Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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die Eigenständigkeit außerhalb der elterlichen Obhut anstrebte, einen Bewilligungsbescheid, dessen Erteilung nur dem Vater oblag. Dieses schriftliche Dokument war weiterhin die Bedingung für die Erhaltung eines Reisepasses, der zugleich als Personalausweis fungierte. Sowohl Töchter als auch verheiratete Frauen waren im damaligen Russland in den Pässen ihrer Väter und Ehemänner eingetragen und gelangten in den Besitz ihres eigenen ausschließlich durch deren Genehmigung. Der Graf, ein Mensch konservativer Ansichten, lehnte natürlich Sofjas Bitte kategorisch ab. Diese packte ihre Sachen, verschwand spurlos und ließ dem Vater ausrichten, sie würde sich so lange verstecken, bis sie die Erlaubnis erhalten habe. Als das Mädchen spätabends immer noch nicht zurückkehrte, ging die besorgte Mutter zu Anna Wilberg und bat sie, ihr Sofjas Aufenthaltsort mitzuteilen, doch sie kam unverrichteter Dinge heim.

      Als Sofja auch am nächsten Tag nicht erschien, meldete der Graf seine Tochter als vermisst. An demselben Abend begab sich die Gräfin zu Alexandra Kornilowa: »Es war fast Mitternacht, und ich lag schon im Bett, als Warwara Stepanowna an meiner Tür klingelte. Sie flehte mich verzweifelt an, entweder Sonja zu überreden, nach Hause zurückzukommen, oder aber ihr Versteck zu verraten, damit sie mit ihr sprechen könne.« Auch diesmal stieß Sofjas Mutter auf taube Ohren.

      Am dritten Tag begriff der Graf, dass die Sache weit ernster war, als er gedacht hatte. Aus Angst vor einem Skandal wandte er sich persönlich an den Stadtgouverneur und bat ihn um eine diskrete Behandlung des Falles. Es verging noch eine ganze Woche, und von dem Mädchen weiterhin keine Spur. »Eines Abends«, berichtet die Kornilowa weiter, »erschien ein Polizist bei uns:

      ›Wissen Sie vielleicht, wo sich Sofja Perowskaja befindet? Ihr Vater hat uns beauftragt, nach ihr zu suchen‹, fragte er meinen Papa.

      ›Das kann ich Ihnen leider nicht sagen‹, antwortete er und drehte sich zu mir. ›Fragen Sie meine Tochter. Vielleicht weiß sie das.‹

      ›Ich habe die Perowskaja seit einer Weile nicht mehr gesehen. Sie kommt nicht mehr zum Unterricht, und ich bereite mich gerade darauf vor, sie zu besuchen, weil ich dachte, dass sie vielleicht krank ist‹, spielte ich die Unschuld vom Lande.«

      Natürlich halfen ihre nihilistischen Freundinnen Sofja, unterzutauchen. Den Unterschlupf fand sie in der Wohnung der Schwestern Karali, ebenfalls zweier Kursteilnehmerinnen. Da die Polizei nach ihr fahndete und sie sich deshalb nicht auf die Straße traute, saß sie tagelang in den vier Wänden eingesperrt. Die zwangsläufige Gefangenschaft hielt Sofja nicht länger aus und verreiste nach Kijew, wo sie bei einem gewissen Doktor Jegor Emme etwa zwei Monate verweilte. Der Arzt war ebenfalls ein untypischer russischer Vater, weil er seine Tochter Anna sogar in Zürich studieren ließ. In der Schweiz knüpfte die junge Frau Verbindung zu den revolutionären Gruppierungen der russischen Studenten, dank diesen dann auch mit den Petersburger Nihilistinnen.

      Da von dem Grafen nach wie vor kein Signal des Einlenkens kam, drohte Sofja mit Selbstmord, sollte er sich weiterhin weigern, ihre Forderung zu erfüllen. Sicherlich litt sie sehr darunter, dass die Mutter ihretwegen einem solchen Kummer ausgesetzt war, und das verzweifelte Mädchen griff nach der Suiziddrohung, um diese für beide Seiten unerträgliche Lage endlich zu beenden.

      Die Sorge der Eltern wuchs mit jedem neuen Tag, zugleich schwand ihre Hoffnung, die Polizei würde Sofja aufspüren, bevor sie eine Dummheit begehe. Die permanenten Nervenstrapazen hatten verheerende Folgen für die schon angeschlagene Gesundheit des Grafen, sodass er – dem Rat seines Arztes folgend – letztendlich nachgab, indem er den Bewilligungsbescheid verfasste und Nikolaj ins Innenministerium schickte, um das Dokument beglaubigen zu lassen. Über Wassili landete das Papier bei der Kornilowa, über diese letztendlich bei Sofja. Drei Jahre werden die Eltern ihre Tochter nicht mehr sehen, und »in diesem Zeitraum verlor der Vater kein Wort mehr über Sonja«.

