Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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Darwin’sche Theorie zu erklären.

      Während die jungen Idealisten in den Hallen Propaganda betrieben, konnten sie feststellen, wie sehr der russische Arbeiter genauso wie der russische Bauer unter Not und Armut litt. »Die stets laufenden Maschinen verursachten einen solchen Lärm, dass man nicht einmal hören könnte, wenn einer schreien würde, von normaler Unterhaltung ganz zu schweigen«, schildert Sinegub die Atmosphäre in einer Baumwollspinnerei. »Die Luft war zum Schneiden: Hitze und Schwüle, vermischt mit dem Gestank von Schweiß und Schmierfett, erfüllten die Räume. Der überall schwebende feine Staub verdichtete sich beinahe zu einem Nebel. Unter solchen Bedingungen musste ein Mensch zehn Stunden vor den Maschinen ausharren, und zwar immer mit derselben Konzentration, um den Moment nicht zu verpassen, wenn einer der Fäden abreißt, weil man in diesem Falle sofort zu reagieren hätte. Die Arbeit war im Stehen zu verrichten, denn es gab keine Sitzmöglichkeiten, lediglich auf den Fensterbänken, aber wer tut so was? Nach zwei Stunden verließ ich die Halle, beinahe betäubt und mit unerträglichen Kopfschmerzen.«

      Die beschäftigten Frauen waren durch den harten Fabrikalltag gleichermaßen betroffen wie ihre männlichen Kollegen. Über die schwierigen Arbeitsbedingungen berichtet Praskowja Iwanowskaja, ein graziles Mädchen mit einem Zwicker, das stets schwarze Kleider mit weißen, abstehenden Rüschenkragen trug. Die Priestertochter und ehemalige Teilnehmerin der Alartschinski-Kurse gehörte ebenfalls der Gruppe der enttäuschten »Volkstümler« an und war eine Weile als einfache Kraft in einem Unternehmen zur Herstellung von Eisenseilen tätig. »Manchmal schickte man uns in die zweite Etage, die Seile mit Seife und Kunstharz zu schmieren. Da gab es keine Trödelei, schon die kleinste Unachtsamkeit konnte tragisch enden: Ich war selbst dabei, als eine junge Frau im Nu drei Finger verlor. In der Mittagspause setzten wir uns auf die schmutzigen Seilrollen, aßen und tranken Tee, um hinterher einfach darauf einzuschlafen. … Die Luft war mit Harzgeruch gesättigt. Der zog schnell in die Kleidung ein, sodass jede neue Arbeiterin schon innerhalb von zwei, höchstens drei Tagen danach roch. Nach einer Woche war er nicht mehr herauszukriegen. … Unser Tagesverdienst betrug fünfundzwanzig Kopeken, während die Männer dreißig oder sogar vierzig bekamen. …

      Aber diese Frauen waren auf den Hungerlohn angewiesen, die äußerste Not hatte sie hierher getrieben. Die meisten von ihnen erzählten mir, ohne diese Arbeit würden sie auf der Straße landen. Es war ihre einzige Chance, sich den täglichen Misshandlungen der Ehemänner zu entziehen. … Mit ein paar Ausnahmen waren sie alle Analphabeten. … Wie konnte ich nun unter solchen Frauen, durch alles und jeden schon genug gepeinigt, irgendwelche Propaganda führen? … Wenn ich länger geblieben wäre, hätte ich vielleicht doch etwas in Bewegung gesetzt, weil sich ein paar Mädchen bereit zeigten, lesen und schreiben zu lernen. … Aber ich fand die Arbeit äußerst schwer und hielt dort nicht lange aus.«

      Wenngleich der erwartete Erfolg auch bei der zweiten Aktion ausblieb, ließen sich die »Tschaikowzen«, die mittlerweile schon gewisse Agitationserfahrungen aufweisen konnten, nicht so leicht entmutigen. Sie starteten im Herbst 1873 den Umzug ihrer Druckerei aus der Schweiz nach Petersburg. Ein Vorhaben dieses Umfangs verlangte natürlich eine im Vorfeld gründlich durchdachte und später bis in das letzte Detail organisierte Durchführung, zumal der Transport mittels illegaler Kanäle erfolgen sollte. Zu diesem Zweck rief man eine Kommission ins Leben, und Sofja als ihrem Mitglied fiel eine der Spitzenrollen zu, was nicht überrascht. Sie erledigte alle ihr anvertrauten Aufgaben gewissenhaft und sorgfältig; Oberflächlichkeit, Arbeit auf die Schnelle waren ihr vollkommen fremd. Sogar dann, wenn es sich um eine ganz belanglose Sache handelte, engagierte sie sich maximal. Nach der einwandfrei verlaufenen Einfuhr wurde das Inventar vorübergehend in der orthopädischen Praxis von Dr. Orest Wejmer am Newski-Prospekt gelagert. Obwohl der Arzt nicht offiziell zu den »Tschaikowzen« gehörte, fand die Gruppe in ihm einen großen Sympathisanten und Helfer.

