Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

Читать онлайн.



Скачать книгу

des Deutschen Reiches für die Zensur zuständig waren, beendet.138 Dennoch wurden zahlreiche Filme, die zwischen November 1918 und Mai 1920 (Lichtspielgesetz vom 12.05.1920) in anderen deutschen Gliedstaaten gezeigt werden konnten, von der Filmprüfstelle der Landespolizeizentrale in Stuttgart abgefangen und teilweise auch zensiert.139

      Tatsächlich war das, was in der sogenannten zensurfreien Zeit zwischen November 1918 und Mai 1920 öffentlich gezeigt oder nicht gezeigt werden durfte, gesellschaftlich auch in Baden umkämpft: Bereits im Juli 1919 gab es »[…] in Karlsruhe im Badischen Landtag eine stürmische Debatte, die dazu führte, daß der Film [Anders als die Andern, Anmerk. d. Verf.] nur für Erwachsene freigegeben wurde.«140 In der 42. Sitzung des Badischen Landtags vom 31. Juli 1919 stellte der Vorsitzende der Badischen Zentrumspartei und römisch-katholischer Priester, Josef Schofer (1866–1930), eine parlamentarische Anfrage das Lichtspielwesen betreffend.141 Die Zentrums-Abgeordnete Klara Siebert (1873–1963) betonte in ihrer Begründung der Interpellation den schädlichen Einfluss des Kinos auf die Volksmoral und stellte die Kommunalisierung des Kinos zur Debatte, um hierdurch der »Volksausbeutung und Volksverführung vorzubeugen«.142 Adam Remmele (1877–1951), sozialdemokratischer Innenminister und späterer Staatspräsident von Baden,143 beantwortete die parlamentarische Anfrage. Remmele konstatierte, »[d]ie Zensur könne nicht mehr durchgeführt werden, weil sie von den Volksbeauftragten aufgehoben worden sei.«144 Die Abgeordneten Schofer u. a.145 stellen daraufhin folgenden Antrag, über den nach mehreren Redebeiträgen verschiedener Minister und Abgeordneter abgestimmt und der einstimmig angenommen wurde:

      »Der Landtag beschließt, daß die badische Regierung sofort bei der Reichsregierung vorstellig wird, damit die Filmfabrikation verstaatlicht und das Kino kommunalisiert werde. Die Regierung wird dringend ersucht, sofort die Kinozensur wieder einzuführen und sie aufrecht zu erhalten, bis die Sozialisierung des Kinos durchgeführt ist.«146

      In der vorherigen parlamentarischen »Aussprache«,147 in der das Kino als »[…] Schule der Unmoral und des Verbrechens […]« skizziert wurde,148 standen unter anderem die Aufführung sogenannter Schund- und Schmutz bzw. Aufklärungsfilme zur Debatte, also Filme jenes vielfältige Blüten treibenden Stummfilmgenres, das die Grenzen des Zeigbaren in der sogenannten zensurfreien Zeit verschob und mit der Lust am »Niegesehenen« die Besucher_innenzahlen der Lichtspielhäuser ansteigen ließ.149 Direkt Bezug genommen wurde auf die Filme »Prostitution« (1919, R: Richard Oswald), dessen Aufführung in Freiburg im Juli 1919 zu einem regelrechten Skandal geführt hatte,150 sowie auf die Filme »Opium« (1919, R: Robert Reinert) und »Paradies der Dirnen« (1919, R: Friedrich Zelnik). Auch Oswalds »Anders als die Andern« wurde in die Debatte eingebracht. Neben der Problematisierung von Gewalt- und Mord im zeitgenössischen Lichtspiel und dem möglichen »[…] Schaden für die geistige und sittliche Gesundheit unseres Volkes und insbesondere der Jugend […]«151 hob der Abgeordnete Friedrich Holdermann (DDP) die besondere Bedenklichkeit des »sogenannten Aufklärungsfilms« hervor, um im Badischen Landtag sogleich auf den Film »Anders als die Andern« zu sprechen zu kommen. Holdermann empörte sich: »In Frankfurt arbeitet ein Kino für die Abschaffung des Paragraph 175 des Strafgesetzbuches mit Musikbegleitung […],«152 woraufhin sich unter den badischen Landtagsabgeordneten, wohl aufgrund der homophob-ironischen Betonung eines Protestes mit Musikbegleitung, vielleicht auch aufgrund des in Landtagsdebatten unüblichen Verhandlungsgegenstandes des »Homosexuellenfilms« allgemeine Heiterkeit einstellte.153 Holdermann fasste unter Bezugnahme auf die »Frankfurter Zeitung« den Inhalt des Films konzis zusammen, um dies als Anlass zu nehmen, vor dem Landtag gegen die Errichtung weiterer Lichtspielhäuser zu wettern.154

