Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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der Zugreise begegnete Sofja einer jungen Frau namens Anna Wilberg. Die kleinwüchsige, pummelige Brünette mit strengen Gesichtszügen hatte bereits ihr Elternhaus verlassen, um sich in Petersburg bei den Alartschinski-Kursen einzuschreiben. So bezeichnete man populär die an der Alartschin-Brücke gelegene, im Frühling eröffnete staatliche Einrichtung für Frauenbildung. Es war in der Tat ein bemerkenswertes Ereignis, denn noch bis vor kurzem waren die Tore der Lehranstalten für Mädchen versperrt. Eine damalige Russin – natürlich nur, wenn sie aus einer wohlhabenden Familie kam – hatte lediglich die Möglichkeit, entweder im häuslichen, also privaten Bereich oder aber in einem Klosterinternat ihre Ausbildung zu erwerben.

      Zu der grundsätzlich neuen Bestimmung des sozialen Status der Frauen kam es eigentlich schon 1856, nach dem Ende des Krimkrieges, den Russland gegen das Osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien geführt hatte. Der dreijährige Feldzug erwies sich für das Zarenreich nicht nur als eine militärische Katastrophe, vielmehr offenbarte er gnadenlos alle Schwächen des rückständigen feudalen Imperiums.

      Eine Erneuerung an »Haupt und Gliedern« erwies sich also als bitter nötig, was den damals sechsunddreißigjährigen Alexander II. dazu veranlasste, weitreichende Reformen einzuleiten, als er ein Jahr vor dem Kriegsende den Thron bestieg und sein schweres Erbe antrat. Im Prozess der Modernisierung nahm er auch eine grundlegende Reorganisation des Bildungssystems in Angriff. Neben dem weiteren Ausbau von schon bestehenden Grund- und Mittelschulen für Knaben, die nun für alle Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht wurden, richtete man parallel dazu auch die ersten Mädchenschulen ein und gestattete Frauen das Ausüben von pädagogischen und medizinischen Berufen, welche die mittlere Reife voraussetzten. In den Gymnasial- und Hochschulprogrammen setzte man die Priorität auf praktische, also naturwissenschaftliche und technische Fächer zuungunsten der klassischen, da Russland für seinen langfristig angelegten Industrialisierungsprozess Ingenieure, Physiker, Handwerker oder Wirtschaftsfachleute weit dringender brauchte als Gräzisten oder Latinisten.

      Die Universitäten erhielten Autonomie, und in diesem Rahmen entstanden Bibliotheken, Hilfskassen sowie Küchen zur Unterstützung sozial schwacher Studierender. Zum ersten und zum letzten Mal in diesem Jahrhundert wurde in Russland die Benutzung von ausländischer Literatur erlaubt. Die mit dem Bildungswesen fest verknüpfte Rede- und Pressefreiheit schlug sich in zahlreichen nichtstaatlichen Publikationen nieder, es kam zur Lockerung der Zensur, und 1859 erschien sogar die erste Frauenzeitschrift. Einige Monate danach erfolgte ebenfalls die Zulassung von Frauen zu den Universitäten.

      Aber nach dem Attentat Dmitri Karakosows legte der erzürnte Alexander II. alle Reformpläne auf Eis, indem er einen reaktionären politischen Kurs einschlug. Nach einigen Jahren des Stillstands stellte ein Gesetzentwurf Ende der 1860er Jahre eine Verbotsaufhebung hinsichtlich der Frauenhochschulbildung in Aussicht, wobei der Gesetzgeber den Russinnen vorerst lediglich die Zulassung zum Medizinstudium gewährte. Ausschließlich diesem Fakt hatten die Alartschinski-Kurse ihre Entstehung zu verdanken. Sie wurden mit dem Ziel gegründet, junge Frauen auf das Universitätsstudium vorzubereiten. Demzufolge fungierten sie als eine Art Mädchengymnasium. Ihre Einrichtung fand bei den namhaftesten Pädagogen der damaligen Zeit begeisterten Beifall, sie erklärten sich sofort zum Unterricht bereit und verzichteten sogar auf Entgelt, da sich der Staat nur mit einer symbolischen Summe an der Finanzierung der pädagogischen Anstalt beteiligte und die dafür erforderlichen Gelder größtenteils aus Spenden oder aber aus Kursgebühren stammten.

      Offensichtlich gelang es der fünfundzwanzig Jahre alten Anna Wilberg im Laufe der langen Reise, ihren Enthusiasmus nicht nur auf ihre Mitreisende zu übertragen, sondern sie überredete die junge Frau auch noch dazu, ihrem Entschluss zu folgen. Und Sofja entschied sich schnell, ohne lange Überlegungen, denn aufgrund der prekären finanziellen Situation engagierte Perowski seit drei Jahren keine Hauslehrer mehr, und notgedrungen lernten Sofja und Marja autodidaktisch. Zurück in Petersburg, nahm Sofja schon im gleichen Jahr ihre Ausbildung auf, und täglich, von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends, verbrachte sie ihre Zeit auf der Schulbank. »In den Algebra-Stunden hob sich eine junge Frau durch ihre beträchtliche Begabung von uns ab«, so eine Kursteilnehmerin. »Mit ihren glatt gekämmten Haaren, ihrem schlichten braunen Kleid mit weißem Kragen ähnelte sie eher einem kleinen Mädchen. Sie saß immer in der ersten Reihe neben ihrer wesentlich älteren Freundin Anna Wilberg. Bei privaten Gesprächen hielt sie sich zurück, sodass kaum jemand sie näher kannte. Diese bescheidene, schweigsame Schülerin war die sechzehnjährige Sofja Perowskaja.«

