Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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sogar auf Unvorsichtigkeiten im Spiel. Wenn wir uns irgendwie wehgetan hatten, so kam noch zu dem natürlichen Schmerz die moralische und physische Mißhandlung des Vaters hinzu. Uns Mädchen schlug er nicht mehr, seit er mich einmal als sechsjähriges Kind während einer stürmischen Überfahrt über die Wolga fast zum Krüppel geschlagen hatte. Aber wenn er uns auch seitdem nicht mehr schlug, so fühlten wir uns doch nicht erleichtert, wir fürchteten ihn mehr als das Feuer; sein kalter, durchdringender Blick genügte, um uns das Blut in den Adern gerinnen zu lassen.«

      Ihre Ausbildung absolvierte Wera Figner in einem Klosterinternat. Auf Vaters Anordnung und gegen den eigenen Willen nahm sie danach die Arbeit als Grundschullehrerin in Kasan auf. Erst mit der Heirat gelang es der jungen Frau, sich der väterlichen Obhut zu entziehen. Zusammen mit ihrem Ehemann verreiste sie 1872 nach Zürich, wo sie dann das Medizinstudium begann.

      Sowohl Sofja als auch Wera Figner erkämpften das Recht auf Eigenständigkeit ohne große Schwierigkeiten, während die Emanzipationsbemühungen der Larissa Tschemodanowa, der sechzehnjährigen Priestertochter, einem echten Abenteuer ähnelten. Das – so wie die Figner – aus der Kasaner Gegend, aus dem Ort Wjatka, stammende Mädchen äußerte nach dem Abschluss der Grundschule den Wunsch, sich bei den Alartschinski-Kursen einzuschreiben. Auf den erbitterten Widerstand des Vaters gestoßen, stahl sie sich zweimal heimlich davon, wurde aber jedes Mal schnell gefasst und zwangsweise heimgebracht, wo sie dann unter ständiger Überwachung des von dem Vater beauftragten Hauspersonals und der jüngeren Geschwister stand. Auch Larissas Post unterzog der Pope Wassili der strengsten Kontrolle, beschlagnahmte die Bücher des Mädchens und erteilte ihm schließlich die Erlaubnis, ausschließlich die Tochter des Diakons kontaktieren zu dürfen. Als die Eltern noch obendrein entschieden, sie mit dem Dorfrichter zu vermählen, schrieb die verzweifelte junge Frau an ihre ehemalige Lehrerin Anna Kuwschinskaja, die aus Wjatka weggezogen war, und bat sie um Hilfe. Diese schlug ihrer ehemaligen Schülerin vor, eine fiktive Ehe zu schließen.

      Auf der Suche nach einem passenden Heiratskandidaten fiel die Wahl auf Sergej Sinegub, einen Studenten des Petersburger Technischen Instituts. Der Gründer einer Männerkommune war Sohn eines wohlhabenden adeligen Gutsbesitzers, dazu noch hatte er eine athletische Figur, kräftige dunkle Haare, ein klares Gesicht, kurzum war er ein hübscher Bursche, demzufolge also auch eine sehr gute Partie. Er zögerte anfangs ein wenig, zum Schluss erklärte er sich doch einverstanden, woraufhin er ein Foto von Larissa in die Hand gedrückt und die wichtigsten Details über die Familie erzählt bekam.

      »Als ich in meinem besten Anzug endlich Wjatka erreichte, hörte ich mein Herz in der Kehle klopfen, da man mich schon vorher gewarnt hatte, dass der Priester keinen Spaß kenne, besonders nach den zwei Fluchtversuchen des Mädchens und den Gerüchten, welche seitdem um sein Haus schwirrten wie ein Schwarm von aufgescheuchten Fliegen. Sollte die Sache schiefgehen und die Familie wieder in einen Skandal eingezogen werden, könnte mich meine Hilfsbereitschaft teuer zu stehen kommen«, berichtet Sinegub in seinen Memoiren. »Nachdem wir nun die üblichen Floskeln bezüglich meiner Reise und der Gesundheit von Familienangehörigen ausgetauscht hatten, teilte ich dem Popen Wassili mit, dass ich mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit sprechen möchte, dass diese letzten Endes der Anlass meines Besuches sei. … Mich unterbrach ein großes, schlankes, ja bildhübsches Mädchen mit wunderschönen Augen und blassem Teint: ›Serjoscha3, endlich bist du da!‹ Es hängte sich mir um den Hals und küsste mich so leidenschaftlich, wie man es auf dieser Welt selten zu erleben vermag. … Vater Wassili sprang vom Stuhl und erstarrte zur Salzsäule. …

      Nach einigen Tagen, nachdem sich die Eltern von dem ersten Schock erholt hatten, zeigte sich der Vater doch bereit, mit mir zu verhandeln. … Nun zogen sich die Eltern zur Beratung zurück. Ich blieb mit der jungen Frau allein. Kreideweiß vor Aufregung und Angst setzten wir uns ans Fenster, flüsternd unterhielten wir uns, um uns besser kennen zu lernen. …

