Название | Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja |
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Автор произведения | Liliana Kern |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448458 |
Mit anderen Worten schöpfte die Kommune ihre Vitalität nicht aus dem Verfolgen von bestimmten politischen Zielen, sondern aus dem Gemeinschaftsgeist der jungen Idealisten: »Der Charakter unserer Bewegung beruhte ausschließlich auf ethischen Motiven«, so ein Mitglied. »Dabei war die Intensität des subjektiven Zusammengehörigkeitsgefühls jedes Einzelnen das entscheidende Moment und nicht die Treue zu irgendeiner Ideologie.«
Auch Sofja ging es nicht anders. Die Atmosphäre der wahren Freundschaft fesselte die junge Frau an die Kommune, und den Preis für ein Dasein jenseits der Normalität bezahlte sie deshalb gern, ganz selbstverständlich, und nicht nur das, sie war sogar zu weit größeren Opfern bereit, was die kommenden Ereignisse bald zeigen sollten.
4. Kapitel
»Gang ins Volk«
»Verlaßt diese Welt, die zum Untergang verdammt ist, so schnell wie möglich, diese Universitäten, Akademien und Schulen, aus denen man euch jetzt hinauswirft und in denen man sich immer bemühte, euch vom Volk zu trennen. Geht ins Volk! Das ist euer Arbeitsfeld, euer Leben, eure Wissenschaft. Lernt vom Volk, wie man dem Volk dienen und seine Sache besser führen kann. Begreift, Freunde, daß die gebildete Jugend nicht Lehrer, nicht Wohltäter und nicht befehlender Diktator sein soll, sondern ausschließlich Geburtshelfer der Selbstbefreiung des Volkes, einiger seiner Kräfte und Anstrengungen«, beschwor der in der Schweiz lebende Michail Bakunin, der schillernde Theoretiker und Vater des russischen Anarchismus, die »jungen Brüder in Russland«.
Auch Petr Lawrow, Mathematikprofessor aus Sankt Petersburg, rief aus seinem westlichen Exil den Jugendlichen zu: »Nur im Volk gibt es genug Kraft, genug Energie, genügend Frische, um die Revolution durchzuführen, die die Lage Rußlands bessern kann. Das Volk aber ist sich seiner Kraft nicht bewußt, kennt nicht die Möglichkeiten seiner wirtschaftlichen und politischen Feinde. Man muß sich erheben. Im lebendigen Element der russischen Intelligenzija liegt die Verpflichtung, es aufzuwecken, aufzurichten, seine Kräfte zu einen, es in die Schlacht zu führen.« Die während der bereits erwähnten Studentendemonstrationen erschienenen Istoritscheskije pisma (Historische Briefe) Lawrows wurden »zum Evangelium der russischen Jugend«. Ebenso gehörte seine Zeitschrift Wpered (Vorwärts) zu den meistgeschmuggelten Publikationen der »Tschaikowzen«.
Die beiden Philosophen, die überwiegend unter Studierenden ihre Anhänger hatten, sahen im Gegensatz zu den westlichen Denkern nicht im Arbeiter, sondern im Bauern den Träger der künftigen sozialen Umwälzung. Unter dem Einfluss dieser Lehren verlagerten nun die »Tschaikowzen« ihre Aufklärungsaktivität vom Universitätsgelände in die russischen Dörfer.
Den flammenden Rufen ihrer ideologischen Propheten folgend, in der festen Überzeugung, es reiche aus, die Bauern lediglich aufzuklären, und schon würden diese sofort zu den Waffen greifen, zogen die ersten Kommunarden, unter ihnen auch die neunzehnjährige Sofja, voll schwärmerischen, inbrünstigen Enthusiasmus schon Mitte August 1871 in die triste Provinz Zentral- und Südrusslands. Die Bauernaufklärung war eigentlich einer der Tätigkeitsschwerpunkte der jungen Idealisten. Gleichermaßen waren sie von dem Wunsch beseelt, die Schuld ihrer Väter, der Gutsbesitzer, zu sühnen, das den Leibeigenen einst widerfahrene Unrecht wiedergutzumachen. Eigentlich waren die Bauern zu diesem Zeitpunkt keine Fronpflichtigen mehr, da Alexander II. vor einem Jahrzehnt die Leibeigenschaft abschafft hatte.
In den Dörfern eingetroffen, ließen sich die wohlbehüteten Sprösslinge der adeligen Familien, als Tagelöhner oder Schwarzarbeiter verkleidet, in diversen Handwerkerberufen vor Ort anlernen und eröffneten daraufhin Tischler- und Schusterwerkstätten, Sattlereien oder aber betätigten sich als Lehrer sowie Feldscher, um dem Volk auch auf diese Art und Weise nützlich sein zu können.