      Nach der Schule blieben die jungen Frauen weiterhin zusammen und halfen sich gegenseitig bei Hausaufgaben oder besprachen die Bücher, von denen die meisten seitens der Zensur auf den Index gesetzt wurden, weil sie Fragen wie zum Beispiel die des Proletariats, des Klassenkampfes oder der Sozialökonomie behandelten, welche weder dem absolutistischen Staat noch seinem Herrscher genehm waren. Für Sofja stellten die zensierten Titel kein Neuland dar. Dank ihrem Bruder Wassili, dem nach wie vor einzigen und engsten Vertrauten, war sie schon in Berührung mit verbotener Literatur gekommen: »In unserer Kindheit fiel mir die Rolle von Sonjas Spielgefährten zu, und danach, in ihrer Mädchenzeit, bin ich so etwas wie ein Erzieher für meine Schwester geworden, weil ich sie mit der Lektüre versorgte, die ihre Ansichten entscheidend beeinflusste.«

      Zu Beginn von Sofjas Weiterbildung an den Alartschinski-Kursen, im Herbst 1869, studierte Wassili bereits am Petersburger Technischen Institut und verkehrte in radikalen Jugendkreisen. Unter deren Einfluss beteiligte er sich an den seit dem Ende des vergangenen Jahres andauernden Studentenunruhen; durch sie sollte die Rückkehr des Zaren zum ehemals liberalen Kurs erzwungen werden. Das Ergreifen der repressiven Maßnahmen durch Alexander II. nach dem Schuss Karakosows bekam die Jugend besonders hart zu spüren. Mit der Ernennung des erzkonservativen Grafen Dmitri Tolstoj zum Bildungsminister kehrte in das russische Schulwesen die Ära des Obskurantismus zurück. Doch die Jugendlichen, da sie schon einmal in den goldenen Apfel der Freiheit gebissen hatten, wollten auf die liberalen Privilegien nicht mehr verzichten. Der Zar war lediglich dazu bereit, einige halbherzige Zugeständnisse zu machen, da die Protestkundgebung aufgrund ihres lokalen Charakters keine ernst zu nehmende Gefahr für ihn darstellte, weswegen sie auch relativ zügig unter Kontrolle gebracht wurde. Die Teilnahme an dem Aufruhr trug Sofjas Bruder eine zweimonatige Studiensperre ein.

      Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Graf seinen zwanzigjährigen Sohn wegen der Kontakte zu den extremen Gruppierungen jemals zur Rede gestellt hätte. Es entsteht im Gegenteil der Eindruck, als würde Perowski auf Wassilis Interesse für die revolutionären Ideen nicht nur mit Verständnis reagieren, sondern vielmehr dieses sogar unterstützen: Von mehreren Besuchsreisen bei dem Bruder Petr in Genf brachte er auf die Bitte des jungen Mannes die Werke der in Russland verbotenen zeitgenössischen Autoren mit, die letztendlich auch in Sofjas Händen landeten. So war sie in die »Tabu«-Themen schon eingeweiht, als sie sich an den Diskussionen ihrer Mitschülerinnen beteiligte.

      Aus den inoffiziellen Gesprächsrunden der Kursteilnehmerinnen bildeten sich im Laufe der Zeit mehrere Zirkel heraus. So schlossen sich Sofja und Anna Wilberg der Gruppe an, die um Alexandra Kornilowa, die Tochter des Inhabers der Petersburger Porzellanfabrik »Gebrüder Kornilow«, versammelt war. Das Mädchen organisierte in ihrer Wohnung regelmäßig Sitzungen, welche Sofja sehr ernst nahm und von denen sie nicht eine einzige verpasste, »diejenigen, die nicht pünktlich erschienen, fauchte sie scharf an«. Ein wenig später stieß zu dem Arbeitskreis auch Jelisaweta Kowalskaja aus Charkow, ein zierliches Mädchen mit einer nachdenklichen Miene, über dessen Brust zwei lange, dicke Zöpfe herunterhingen. Die uneheliche Tochter eines Gutsbesitzers und einer Leibeigenen brachte im Alter von sieben Jahren den Vater dazu, der Mutter den Status einer freien Bürgerin zu verleihen. Sie gehörte zu den ganz wenigen Menschen, welche die verschlossene Sofja an sich heranließ, zu welcher sie ihr Leben lang einen engen, innigen Kontakt aufrechterhielt. Die Kowalskaja erinnert sich an ihren ersten Abend bei Alexandra Kornilowa in der Wladimir-Straße: »Ich ging durch die offene Tür und betrat den geräumigen Flur, ausgestattet mit Palmen, teuren Spiegeln und Kleiderständern, die von großem Luxus zeugten. Aus dem benachbarten Raum ertönte ein ohrenbetäubender Lärm, verursacht durch die Stimmen vieler Frauen, die sich einen erbitterten Streit lieferten. Ein Mädchen, klein und von kräftiger Statur, eilte mir entgegen. Die Art und Weise, wie es gekleidet war, verriet es sofort als eine Verfechterin der Frauenrechte: Sie hatte kurz geschnittene Haare und trug