Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

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href="#ulink_6fc51cad-ce79-5589-82c8-b169a8ec41a0">177 dessen Kapitel oder Teile in der Zeitschrift »Die Freundschaft« noch im Januar und Februar 1933 einzeln zur Bestellung beworben wurden.178 Unmittelbar nach der Ernennung Adolf Hitlers (1889–1945) zum Reichskanzler wurde in dieser Anzeige auf eine Reihe badischer und württembergischer Großstädte verwiesen, für die es sich offenbar lohnte einen damals noch nicht so genannten Cityguide mit Hinweisen auf einschlägige Treffpunkte und anderes zum Versand anzubieten (Abbildung 7).179

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      Abb. 7: Bewerbung von Reiseführern bzw. Adressverzeichnissen auch aus Baden und Württemberg. Die Freundschaft. 15. Jg., Nr. 1, Jan. 1933.

      Insbesondere in den südwestdeutschen Mittel- und Großstädten Stuttgart, Mannheim,180 Ludwigshafen181 und Pforzheim,182 der durch die Schmuck- und Uhrenindustrie in den 1920er Jahren florierenden Stadt am Nordschwarzwald, bestanden der Anzeige zufolge derart lebendige Lebenswelten, dass diese gewissermaßen »genug zu bieten« hatten, um den Verkauf und Briefversand entsprechender »Reiseführer« vermittels einer Anzeige zu bewerben. Gleichzeitig zeugt diese Reklame davon, dass die entsprechenden Lebenswelten in diesen südwestdeutschen Städten untereinander und auch durchaus mit der Hauptstadt Berlin vernetzt waren.183

      Die Werbeanzeige verdeutlicht, was aus den »Reiseführern« über Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten zu erfahren war, etwa der damalige »Sitz« und die »Zusammenkünfte evtl. vorhandener Organisationen, homoerotische Verkehrslokale, preiswerte Hotels mit guter Verpflegung« sowie »verständnisvolle Ärzte und Rechtsanwälte«.184 Die »Reiseführer« gaben einen ersten Überblick über mögliche stadträumliche Koordinaten und möglicherweise verwiesen sie auch auf wichtige Akteur_innen und Anlaufstellen, die die Entstehung von Lebenswelten maßgeblich beförderten und zwischen denen sich Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten aufspannten und verräumlichten. Zugleich lässt die Anzeige mit dem Hinweis auf »preiswerte Hotels«, »verständnisvolle Ärzte und Rechtsanwälte« etwas aufscheinen von den Repressionsrealitäten im deutschen Südwesten, wie auch im Rest der jungen Republik.185 Erhalten scheint lediglich ein sehr frühes Exemplar des Reiseführers aus dem Jahr 1920/21, der für diese Studie ausgewertet wurde.186 Spätere Varianten gelten als nicht erhalten.187

      Die Bewerbung der Reiseführer zeugt aber auch davon, dass die historischen Akteure den Repressionsrealitäten etwas entgegenzusetzten vermochten und Lebenswelten in der Aushandlung mit Repressionsrealitäten und ihren Akteuren aktiv gestaltet wurden, etwa durch politische Organisierung und Vernetzung, durch juristische Beratung und die Verfügung über medizinische Expertise. Zudem wird in der Werbeanzeige die Kurzlebigkeit solcher Informationen betont. Die historischen Akteure wechselten im deutschen Südwesten ihre Treffpunkte und »Verkehrslokale« in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren regelmäßig. Auch konnten die für die lebensweltlichen Gefüge zentralen Persönlichkeiten beispielsweise durch polizeiliche Verfolgung plötzlich nicht mehr ansprechbar sein und wichtige Anlaufstellen von heute auf morgen zumindest zeitweise nicht mehr zur Verfügung stehen.188 Die Lebenswelten homosexueller Männer waren durch die geltende Gesetzeslage und durch bestehende Strafverfolgungspraxis verfolgungsbedingt dynamisiert, aber sie waren auch hochgradig prekarisiert durch eine heteronormative, im deutschen Südwesten trotz der liberalen Tradition weitgehend christlich geprägte Gesellschaftsordnung, im Badischen vorwiegend katholisch, im Württembergischen protestantisch bzw. pietistisch.189

      Die Publikationen der homosexuellen Emanzipationsbewegung der 1920er und beginnenden 1930er Jahre, wie etwa die von dem Berliner Verleger Karl Schultz190 herausgegebene Zeitschrift »Die Freundschaft« (08/1919–03/1933),191 die von Friedrich Radszuweit (1876–1932) publizierten »Blätter für Menschenrecht« (1923–1933),192 das von Magnus Hirschfeld herausgegebene »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« (1899–1923) u. a., sowie die im Kontext dieser Studie untersuchten Polizei- und Gerichtsakten lassen skizzenhafte Rückschlüsse auf und kaleidoskopische Einblicke in Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren zu, teilweise entfalten sich anhand der zusammengesetzten Quellensplitter ganze Lebensschicksale.193

      Die Jahre 1919 bis 1923 gelten sowohl in der Weimarer Republik als auch in den südlichen Nachbarstaaten Österreich und Schweiz als eine Aufbruchsphase der Organisation gleichgeschlechtlich begehrender Menschen.194

      Im deutschen Südwesten ist in dieser Zeit der Aufbruch der Emanzipationsbewegung zu spüren, die einen genuin links-bürgerlichen Charakter aufwies. Die großen Emanzipationsvereine, die sich in dieser Zeit im deutschen Südwesten nachweisen lassen, wie das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und der Bund für Menschenrecht, setzten in ihren Selbstbezeichnungen mit den Leitkategorien des »Humanitären« und der »Menschenrechte« den Akzent nicht etwa auf »Klassenrechte« und damit soziale Forderungen, sondern auf individuelle Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, die wissenschaftlich begründet wurden und im Fall des WhK durch einen Sachverständigenrat erstritten werden sollten.195

      Der emanzipative »Geist von Weimar« beflügelte homosexuelle Männer in den städtischen Zentren im deutschen Südwesten der 1920er Jahre, nicht zuletzt jene, die in der württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart lebten, die sich damals bevölkerungspolitisch, ökonomisch, aber auch kulturell rasant entwickelte.196 Bereits in den 1920er Jahren zeugte die Industriemetropole von einer beträchtlichen politischen und kulturellen Entwicklung,197 auch in Gestalt einer Anbindung an avantgardistische Ideen der Zeit und intellektuelle Zentren Europas. In den europäischen Metropolen Berlin und Paris wurde die Garçonne und der Bubikopf en vogue, ein Look, der in Kombination mit Trenchcoat und Herrenhose oder dem modernen Damenkostüm auch in intellektuellen Zirkeln im deutschen Südwesten zu sehen war.198

      Alexander von Gleichen-Rußwurm (1865–1947) schrieb im Karlsruher Tagblatt 1926:

      »Auch die Wirkung der jüngsten Revolution läßt sich gut an Hand der Mode studieren. Sie schreibt dem weiblichen Wesen Vermännlichung vor, nicht nur aus praktischen Gründen der Arbeit wegen, die beide Geschlechter gleichmäßig leisten müssen, noch mehr wegen der stetig zunehmenden Auflösung des Heims. Wahrscheinlich spielen sexuelle Motive mit, wenn nicht nur Mädchen, sondern auch Frauen durchaus wie Knaben aussehen wollen, und zu dieser Erscheinung kommt es, daß Knabenliebe und lesbische Liebe heute ebenso allgemein verbreitet sind, als zu anderen Zeiten Polygamie und Polyandrie sich in Sitten und Unsitten bemerkbar machten.«199