Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

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Dr. Paul Englischs Geschichte der erotischen Literatur als Aufklärungswerk zeitgemäß, eine wahrhaft rühmliche Tat zum Schutze gegen die staatlich unternommene Ächtung der Literatur und die versuchte geistige Volksverseuchung.«259

      Während der Verlag Julius Püttmann im Jahr 1928 bereits Hirschfelds zweiten Band der Geschlechtskunde herausbrachte, wurde zur gleichen Zeit der aus einer liberalen jüdischen Familie stammende Jurist Fritz Bauer (1903–1968), der für die bundesrepublikanische und internationale juristische »Aufarbeitung« des Holocaust, wie – was weniger bekannt ist – der Überarbeitung des bundesrepublikanischen Sexualstrafrechts260 später so wichtig werdende gebürtige Stuttgarter, am Stuttgarter Amtsgericht Gerichtsassessor.261 Zeitgleich eröffnete eine junge emanzipierte Ärztin, Else Kienle (1900–1970), die bisher in der Abteilung für Geschlechtskrankheiten am Stuttgarter Katharinenhospital in der Polizeistation der (geschlossenen) Abteilung für Geschlechtskrankheiten arbeitete, in der Marienstraße eine eigene Praxis.262 Die sich in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren für die Selbstbestimmung der Frau und gegen den § 218 RStGB maßgeblich engagierende Frauenrechtlerin und Sexualreformerin, die in ihrer Praxis auch ambulante Schwangerschaftsabbrüche263 durchführte und ihr Weggefährte, der sich lebensreformerisch ebenso wie politisch kommunistisch engagierende Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf (1888–1953), der später auch mit Hirschfeld im Kontakt stand, betrieben Ende der 1920er Jahre in der Neckarstraße eine der wenigen Sexualberatungsstellen des »Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene« im süddeutschen Raum.264

      Bekannt ist, dass in der von Kienle und Wolf betriebenen Stuttgarter Beratungsstelle nicht nur Beratungen in Bezug auf geplante Schwangerschaftsabbrüche und sexuell übertragbare Krankheiten durchgeführt wurden, sondern beispielsweise auch heute möglicherweise als transident bezeichnete Personen Beratung suchten.265

      Auch in der badischen Planstadt Mannheim, deren städtebauliche Ordnung in »Quadraten« durch den holländischen Festungsarchitekten Bartel Janson begründet wurde und bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht, existierte seit 1924 eine »Ehe und Sexualberatungsstelle« des »Bundes für Mutterschutz und Sexualreform«.266 Die im alten Krankenhaus im Quadrat R5 jeden Freitagnachmittag für eine Stunde geöffnete Beratungsstelle musste bereits kurze Zeit nach ihrer Eröffnung anerkennen, dass der Kreis der Ratsuchenden deutlich größer wurde, und damit ein vielfältigerer Beratungsbedarf entstand, weshalb das Beratungsangebot der Sexualberatungsstelle auch im Hinblick auf mann-männliches homosexuelles wie lesbisches Begehren erweitert wurde. Zu den üblichen Beratungsgebieten trat vor allem die Beratung bei – im Sprachduktus der Zeit – als »geschlechtliche Perversionen« bezeichneten Beratungsbedarf hinzu«.267 Hierunter verstand die Sexualberatungsstelle auch Homosexualität:

      »Im heranreifenden Alter zeigen sich oft die ersten Anzeichen geschlechtlicher Perversionen, über die ebenfalls den Eltern, zum Teil auch den Jugendlichen selbst, Aufklärung erteilt werden muß. Im erwachsenen Alter sind die Anforderungen des Sexuallebens sehr mannigfaltig […] Durch das Sexualleben kommt es bei der heutigen Lage des Zivil- und Strafrechts nicht selten zu rechtlichen Verwicklungen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Fragen der Ehescheidung. Ferner sind die geschlechtlichen Perversionen, insbesondere die der Homosexualität des Mannes und des Weibs, häufig Ursache zu [sic] Konflikten, die nur durch eine sachverständige Beratung gelöst werden können. […] Der Aufgabenkreis der Sexualberatungsstelle […] ist demnach ein recht umfangreicher.«268

      2.1.2 Emanzipationsgruppen zwischen bangem Treiben und lustvoller regionaler Vernetzung

      Erste Emanzipationsgruppen mit größeren Mitgliederzahlen gleichgeschlechtlich orientierter Menschen konstituierten sich Anfang bzw. Mitte der 1920er Jahre nicht nur im fernen Berlin,269 im hafenstädtisch geprägten, weltoffenen Hamburg270 oder in Köln,271 sondern auch in den urbanen Zentren der Region des heutigen Baden-Württemberg.272 Dennoch ist davon auszugehen, dass die Situation in der südwestdeutschen Provinz und ihren städtischen Zentren für homosexuelle Männer, oder wie sie sich selbst oft bezeichneten: für »Freunde«, weitaus eingeschränkter war. Ein Leser der Zeitschrift »Die Freundschaft« etwa beklagte sich 1920 über die Zurückhaltung der Freund_innen und Freunde Stuttgarts die Gründung von »Freundschaftsklubs« betreffend:

