne Ende. Und all das in unsäglichem Schmutz von Wohnung und Kleidern, bei schlechter und unzureichender Nahrung. … Oft vermischten sich meine Tränen mit den Mixturen und Tropfen, die ich für die Unglücklichen bereitete.«

      In den Feldscherambulanzen waren die Arbeitsbedingungen ebenfalls katastrophal: »Von dem Dorfschulzen zusammengeklingelt, füllten im Nu dreißig bis vierzig Patienten das enge Zimmer, unter ihnen sowohl alte als auch junge Leute, viele Frauen, noch mehr Kinder, deren Wimmern und Schreie einen nicht gleichgültig ließen. Ich gebe zu, ich wußte zwar über die Nöte und das Elend der Bauern, aber nur theoretisch, durch das Lesen von Büchern, Zeitschriften oder wissenschaftlichen Abhandlungen«, so die Figner weiter. »Bis spät in die Nacht verteilte ich ihnen geduldig Pulver und Salben, die ich in Scherben von Küchengeschirr geben mußte, allerlei Medizin und Tinkturen, die ich in Krüglein und Gläschen goß. Dabei erklärte ich ihnen drei- oder viermal, wie sie die Medikamente zu benutzen haben. Wenn ich endlich fertig war, warf ich mich auf mein Nachtlager, einen Strohhaufen, den man für mich auf dem Boden ausgestreut hatte, und fragte mich in meiner Verzweiflung, ob man in einer solchen Situation überhaupt noch an die Revolution denken dürfe. Wäre das nicht eine Ironie, dem durch alle möglichen Krankheiten geplagten Volk über Widerstand und Kampf zu predigen. … Drei Monate Tag für Tag begegnete mir ein und dasselbe Bild. … In diesem Zeitraum gelang es mir nicht, in die Seele des Volkes hineinzuschauen. Was die Propaganda anbelangt, traute ich mich nicht einmal, den Mund aufzumachen.«

Bildtextbeschreibung

      Trotz ihrer katastrophalen Lage verehrten die Bauern Alexander II., den »Befreier«, weil er die Leibeigenschaft abgeschafft hatte.

      Zu alledem bemühten sich die jungen Idealisten umsonst. Ihrer bitteren Not und katastrophalen Lage zum Trotz waren die Bauern nicht nur von der autokratischen Ordnung felsenfest überzeugt, viel mehr noch: Sie verehrten Alexander II. Der Sohn des Zaren Nikolaj I. und Marja Fedorownas, wie die Prinzessin Charlotte von Preußen, die älteste Tochter von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, nach dem Übertritt zur russisch-orthodoxen Kirche nun hieß, hob 1861 – wie bereits erwähnt – im Rahmen seiner Reformen die Leibeigenschaft auf, weswegen er auch als Zar der Befreier in die Geschichte eingegangen ist.

      Ebenfalls im Zuge von Reformen vollzog der Imperator die Umstrukturierung der Streitkräfte, was den Bauern ebenso wesentliche Vorteile brachte. Der Militärdienst machte keinen Unterschied mehr nach sozialem Status oder Vermögen der Wehrpflichtigen, sondern erfasste ausnahmslos alle jungen Männer, welche das Alter von achtzehn Jahren erreichten. »Nun musste der Sohn eines Fürsten ebenso wie der eines Hafenarbeiters von der Pike auf dienen. … Körperliche Züchtigung wurde beim Militär abgeschafft und die Dienstzeit von fünfundzwanzig auf sieben Jahre herabgesetzt.«

      Abgesehen von dem Reformwerk erfreute sich Alexander II. auch deswegen einer so großen Beliebtheit bei seinen Untertanen, weil er der erste Romanow war, der jemals seinen Fuß auf den Boden Sibiriens setzte. Dies geschah während der sechsmonatigen Reise des damals neunzehnjährigen Thronfolgers durch Russland. »Zum ersten Mal lernte Alexander das Volk, das er regieren sollte, kennen. Manchmal warf er das vorgeschriebene kaiserliche Programm über den Haufen und verließ kurzerhand die Hauptstraße, um zu Fuß irgendein obskures Dorf aufzusuchen, dessen verfallene Dächer er aus der Ferne erblickt hatte. … Auf diese Weise verbrachte Alexander einen Teil der Zeit, die er einem Empfang bei einem Generalgouverneur hätte widmen sollen, damit, das harte Los der Bauern wenigstens ein bißchen kennen zu lernen.« Ohne Zweifel waren die Russen von ihrem zukünftigen Herrscher, dem großen, schlanken Jüngling mit dunklen Haaren und ebenmäßigen, maskulinen Gesichtszügen und von seiner Paradeuniform fasziniert.

      Nach der Rückkehr kommentierte sein Erzieher, der Dichter und Philosoph Wassili Schukowski, ein leidenschaftlicher Humanist ohne jegliche politischen Ambitionen, von dem die Reiseinitiative letztendlich ausgegangen war, es sei »in Anwesenheit des ganzen Volkes zu einer Verlobung des zukünftigen Imperators mit dem Mütterchen Russland« gekommen.

      Das Volk vergaß dem Monarchen ebenso nicht, dass er die Gesamtausgaben für seine am 19. Februar 1855 in Moskau abgehaltene Krönungszeremonie, »alles bis hinunter zu den Gratismahlzeiten und dem Freibier für die Moskauer Bevölkerung«, aus seiner Privatschatulle finanziert und dadurch die Staatskasse entlastet hatte, welche durch die Kosten des Krimkrieges sowie die Zahlung der Kriegsentschädigungen arg in Mitleidenschaft gezogen war.

      Die Beziehung der Bauern zu Alexander II. war also emotional begründet, daher beschuldigten die vormals Fronpflichtigen nicht den Zaren, sondern ihre ehemaligen Herren, dass ihnen das Erlangen der Freiheit auch nach zehn Jahren keine sichtbare Besserung des Lebensstandards bescherte, dass sie nach wie vor lediglich als lebendes Gutsinventar, als Objekt der Reform fungierten. Damit lagen sie nicht ganz falsch. In der Tat suchte der Herrscher nach einer Lösung für die Quadratur des Kreises. Die Bauernbefreiung entstand auf den Trümmern adeliger Privilegien, und die Grundbesitzer waren am Vorantreiben von Reformen keineswegs interessiert. Sie legten dem Zaren permanent Steine in den Weg, es knirschte gewaltig im Getriebe. So blieb Alexander II. nichts anderes übrig, als zwischen der Szylla der Gutsherren und der Charybdis der Rechte der Bauern zu lavieren.

      Darüber hinaus herrschte der Monarch über ein etwa einhundert Millionen Einwohner zählendes Imperium, das beinahe ein Sechstel des Festlandes der Erde umfasste: In West-Ost-Richtung erstreckte sich Russland von Warna am Schwarzen Meer und