Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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und so nahmen sie ihn nicht mit.

      So verging ein halbes Jahr, und Sofja wurde immer noch nicht vernommen. Im Laufe all dieser Monate bekam sie keine Unterstützung seitens der Familie und konnte sie nicht bekommen, weil diese lange vor ihrem Arrest in alle vier Winde zerstreut worden war. Wassili war der Einzige, mit dem das Mädchen noch Kontakt pflegte. Die inzwischen mit einem Arzt verheiratete Marja wohnte im Gouvernement Saratow, weit weg in der Provinz. Aber abgesehen von der räumlichen Distanz standen sich die Schwestern sowieso nie nah. Die Eltern hatten sich schon längst wieder getrennt. Während der Vater mit seiner Liebhaberin in Petersburg blieb, übersiedelte die Mutter auf die Krim, auf das letzte noch übrig gebliebene Landgut »Primorskoje«, das sie dank einer Abmachung mit dem Grafen vor dem Verkauf rettete. Aufgrund der drastischen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes war Perowski dringend auf eine zweite Auslandskur angewiesen, dafür aber fehlten ihm die Mittel. Die Gräfin bot ihm die nötige Summe an, und im Gegenzug verlangte sie von ihrem Exmann, er solle das Landgut auf sie übertragen. Der Graf lehnte den Vorschlag zuerst ab, nach einem langen Hin und Her stimmte er dem Angebot aber doch zu. So gab ihm die Perowskaja achttausend Rubel, das nach dem Tod ihrer Mutter geerbte Geld, und zog daraufhin auf die Krim um. Nikolaj folgte ihr nach.

      Der Graf war über Sofjas Verhaftung nicht informiert, da nicht allein seine Beziehung zur Tochter auf Eis lag, sondern mittlerweile auch die zu Wassili. Des ständigen Vorwurfs überdrüssig, er hätte die Schwester zur Flucht angestachelt, mied der Sohn die Gesellschaft des Vaters.

      Auch wenn man die zerrütteten Familienverhältnisse vor Augen hat, ist es schwer nachzuvollziehen, dass die Mutter nicht einmal nach Petersburg kam, um zumindest in der Nähe der Tochter zu sein. Sofja selbst konnte sich nicht an sie wenden, da den Gefangenen in Untersuchungshaft jeglicher Briefwechsel untersagt war. Aber warum verschwieg Wassili der Mutter die Festnahme der Schwester? Allem Anschein nach kam die Gräfin gerade noch über die Runden, und die mit einer solchen Reise verbundenen Kosten verkrafteten ihre Finanzen offensichtlich nicht.

      Kurzum, das einundzwanzig Jahre alte Mädchen stand in diesem langen Zeitraum, dazu noch zum ersten Mal im Gefängnis, mutterseelenallein da, vollkommen sich selbst überlassen.

      »Ich weiß es nicht mehr, wer als Erster auf die Idee kam, den Vater zu Hilfe zu holen. Sonja zeigte sich damit einverstanden«, berichtet Wassili. »Voller Unbehagen, in tiefer Trauer ging ich zu ihm und sagte, dass sie sich schon seit Monaten im Gefängnis befinde und dass es keine Hoffnung auf ihre baldige Entlassung gebe. Ohne nach dem Grund für den Arrest zu fragen, versicherte er mir, mit dem Gendarmeriechef Petr Schuwalow unverzüglich über Sonja zu sprechen. Natürlich hatte die Zeit das Ihre getan, und von Vaters ehemaliger Wut auf die Tochter war nach drei Jahren nicht mehr viel übrig. Mir kam es vor, als hätte ich eine Ewigkeit warten müssen, bis er endlich zurückkehrte. Er sagte, sein ehemaliger Regimentskamerad habe ihn sehr freundlich empfangen und einem Offizier befohlen, alles, was in seiner Macht stehe, für Lew Nikolajewitsch zu tun. Dieser habe den Vater gebeten, am nächsten Tag nochmals in die Dritte Abteilung zu kommen.

      Auch diesmal vergingen einige Stunden, bis der Vater endlich erschien. Dann klagte er über sein ausführliches Gespräch mit den Gendarmen, über viele Erklärungen, welche diese von ihm verlangten. Von ihnen habe er auch in Erfahrung gebracht, dass Sonja bei ihrer Festnahme in einem furchtbaren Zustand gewesen sei. … Danach habe er die Schwester kurz gesehen, wobei die beiden geheult hätten. Aber Sonja habe er noch nicht mit nach Hause nehmen dürfen und sei abermals um ein wenig Geduld gebeten worden.

      Zwei Tage später erschien der Offizier bei dem Vater und verkündete, er könne die Tochter abholen, dennoch nur unter der Voraussetzung, dass sie unter Hausarrest gesetzt werde. Gespannt wartete ich auf die Schwester, bis ich sie endlich in die Arme schloss. Sonja erzählte mir, wie der Vater bitter geweint habe, weswegen auch sie die Tränen nicht zurückzuhalten vermochte.«

      Dank der Kaution von fünftausend Rubel setzte die Polizei Sofja bis zum Beginn des Gerichtsprozesses auf freien Fuß, und von jetzt an lebte die junge Frau bei dem Vater. Dieser aber ging jeden Abend mit seiner Freundin zu verschiedenen Vergnügungsstätten aus, und so weilte das Mädchen bis tief in die Nacht in der leeren Wohnung allein, sehr oft auch tagsüber, weil der Graf bis ein Uhr mittags, manchmal sogar noch länger, schlief.