      Während der Trauung fühlte ich mich elend und war vollkommen verwirrt. Vor Aufregung wurde mir unheimlich heiß, sodass ich unablässig schwitzte. Der eine Nummer zu große Kranz auf meinem Kopf rutschte stets über meine mit Schweißperlen bespickte Stirn in die Augen. Jemand merkte das und steckte mir – gottlob! – sein Taschentuch darunter. Das Zeremonieende konnte ich kaum abwarten, so vernahm ich eine unbeschreibliche Erleichterung, als wir endlich die Kirche verließen. …

      Nach der Hochzeitsfeier gingen wir, die frischgebackenen Eheleute, nun in das Schlafzimmer. Es war uns unangenehm, peinlich … Aber was hätten wir sonst machen sollen, außer die Komödie zu vollenden. Das einzige Doppelbett überließ ich Larissa und legte mich selbst auf die Wäschetruhe. Sie machte das Licht aus und versank unter der dicken, kuscheligen Federdecke, während ich, zusammengekrümmt, die Nacht soldatisch verbrachte.

      Als ich frühmorgens aufwachte, merkte ich, dass das Mädchen schon aufgestanden war. Um den Eindruck entstehen zu lassen, als hätten wir beide im Bett geschlafen, wälzte ich mich auf ›meiner‹ Seite ein paar Male hin und her. Beim Frühstück überschüttete man uns mit verschiedenen zweideutigen Scherzen und Anspielungen, aber das gehörte auch zum Spiel. … Endlich saßen wir beide in der Kutsche, und das Dorf verschwand bald in der Ferne, weit hinter unseren Rücken.« In Petersburg angelangt, brachte Sinegub seine »Frau« in einer Frauenkommune unter.

      Sofja Perowskaja, Wera Figner, Larissa Tschemodanowa, drei unter vielen jungen Rebellinnen, glaubten fest daran, durch das Zusammenleben in der Kommune, außerhalb jeglicher Beeinflussung seitens der Männer, durch die permanente Erweiterung des eigenen geistigen Horizontes, durch die kleineren Schritte, die Frauenemanzipation und damit ebenfalls tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen bewirken zu können. Die Kommunardinnen fingen bei dem Prinzip der Unterwerfung an, indem sie diesem die Gleichberechtigung entgegensetzten und zu ihrer Absicherung das Privateigentum abschafften. Es gab eine gemeinsame Kasse, aus der alle Unterhaltsausgaben bestritten wurden. Darin flossen die Aussteuergelder der fiktiv verheirateten Frauen oder die finanziellen Mittel, welche tolerante Eltern ihren Töchtern schickten. Auch mittellosen Mädchen wie Sofja oder denjenigen aus sozial schwachen Familien stand das Kommunevermögen uneingeschränkt zur Verfügung.

      Dass ausgerechnet Frauen aus Sofjas Generation die Revolte gegen die herrschenden Missstände initiierten, kam vor allem durch den Einfluss der französischen, die soziale Problematik thematisierenden Ideen der 60er Jahre auf die russischen Intellektuellen zustande. Die wissenschaftlichen Abhandlungen in der Domäne der Pädagogik und Kindererziehung postulierten unausweichlich auch die Frauenfrage. Besonders großer Popularität erfreute sich in Russland die Schriftstellerin George Sand, welche das Recht auf Glück – vor allem in der Liebe – für jede Frau forderte.

      Aber ungleich mehr regte der utopistische Roman Tschto delat? (Was tun?) des Dichters und Revolutionärs Nikolaj Tschernyschewski die Gemüter der Jugend an. Seine Hauptfigur Wera Pawlowna wurde zum Idol, ihre Lebensart zum Vorbild junger Russinnen: »Während meiner sechzehnjährigen Universitätstätigkeit«, so ein Hochschullehrer aus Odessa, »ist mir kein einziger Student begegnet, der das berühmte Buch nicht bereits vom Gymnasium her kannte: Eine Gymnasiastin in der fünften bis sechsten Klasse, die sich mit den Abenteuern der Wera Pawlowna nicht bekannt gemacht hätte, wäre als dumme Gans bezeichnet worden.«

      Ohne Zweifel stellte Sofja keine Ausnahme in diesem Sinne dar, was sich den Memoiren des Wassili Perowski eindeutig entnehmen lässt: »Ich kann mich nicht ganz genau erinnern, ob es Vaters erste Reise in die Schweiz war, als er auf meine Bitte die von einem russischen Emigranten namens Elpidinin herausgegebenen Werke Tschernyschewskis mitbrachte.«

      Das in Russland verbotene Buch Tschto delat? (Was tun?), das der damals fünfunddreißig Jahre alte Gymnasiallehrer aus Saratow 1863 im Gefängnis schrieb, bewegte die jungen Russinnen einerseits zum Ausbrechen aus den demütigenden Familienverhältnissen, ermutigte sie zum Wagnis der Selbständigkeit. Andererseits aber erzeugte es bei den Vorreiterinnen des Feminismus die Illusion, der Weg zur Unabhängigkeit der Wera Pawlowna wäre auch im realen Leben durchführbar. Die Gründung von Frauenkommunen erfolgte deshalb exakt nach dem Romanvorbild, als eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Grundregeln, nach welchen das frei erfundene Frauenarbeitskollektiv funktionierte.

      Dass aber die Realität jedoch weit komplexer war als irgendeine noch so human gedachte literarische Fiktion, erfuhr Sofja schon im