      Diese Debatte im Badischen Landtag wurde republikweit wahrgenommen. Die Lichtbild-Bühne berichtete mit Bezug auf den »Vorwärts«:

      »In Karlsruhe und Freiburg ist der Aufklärungsfilm ›Die Prostitution‹ von der Staatsanwaltschaft auf zahlreiche Anträge hin beschlagnahmt worden; einzelne Stellen wurden aus dem Film herausgeschnitten. Gegen den Hersteller des Bildes, Richard Ornstein, genannt Oswald, ist auf Grund des §184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) Strafantrag gestellt worden. In der Badischen Landesversammlung erhob sich über den genannten und den Film ›Anders als die Andern‹ eine lebhafte Debatte. Es wurde beschlossen, daß Personen unter 20 Jahren der Zutritt zu diesen Aufklärungsfilms [sic] verboten werde. In Karlsruhe hat man den Kinobesitzern, die sich gegen diese Bestimmung vergehen, die sofortige Schließung der Lichtbildtheater angedroht. Weiterhin ist im Badischen Landtag der Antrag gestellt worden, die Kinos zu kommunalisieren und die Filmindustrie zu sozialisieren, um in Zukunft derartige Bilder unmöglich zu machen.‹«155

      Auch der sich für das Lichtspielwesen eingehend interessierende Zeitgenosse und erste Ordinarius für Kunstgeschichte an der äußerst konservativen Universität Tübingen, Konrad Lange (1855–1921), verweist in seiner Publikation »Das Kino in Gegenwart und Zukunft« (1920) darauf, dass Richard Oswalds Filme »Die Prostitution« und »Anders als die Andern« »[…] in der badischen Landesversammlung eine lebhafte Aussprache [veranlaßten].«156

      Lange vermischt in seiner Studie rassistische, antisemitische Äußerungen mit einer Ablehnung von sexualaufklärerischen Bemühungen. In seiner Publikation, die er in dem später traditionsreichen Stuttgarter Verlag Ferdinand Enke veröffentlichte, polemisiert der Professor:

      »Ganz neuerdings sind es die perversen Erscheinungen des Sexuallebens, die sich als Inhalt von Aufklärungsfilmen besonderer Beliebtheit erfreuen. Darüber muß ja unsere Jugend notwendig aufgeklärt werden! Schon damit sie später einmal für die Straflosigkeit dieser bei uns glücklicherweise strafbaren Vergehen eintreten kann. Das par nobile fratrum Oswald und Hirschfeld zeichnet den Film Anders als die Andern. Er schildert das Geschlechtsleben der Homosexuellen, das zu den genannten Vergehen führt. Ich habe ihn nicht gesehen, schließe nur aus verschiedenen Schilderungen, daß er sehr unanständig ist.«157

      Dem Tübinger Ordinarius war zu Ohren gekommen, dass bei einer Vorführung in Berlin »[…] eine Anzahl Soldaten – die doch sonst nicht gerade die prüdesten sind – mit Protest den Saal [verließ]. Ihr Exodus war begleitet von dem höhnischen Grinsen rassefremder Besucher, die ostensibel sitzen blieben, um diese Köstlichkeit bis zu Ende genießen zu können.«158

      Die Formulierung »rassefremder Besucher« zielt hier unmissverständlich und in antisemitischer Manier auf jüdische Lichtspielbesucher_innen.159 Erkennbar verschränken sich in Langes Kritik antisemitische Äußerungen mit überheblich postulierten homophoben