      So blieb Sofja auch jenseits der Kerkermauern sich selbst überlassen. Die Einsamkeit, das Alleinsein konnte die junge Frau ganz schlecht ertragen – und in einer für sie vollkommen neuen Situation wie dieser erst recht nicht. Dringender als je zuvor brauchte sie einen festen Halt, eine Stütze. So dauerte es nicht lange, bis sie wieder Verbindung mit ihren Zirkelfreunden aufnahm, die entweder der Polizei entwischt waren oder aber wie sie selbst gegen Sicherheitsleistung mittlerweile entlassen worden waren. Zuerst trafen sich die jungen Leute bei Sofja. Doch bald bekam die Dritte Abteilung Wind von dem neuen konspirativen Zentrum, was die Gruppe veranlasste, nach sichereren Versammlungsorten zu suchen.

      Einer von diesen war die Wohnung der Wera Figner. Dank der rechtzeitigen Warnung entkam die Feldscherin der Arrestwelle, verließ fluchtartig die Provinz und hielt sich nun in Petersburg versteckt. »Sofja Lwowna begegnete ich zum ersten Mal 1874, als sie sich unter Hausarrest befand. Alexandra Kornilowa brachte sie zu mir und bat mich, Sonja bei mir übernachten zu lassen«, berichtet die Figner. »Ihr Aussehen fiel mir sofort auf: Mit einem einfachen Hemd angezogen, ähnelte sie eher einem Bauernmädchen. Ihr Gesicht strahlte etwas Jugendliches, ja Kindliches aus, was wiederum im Widerspruch zu ihrer eisernen Willens- und Charakterstärke stand. Überhaupt prägte ihre ganze Erscheinung sowohl eine feminine Milde als auch eine maskuline Härte.«

      Im Juni 1874, zur Zeit von Sofjas Entlassung, war der »Tschaikowzen«-Zirkel praktisch schon zerschlagen und daher zu groß angelegten Aktionen nicht mehr fähig, besonders nicht, nachdem sein Anführer Nikolaj Tschaikowski im gleichen Jahr die Träume von der Revolution aufgegeben hatte und in eine religiöse Sekte in Amerika eingetreten war. Andererseits hätte jede noch so harmlose Form von Propaganda ausgerechnet in diesem Augenblick verheerende Folgen für die in Gewahrsam genommenen Kommunarden gehabt, während diejenigen, die sich wie Sofja unter Hausarrest befanden, mit einer erneuten, sofortigen Festnahme rechnen mussten. Die jungen Idealisten vegetierten also vor sich hin, und die Tatenlosigkeit machte Sofja zu schaffen. Die einzige Aufgabe der jungen Frau bestand darin, mit den inhaftierten Freunden die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Da diese immer noch den Status der Häftlinge in Untersuchungshaft besaßen, waren ihnen weder Besuche noch Briefwechsel gestattet, so waren sie weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten. Aber ein paar Rubel, womit Sofja einen Gendarmen bestach, sorgten schließlich für einen einwandfreien Nachrichtenumlauf.

      Die Passivität hielt Sofja auf die Dauer nicht aus, so fasste sie kurzerhand den Entschluss zum Umzug auf die Krim. »Der Vater begrüßte herzlich Sonjas Entscheidung, weil er sich durch ihre Anwesenheit sehr beengt fühlte.«

      Etwa einen Monat später traf das Mädchen auf »Primorskoje« ein. Dort fand sie die Mutter vor, die nur mit großer Mühe das karge Dasein meisterte. Wegen hoher notarieller Gebühren verpachtete die Gräfin notgedrungen das Landgut und bewohnte zusammen mit Nikolaj ein bescheidenes gemietetes Häuschen in der Nähe des Anwesens.

      Lange ertrug Sofja die provinzielle Stille der Krim nicht. Ihr Tatendrang meldete sich wieder. Obwohl die junge Frau unter Hausarrest stand, erlaubte ihr die Mutter, ins Gouvernement Twer zu fahren, wo sich das Mädchen dann in einer Arztpraxis als Aushilfe betätigte.

      Die Nachricht über die Eröffnung von Kursen für Feldscherinnen, organisiert vom Landkrankenhaus in Simferopol, bewog die wissbegierige Sofja zur Rückkehr auf die Krim. Sie schrieb sich ein, und zusammen mit einigen Kolleginnen bezog sie eine Wohnung in der Stadt. »Sofja lebte äußerst zurückhaltend, widmete sich ausschließlich der Arbeit in der Klinik, weshalb sie den ungeteilten Respekt der Ärzte genoss und als deren Assistentin eingesetzt wurde, bevor sie überhaupt die Ausbildung absolvierte.

      Unter ihren Patientinnen befand sich auch eine alte, an Brustkrebs dahinsiechende Frau, die Sofja einige Monate täglich zu Hause besuchte und ihr die Verbände wechselte. Das Mädchen kümmerte sich so hingebungsvoll um die Bettlägerige, dass diese kaum erwarten konnte, ihre Pflegerin wiederzusehen. Allein Sofjas Lächeln, so die Kranke, lindere ihr die Schmerzen.«

      Es