      3. Kapitel

      Leben in der Kommune

      Nach einer zähen und nervenzermürbenden Schlacht ertrotzte sich Sofja die Unabhängigkeit von der elterlichen Obhut und nahm Anfang 1871 ihr Schicksal selbst in die Hand, indem sie zusammen mit ihrer mittlerweile engen Vertrauten Alexandra Kornilowa eine Wohngemeinschaft gründete. Im Grunde genommen unterschied sich diese von Kornilowas bisherigem Arbeitskreis lediglich dadurch, dass die Mädchen diesmal mit vier anderen Freundinnen unter einem Dach wohnten, wobei die beiden eigentlich keine Pioniere auf diesem Gebiet waren: Als sie zusammenzogen, schossen russlandweit Hunderte von sowohl Frauen- als auch Männerkommunen wie Pilze aus dem Boden. Unter dem neuen Modell des Zusammenlebens war eine Gruppe von vier bis sechs Kommunarden oder Kommunardinnen zu verstehen, die sich in einer Wohnung mit ein paar Zimmern, Küche, Diele und Bad einmieteten, zu welcher offiziell etwa zwanzig Mitglieder zählten. Die Gruppen benannte man nach den Straßennamen ihrer Wohnsitze, so gingen Sofja und ihre Mitbewohnerinnen als »Kuschelewer Kommune« in die Geschichte ein.

      Diese nihilistischen Ersatzformen für Ehe und Familie dienten zugleich als eine Bildungsstätte mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt aus dem Bereich entweder der Natur- oder aber der Geisteswissenschaften. Bei den regelmäßig organisierten Lesungen, Referaten und anschließenden Diskussionen hatten alle Wissbegierigen ausnahmslos das Recht, sich an jeder beliebigen Veranstaltung zu beteiligen. Die um die zwei Mädchen versammelten jungen Frauen beschäftigten sich mit Fragen der politischen Ökonomie.

      Die strenge Teilung der Arbeitszirkel nach Geschlechtern resultierte aus dem Streben der Frauen nach Emanzipation und ihrer Befürchtung, die patriarchalisch erzogenen, ja zu dominanten Männer könnten sich auf den Entwicklungsprozess ihrer Selbständigkeit hemmend auswirken, sie würden in ihre traditionelle Rolle, die sie auf diesem Weg abzulegen versuchten, erneut zurückfallen. »Eine Frau muss ihrem Mann gehorchen und mit ihm leben in Liebe, Respekt und unbegrenztem Gehorsam und ihm als dem Herrn des Haushaltes alle Annehmlichkeiten entgegenbringen«, liest man in einem Artikel über Frauenrechte zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Kirche stieß in das gleiche Horn: Sie betrachtete Frauen »dem Mann in jeder Hinsicht untergeordnet« und forderte von ihnen »demütiges Dulden und Selbstaufopferung in ihrer wichtigsten Aufgabe: Kinder zu gebären und aufzuziehen.«

      Andererseits aber stemmte sich die Mehrzahl dieser Frauen gegen ein Dasein in der männlichen Nähe, weil sie, so wie auch Sofja, voller Wut und Verbitterung, nicht selten auch Verzweiflung, vor der erzieherischen Tyrannei der Väter bereits geflohen waren, um in den Kommunen Zuflucht zu finden. Wie intensiv der aufgestaute Unmut auf den Grafen Sofjas Leben nachträglich prägte, zeigen die Worte der Alexandra Kornilowa: »Sie [Sofja Perowskaja – L. K.] verachtete den Vater und konnte ihm nicht verzeihen, dass er die Mutter so sehr schikanierte. Unzählige Male hörte ich sie über ihn sprechen. Es scheint, dass kein Mensch auf dieser Welt imstande wäre, so feindselige Gefühle in ihrer Seele zu erzeugen.«

      Dennoch sind die Umstände, unter denen Sofja ihre Kindheit und Mädchenzeit verbrachte, im Vergleich mit den Erfahrungen anderer junger Frauen sogar als glücklich zu bezeichnen. Zu dieser Gruppe gehörte zum Beispiel Wera Figner, die als Sprössling einer reichen adeligen Familie 1852 in Christoforowka, einem Dorf unweit der Stadt Kasan, geboren wurde: »Wir wurden äußerst streng erzogen; der Vater war heftig, hart und despotisch, die Mutter gut, sanft, aber machtlos. Sie wagte es nie, uns zu liebkosen, geschweige denn, uns je vor dem Vater in Schutz zu nehmen. Meines Vaters Richtschnur in der Erziehung war: eiserne Disziplin und absolute Unterwerfung … Pünktlich zur Minute mußten wir aufstehen und ebenso zur Minute schlafen gehen. Immer dieselbe Kleidung, dieselbe Frisur …, nach jeder Mahlzeit sich bekreuzigen und den Eltern danken, bei Tisch durfte kein Wort gesprochen werden; widerspruchslos mußte alles gegessen werden, gleichgültig, ob es zu viel oder zu wenig war. Wir sollten lernen, nicht wählerisch zu sein. … Nichts durften wir ohne Erlaubnis anrühren, besonders ja nicht Vaters Sachen; wenn das Unglück geschah, dass man etwas zerschlug oder auch nur an den unrichtigen Platz stellte, dann erstreckte sich der väterliche Zorn über das ganze Haus. Und dann setzte die Strafe ein: Man mußte im Winkel stehen, wurde an den Ohren gezogen oder bekam Schläge mit dem Lederriemen, der immer dazu in Vaters Arbeitszimmer hing. Er strafte grausam, unbarmherzig. Wenn die Brüder gezüchtigt wurden, dann litten wir alle mit. Auch nicht die geringste Kleinigkeit blieb ungestraft. Wir durften nichts vor dem Vater verheimlichen, unerbittlich forderte er die strengste Wahrheit von uns, und die Mutter ging mit ihrem Beispiel