      Schon an dieser Stelle stellt sich zwangsläufig die Geldfrage. Der Umzug der Druckerei, Mieten für die konspirativen Wohnungen, Reisekosten, Lebensunterhalt, Druck, Kauf und Versand von Publikationen, Honorare für die Schmugglerbanden, Finanzierung des »Passbüros« – im Jargon der »Tschaikowzen« die Anfertigung von gefälschten Reisedokumenten –, alles zusammengerechnet kostete natürlich Unsummen. Wie kamen etwa zwei Dutzend junge Menschen, deren Altersspanne zwischen sechzehn und dreißig Jahren lag, zu einem so großen Vermögen? Die meisten von ihnen, wie etwa Sofja, hatten alle Beziehungen zu ihren Eltern abgebrochen und bekamen daher keinerlei materielle Unterstützung. Diejenigen dagegen, die eine gewisse Summe regelmäßig erhielten, verfügten im Schnitt über etwa siebzig Rubel monatlich.

      Die Einnahmequelle der »Tschaikowzen« hieß Dmitri Lisogub. Dieser schlanke Jüngling mit ovalem Gesicht und einer Knollennase erbte als einziger Hinterbliebener nach dem Tod der Eltern ein riesiges Kapital, bestehend aus Immobilien, Grundstücken und Wäldern. Sein ganzes Geld spendete der Student der Kommune, also der Revolution, und lebte selbst bescheidener als jeder Bauer. »Er trug immer ärmliche Kleider. Obwohl draußen der harte russische Winter herrschte, hatte er nur eine Jacke aus Segeltuch mit großen Holzknöpfen an, die infolge häufigen Waschens eher einem Lumpen ähnelte.« Der genaue Zeitpunkt des Eintritts Lisogubs in den Zirkel konnte nicht ermittelt werden. Vieles spricht dafür, dass er etwa 1870/71, also mit zwanzig oder eventuell einundzwanzig, in den »Tschaikowzen«-Zirkel eingetreten war. Wie auch immer, die Kommune verfügte über nicht mehr und nicht weniger als etwa 500000 Rubel. Um eine Vorstellung über den Wert zu bekommen, denke man an den Monatslohn eines Fabrikarbeiters, der zwischen sechzig und neunzig Rubel betrug. Lisogubs Fall liefert noch ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Jugend von Tschernyschewskis Roman Tschto delat? (Was tun?) und seinem Helden Rachmetow in den Bann gezogen wurde.

      Natürlich verfolgte die Polizei schon von Anfang an die Aktivitäten der Agitatoren, aber sie fand keinen konkreten Anlass zum Einschreiten. Doch im Jahr von Sofjas Rückkehr nach Petersburg bekam sie einen Hinweis bezüglich einer Schusterwerkstatt in Gouvernement Saratow, eigentlich das »Tschaikowzen«-Lager für das Propagandamaterial. Bei der Durchsuchung wurden neben Büchern, Broschüren, Adressenlisten auch gefälschte Pässe sowie zahlreiche kompromittierende Briefe beschlagnahmt. Dieser Fund zog dann weitere Kreise, und bald entfesselte sich eine massenhafte sowohl Razzia- als auch Festnahmeaktion, welche die Geschichte Russlands bis dahin nicht kannte. »Die Gendarmen stürzten sich auf Schuldige und Unschuldige; alle Kerker im Lande waren alsbald überfüllt.«

      Im Zuge dieser Verhaftungswelle platzten die Gendarmen in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1874 in die Wohnung von Alexandra Kornilowa. Bei ihr wohnte seit einer Weile auch Sofja, da ihr »Ehemann« Dmitri Rogatschew wieder »ins Volk« gegangen war. Obwohl bei den Mädchen außer einigen Heften, in denen die finanziellen Ausgaben des Zirkels aufgeführt waren, sowie ein paar verbotenen Gedichten kein belastendes Material gefunden wurde, nahm die Polizei beide in Gewahrsam und brachte sie in Untersuchungshaft, in denselben Häuserblock mit der berüchtigten Dritten Abteilung.

Bildtextbeschreibung

      Hauptsitz der Dritten Abteilung der Kanzlei Seiner Majestät, der berüchtigten Geheimpolizei

      Auch die weiteren Ermittlungen gegen Sofja ergaben keine schwerwiegenden Verdachtsmomente. Anhand der Aussage eines Studenten beschuldigte man die junge Frau lediglich der Bekanntschaft mit Mark Natanson, Sergej Sinegub, Dmitri Rogatschew, Leonid Schischko sowie einigen weiteren Propagandisten beziehungsweise warf ihr das Lesen von Lawrows verbotener Zeitschrift Wpered (Vorwärts) vor. Obgleich es keine ausreichenden, ihren Arrest rechtfertigenden Indizien waren, ließ man sie nicht frei. Sofja und ihre Freundin stellten aber keinen Einzelfall dar. Niemand von den arretierten »Tschaikowzen« wurde entlassen. Nach wie vor saßen sie alle im Gefängnis, ohne die leiseste Ahnung über ihr künftiges Schicksal.

      Bei ihrer Festnahme hatte Sofja nur ein schadhaftes Kleid und schmutzige Stiefel an. Da der Aufenthalt der beiden Mädchen im »Haus an der Kettenbrücke« – wie die Petersburger die Dritte Abteilung nannten – schon mehrere Wochen dauerte und nichts darauf hindeutete, dass sich in absehbarer Zukunft etwas daran ändern würde, schickte ihnen Nadeschda Kornilowa, Alexandras ältere Schwester, Wäsche und Kleider zum Umziehen. Das Paket samt Büchern leitete Sofjas Bruder Wassili an die inhaftierten jungen Frauen weiter. Er selbst kam diesmal ungeschoren davon: