Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

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des § 296 nicht mehr aufrechtzuerhalten.«237

      Kahl spielte im Abstimmungsverhältnis des Rechtsausschusses zum Homosexuellenparagrafen das Zünglein an der Waage, indem er sich gegen die Auffassung seiner Fraktionskollegen der Deutschen Volkspartei entschied und für die Streichung votierte. Ein erheblicher Teil der emanzipationspolitischen Bemühungen von Seiten des WhK und BfM hatte sich in den Jahren zuvor auf die Schlüsselfigur Wilhelm Kahl konzentriert und dessen Einstellung zum Strafrechtsparagrafen.238 Kahl erläuterte im Strafrechtsausschuss seine Position:

      »Die Aufhebung des § 296 bedeute […] nicht Anerkennung einer Gleichberechtigung, sondern die traurige Feststellung der Tatsache, daß das Mittel des Strafrechts versage, und das Begleiterscheinungen dabei einträten, wie Erpressung und Propaganda, die es äußerst bedenklich machten, diese Bestimmung aufrechtzuerhalten.«239

      Seine Argumentation zielte dabei in keiner Weise auf eine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Handlungen, die er weiter als unsittlich erachtete. Vielmehr war es für ihn das Strafrecht selbst, das gegenüber dem Tatbestand des § 296 versage, und das es zu reformieren gelte.

      Während diese Abstimmung einerseits die Empfehlung der Aufhebung der Pönalisierung der sogenannten einfachen Homosexualität (unter erwachsenen Männern über 21 Jahren) bedeutete, wurde in der 86. Sitzung des Rechtsausschusses vom 17. Oktober 1929 entgegen der vorliegenden Streichungsanträge für die Empfehlung der Aufrechterhaltung des neuen Straftatbestandes § 297 (»Schwere Unzucht zwischen Männern«) gestimmt, der Strafvorschriften für sogenannte qualifizierte Homosexualität vorsah und der beabsichtige erstmals auch nicht beischlafähnliche Handlungen unter Strafe zu stellen.240 Das WhK sah sich in seinen Mitteilungen aus diesem Grunde veranlasst, seine Mitglieder über die neue Situation aufzuklären und die verfrühte Euphorie in den Freundschaftskreisen zu bremsen, indem es erläuterte:

      »Die Beschlüsse des Strafrechtsausschusses hinsichtlich der Homosexualität bedeuten mithin einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück.«241

      In dem Bemühen um eine Vereinheitlichung zwischen dem Deutschen und Österreichischen Strafgesetzbuch fanden zudem übergreifende parlamentarische Strafrechtskonferenzen zum E 1927 statt.242 Im Zuge der Abstimmung des »Interparlamentarischen Ausschuß für die Rechtsangleichung des Strafrechts zwischen Deutschland und Österreich« im März 1930 erlitt die Emanzipationsbewegung einen weiteren schwerwiegenden Rückschlag, denn der Ausschuss stimmte mit 23 zu 21 Stimmen dafür, den § 296 wieder in das Reformpaket aufzunehmen und damit beide Paragrafen beizubehalten.243 D. h. neben dem § 296, der dem alten § 175 entsprach, sollten nun auch »jene schweren Verschärfungen des § 297 bestehen bleiben […], die weit über das hinausgehen, was das geltende Recht bestimmt.«244 Das WhK urteilte: »Ein voller Triumpf einstweilen der klerikalen Reaktion.«245

      Möglicherweise besuchte der unermüdliche WhK-Aktivist Hirschfeld während seiner Aufenthalte als medizinischer Gutachter am Stuttgarter Amtsgericht in den 1920er Jahren auch den Verlag Julius Püttmann, bzw. dessen Inhaber Paul Neubert (*09.07.1891 in Leipzig-Gohlis). Im Stuttgarter Püttmann-Verlag gab der Sexualwissenschaftler den letzten Jahrgang des von 1899 bis 1923, zuvor bei Max Spohr in Leipzig verlegten »Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen«246 heraus. Hier erschien 1926 auch der erste Band seiner zwischen 1926 und 1930 dort publizierten fünfbändigen Monumentalstudie »Geschlechtskunde«.247

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      Abb. 16: Paul Neubert vom Püttmann-Verlag. Passfoto (Mitte der 20er Jahre).