      »Es ist eigentlich zu verwundern, daß Stuttgart mit seinen 300.000 Einwohnern hinter weit kleineren Städten in dieser Beziehung noch bedeutend zurücksteht. Überall werden Klubs der ›Freunde und Freundinnen‹ gegründet, ein ständiger Zusammenkunftsort in einem Lokal gewählt usw., und nur wir Stuttgarter, die wir doch ganz sicher in großer Anzahl vertreten sind, müssen immer noch mit furchtsamen und scheuen Blicken durch die Straßen und Kaffees der Stadt ziehen, um einen Gesinnungsgenossen und Freund zu finden.«273

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      Abb. 18: Gründung eines Freundschaftsbundes in Stuttgart im Januar 1920. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 5, 1920.

      Zugleich gibt diese Quelle eindrücklich Auskunft über die schwierigen Kontaktaufnahmemöglichkeiten Männer begehrender Männer vor der Gründung einschlägiger Treffpunkte im deutschen Südwesten.274 Einen Monat nach der Publikation dieses Leserbriefbeitrags gründete sich im Februar 1920 wie in anderen deutschen Städten etwa Berlin, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hannover und Hamburg der »Freundschaftsbund Stuttgart« (Abbildung 18). Die offenbar kleine Gruppe warb in der Zeitschrift »Die Freundschaft« immer wieder um Mitgliederzuwachs.275 In einer ihrer ersten Anzeigen verdeutlicht die Gruppe ihr Profil. Dort heißt es:

      »[…] Endlich haben sich auch hier anständige Freunde zu einem Klub, unter dem Namen ›Schwalbenheim‹ zusammengeschlossen. Der erste Abend verlief in voller Harmonie! Die ›Freundschaft‹ wurde als Kluborgan erklärt. Bei uns soll das wirkliche Ideal der Freundschaft gepflegt werden, Gemütlichkeit, Kunst und Frohsinn sollen in unserem Klub eine Stätte finden.«276

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      Abb. 19: Anschluss der Stuttgarter Gruppe an den Dachverband. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 42, 1920.

      Im August desselben Jahres schließt sich die Gruppe wie andere Freundschaftsgruppen dem sich auf Initiative des WhK zu einem republikweiten Dachverband organisierenden »Deutschen Freundschaftsverband« (DFV) an (Abbildung 19).277 Damit wird der Stuttgarter Freundschaftsbund zu einer Ortsgruppe des Dachverbandes. Mit der Gründung des »Bundes für Menschenrecht« im Jahr 1923 benannte sich der »Deutsche Freundschaftsverband« in den »Bund für Menschenrecht« (BfM) um. Der Berliner Unternehmer und Homosexuellen-Aktivist Friedrich Radszuweit wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt.278 So entstand in Stuttgart, vermutlich teilweise in Personalunion mit dem vormals bestehenden Freundschaftsbund eine Ortsgruppe des in den kommenden Jahren zur weitaus mitgliederstärksten Homosexuellenorganisation der Weimarer Republik avancierenden »Bundes für Menschenrecht«.279 Dennoch ist diese Ortsgruppe Stuttgart im Verzeichnis der Ortsgruppen der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Blätter für Menschenrecht« (1. Jg., Nr. 1, 15. Februar 1923) nicht gelistet. In dieser Ausgabe findet sich für den südwestdeutschen Raum allerdings ein Hinweis auf eine Ortsgruppe des BfM in Karlsruhe.280 In den Blättern für Menschenrecht wird im März 1924 zudem (Ausgabe vom 07.03.1924, 2. Jg., Nr. 4) eine Gründung einer Ortsgruppe Mannheim – Ludwigshafen – Heidelberg in Aussicht gestellt, die sich ab März 1924 regelmäßig in Mannheim in den Räumlichkeiten von August Fleischmann trifft.281 Ebenfalls hier wird die Gründung einer Damengruppe (Karlsruhe, Baden) konstatiert (Abbildung 20).282

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      Abb. 20: Gründung des Freundschaftsbundes Karlsruhe (Dezember 1920). Quelle: Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 51, 1920.

      In den »Blättern für Menschenrecht« sind nur knappe Berichte der regionalen und lokalen Aktivitäten des Bundes für Menschenrecht sowie von Einzelpersonen erhalten. Auch wenn in diesen vorsichtigen