Die Idee, die körperliche Arbeit der Agitation hinzuzufügen, fanden die »Tschaikowzen« im schon angesprochenen Werk Tschto delat? (Was tun?), welches sie bereits zur Kommunengründung inspiriert hatte. Auch diesmal stand einer der Romanhelden den jungen Leuten Modell, und auch diesmal ging es da um eine Eins-zu-eins-Umsetzung der fiktiven Verhältnisse in die Realität. In der Figur des Intellektuellen Rachmetow schuf Nikolaj Tschernyschewski den Prototyp des sogenannten Berufsrevolutionärs, eines Asketen, der den niedrigsten Beschäftigungen nachgeht, weil er dadurch Achtung und Liebe des ganzen Volkes erwerben will, der von seinem Vermögen nur den für seinen Eigenbedarf notwendigen Teil behält und den Rest verschenkt, der letztendlich sein ganzes Leben ausschließlich der Revolution widmet.
Aber genauso wie im Falle der Kommuneneinrichtung zeigte es sich auch hier allzu schnell, dass zwischen den leidenschaftlichen Worten ihrer Theoretiker und der Wirklichkeit ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte. Von Lawrow’scher Kraft und Frische fanden die »Narodniki« (»Volkstümler«) – wie die »Tschaikowzen« in der Fachliteratur bezeichnet werden – nicht die geringste Spur. Im Gegenteil wurden sie mit einer dermaßen desolaten Situation konfrontiert, die die schlimmsten Vorstellungen der jungen Leute weit übertraf.
So war es auch bei Sofja. Der »Gang ins Volk« verschlug sie ins Wolgagebiet, in die Nähe des Städtchens Stawropol, wo sie als Grundschullehrerin die Propagandaarbeit starten sollte: »Seit zwei Wochen befinde ich mich im Gouvernement Samara. Es sind schon drei Tage her, dass ich aus der Stadt ins Dorf gezogen bin«, schrieb sie an ihre »Tschaikowzen«-Freundin Alexandra Obadowskaja Anfang Mai 1872. »Egal wo du hinschaust, überall, rundherum schlummert alles in einem tiefen Totenschlaf, kein Hauch von irgendeiner intellektuellen, anspruchsvollen Beschäftigung oder einem sinnvollen Dasein, weder in den Städten noch in den Dörfern. Die Bauern vegetieren vor sich hin, denken über nichts nach. Sie handeln wie leblose Maschinen, die einmal für immer eingeschaltet sind, und so laufen sie weiterhin, eben nach Programm. Diesen Zustand entnimmt man am deutlichsten zwei Lehrerinnen, die ich hier kennen gelernt habe: Sie sind so schweigsam, so traurig, und es ist schade, da die beiden so jung sind, so voller Kraft, für eine vernünftige Arbeit wie geschaffen. Aber hier findet man so was nicht, denn die Umstände haben hier schon längst den Geruch eines Aases angenommen.
In diesen Tagen überkommt mich eine solche Trauer, dass ich zu nichts fähig bin. Alles um mich herum bringt mich schier zur Verzweiflung, die Schwermut der beiden Lehrerinnen ebenso, weil ihnen auch nicht anders zumute ist. Ich will gegen diese Missstände ankämpfen und solchen Menschen wie den beiden heraushelfen, aber dazu fehlen mir sowohl Erfahrungen als auch die Fähigkeit. Jeder meiner Versuche im Kampf gegen das herrschende Elend ist schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt, und das Bewusstsein darüber zieht mich noch tiefer in die Depression. Es ist mir klar, dass die Änderungen nicht von heute auf morgen geschehen. Dennoch kann ich nicht dem Drang widerstehen, diesem Desaster sofort, ein für alle Mal ein Ende zu setzen, stattdessen schaue ich ihm lediglich machtlos zu.«
In der Hoffnung auf mehr Erfolg zog das Mädchen ein paar Monate später ins Gouvernement Twer, ins Dorf Jedimonowo, wo sie sich von einem Arzt zur Pockenimpferin ausbilden ließ. Parallel dazu bestand sie dank der Benutzung eines gefälschten Passes das Diplomexamen zur Grundschullehrerin, das man ihr vor einem Jahr wegen Verteilung von Flugblättern verweigert hatte. »Sofja Lwowna ging zu Fuß von Dorf zu Dorf, und in jedem blieb sie so lange, bis die Impfung fertig war«, berichtete eine Bekannte Sofjas. »Sie übernachtete und aß in der erstbesten Bauernhütte zusammen mit deren Besitzern, ernährte sich von Milch oder Brei, schlief auf dem Strohhaufen. Das Fehlen jeglichen Luxus, an den sie seit ihrer Geburt gewohnt war, machte ihr nichts aus. Sie lebte, wie sie einmal sagte, in der Phase ihrer ›Rachmetowerei‹.«
Kurz darauf kehrte Sofja nach Stawropol zurück. Dort trat sie an den bereits eröffneten Kursen für