      Die 1869 von dem Verlagsbuch- und Kunsthändler Julius Püttmann gegründete,248 seit 1912 von dem Inhaber Paul Neubert geführte Verlagsbuchhandlung Julius Püttmann (Abbildung 16),249 die sich Anfang der 1920er Jahre in der Stuttgarter Liststraße 33 und Ende der 20er und zu Beginn der 1930er Jahre in der Eberhardstraße befand,250 brachte wissenschaftliche Literatur heraus und verlegte auch eine Anzahl jüdischer Autoren. Das Portfolio zeichnete sich außerdem durch einen sexualwissenschaftlichen Schwerpunkt aus.251

      Hirschfelds »Geschlechtskunde« offerierte der Verlag Julius Püttmann als günstigere leinengebundene oder hochwertige halbledergebundene Variante. Das fünfbändige Werk ließ Paul Neubert in einer Auflage von 8.000 Exemplaren in der Stuttgarter Druckerei »Stähle & Friedel« drucken.252 Anlässlich des AE 1925 publizierte der Püttmann-Verlag »§ 267 des Amtlichen Entwurfs des Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs. ›Unzucht unter Männern‹. Eine Denkschrift gerichtet an das Reichsjustizministerium.«253

      Der Püttmann Verlag setzte in seinem Portfolio neben der explizit sexualwissenschaftlichen Fachliteratur auch auf exquisite, ausgesprochen seriös und wissenschaftlich aufgemachte Publikationen mit zahlreichen erotischen Repräsentationen.254 Zu diesen zählt beispielsweise Gaston Vorbergs »Über das Geschlechtsleben im Altertum« (1925), mit hochwertigen Lichtdrucktafeln und vom selben Autor »Ars erotica veterum: Ein Beitrag zum Geschlechtsleben des Altertums« (1926). Der Verlag bewarb erstere Publikation und nahm dabei recht unverblümt auf die spätestens ab 1926 sich nochmal verstärkende »Schund- und Schmutz-Debatte« Bezug. Das Buch, so die entsprechende Werbeanzeige »[…] zeigt die hervorragende Rolle, die das Sinnliche auf sittlichem und künstlerischem Gebiete spielt. Die ›kraftstrotzende‹, Sinnlichkeit des Altertums widerspricht allerdings den heutigen Anschauungen von ›Zucht und Sitte‹, Aufgabe der Wissenschaft ist es nicht, zu richten oder Sittengesetze aufzustellen.«255

      Vorbergs Publikation von 1926, eine hochwertige Loseblattsammlung aus Büttenpapier mit passepartoutumrahmten Farbdrucken in limitierter Auflage verweist in ihrer Machart auf den Sammlerwert, den derartige Publikationen hatten. Die Aufmachung, aber auch der Kontext künstlerischer Repräsentationen der griechisch-römischen Antike, wertet die Szenen, darunter einige Repräsentationen mann-männlicher sexueller Interaktionen im Kontext griechischer Vasenmalerei sichtbar auf. Die Art der Inszenierung oder des Arrangements etwa von einander zugeneigten fotografierten Miniaturen mit erigiertem Phallus homoerotisiert diese.256

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      Abb. 17: Die Antike als imaginärer sexueller Möglichkeitsraum. Innenbild einer altgriechischen rotfigurigen Schale (o. D.).

      Erkennbar wird hier die »Antike« zu einem imaginierten homoerotischen Möglichkeitsraum einer kaufkräftigen und gebildeten Leser_innenschaft über den deutschen Südwesten hinaus. Beispielsweise gibt der in der Drucksammlung abgebildete Boden einer rotfigurigen Schale (Tafel XIX) eine mit einer Art herunterfallender Toga und Kopfbekränzung bekleidete männliche Figur zu sehen, die unter freiem Himmel in einem angedeuteten Landschaftsraum masturbiert (Abbildung 17). Die terrakotta-farbene Figur, deren Blick sich in den Himmel richtet, ist gerahmt von griechischen Buchstaben, die um sie herum den Satz »Ich begrüße (dich)« formen. Diese Begrüßung wirkt im Zusammenspiel mit der Repräsentation fast amüsant. Wer begrüßt hier wen? Auch der Betrachtende wird unmittelbar adressiert. Die Repräsentation, die den Boden eines runden Gefäßes bildet, erscheint durch die dunkle Lasierung des Inneren des Gefäßes dunkel gerahmt. Sie ist in Vorbergs Publikation so in Szene gesetzt, dass sie wie ein Guckfenster in eine andere, »freiere« Welt erscheint, in der sexuelle Sehnsüchte zur Entfaltung kommen und in der der homosexuelle Betrachtende mit seinem Begehren freudig begrüßt wird.257 Im Einleitungsteil der Loseblattsammlung heißt es entsprechend:

      »Die bildende Kunst des Altertums steht ganz im Banne der Sinnlichkeit. Diese Sinnlichkeit ist unbefangen, frisch und ungezwungen, frei von beengenden sittlichen Fesseln, frei von der Vorstellung der ›Sünde‹. […] Was der Mucker von heute als ›widerwertig obszön‹ ansieht, war es damals nicht. Selbst über widernatürliche Darstellungen erhob sich kein Geschrei. Unbehindert malte Brygos seine kecken Vasenbilder.«258

      Auch Paul Englischs »Geschichte der erotischen Literatur« (1927) bewarb der Verlag unter Bezugnahme auf die Schund- und Schmutz-Debatte. In der Härte der Formulierung wird hier bereits eine zunehmend schärfer geführte Debatte erkennbar: