Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Abb. 8: Mann-männliche Homoerotik im zeitgenössischen modernen Tanz: Tanzgruppe Herion (Stuttgart 1920er Jahre).
Im Feld künstlerischer Repräsentationen werden zu dieser Zeit bestehende Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität auch hier zumindest vereinzelt irritiert und auch mann-männliche Homosexualität bzw. Homoerotik wird beispielsweise im Feld moderner Kunst oder des zeitgenössischen Tanzes auch im deutschen Südwesten etwa im Kontext der Karlsruher Avantgarde oder der Stuttgarter Tanzgruppe Herion zu sehen gegeben (Abbildung 8).200 Erinnert sei hier etwa an künstlerische Arbeiten von Rudolf Schlichter (1890–1955), dem Décadent und »Oskar Wilde von Karlsruhe« (Matthias von der Bank)201 sowie an Arbeiten von Georg Scholz (1890–1945).
So zeigt das Aquarell »Tingel-Tangel« (1919/1920) des Mitbegründers der Karlsruher Künstlergruppe »Rih« Rudolf Schlichter das Setting einer verruchten, Bar-, Varieté- oder Cabaretsituation mit Live-Musik, in der mehrere Figuren einer intimen Bühnenshow beiwohnen (Abbildung 9).202 Schlichters Tuschezeichnung läßt zentral eine androgyne, erotisch gekleidete Figur erkennen, die mit freiem Oberkörper performt. Ihr Körper ist tätowiert. Zwischen dem Ansatz einer weiblichen Brust wirkt er behaart. Im vorderen Bildraum, einem deutlich von diesem Setting der Bühnenshow abgegrenzten Bereich wird eine Figurengruppe ersichtlich, deren Mitglieder auch als homosexuelle Männer deutbar sind. Schlichter
Abb. 9: Queeres Setting in der Provinz? Rudolf Schlichter: Tingel-Tangel (1919/1920). Aquarell auf Papier, 53,0 × 45,5 cm.
zeigt im linken Bildraum eine Figur im Herrenanzug und mit Feodora. Vor dieser Figur, vielleicht sogar auf dem Schoß dieses Mannes, befindet sich an einem kleinen runden Tisch eine deutlich kleinere und jünger erscheinende, rauchende Figur im Uniformrock. Auf dem Tisch befindet sich etwas weggerückt, ein einziger, fast abstoßend erscheinender Sektkelch, in dem ein Stück Frucht schwimmt. Während die soldatische Figur tendenziell in Richtung Betrachter_in blickt, ist das Gesicht des Mannes dahinter auf eine Figurengruppe im rechten vorderen Bildraum ausgerichtet. Die Blickrichtung der Figuren im linken Bildraum richtet sich damit weniger auf die Performerin, als auf die anderen zwei männlichen Figuren im rechten Bildvordergrund. Eine der dort sitzenden Männerfiguren, ein korpulenterer Herr mit Seitenscheitel, blickt mit leicht geöffneten Lippen in einer Art distanziertem Interesse zurück. Der Andere, vielleicht sein Begleiter, ist ihm zugewandt. Die Szenerie mit der androgynen, transvestitisch wirkenden Performer_in, kann auch als queeres Setting gelesen werden, wobei Schlichter die in Orangetönen, in Blau und Schwarz gehaltene Szene in einer ambivalenten, dekadenten Stimmung zwischen Lust und Verfall ins Bild setzt. Schlichter zog 1919 nach Berlin. Gerade der Titel »Tingel-Tangel« verweist weniger auf das Varieté der Großstadt, sondern auf einen kleinstädtischen oder gar ländlichen Bezug. Der Begriff des Tingelns deutet auch auf eine Praktik des Umher- oder des Über-das-Land-Ziehens. In diesem Sinne ist Schlichters Arbeit vielleicht auch im Sinne eines von ihm zu sehen gegebenen queeren Settings in der Provinz zu deuten.203
Inwiefern innerhalb eines z. B. in Stuttgart und Karlsruhe durchaus erkennbaren künstlerisch-avantgardistischen, intellektuellen und sexualreformerisch liberalen Milieus Männer begehrende Männer ebenso wie Frauen begehrende Frauen bzw. lesbisch liebende Frauen Anerkennung fanden, mehr noch gerade dem künstlerischen Milieu vielleicht auch einen spezifischen Reiz mitverliehen, ist bisher nicht untersucht, jedoch für diesen Kontext stark anzunehmen.204
Abb. 10: Berlin als queerer Sehnsuchtsraum? (2) Rudolf Schlichter: Tanzendes Paar/Lesbierinnen (um 1926). Aquarell auf Papier, 54,0 × 39,5 cm.
Abb. 11: Hirschfeld als Sachverständiger vor dem Stuttgarter Amtsgericht (1923).
Der »langjährige Spezialist und Facharzt«,205 der sich unermüdlich für die Emanzipation und die Abschaffung des § 175 RStGB einsetzende Mitbegründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Magnus Hirschfeld, besuchte Anfang der 1920er Jahre die Stadt Stuttgart, um als sachverständiger Mediziner während eines Prozesses aufgrund von § 175 RStGB am Stuttgarter Amtsgericht als Gutachter zu fungieren (Siehe Abbildung 11).206 Zugewandte, sich mit der Emanzipationsbewegung assoziierende oder mit ihr verbunden fühlende medizinische Sachverständige und Ärzte berieten ratsuchende Männer nicht nur, sie konnten vermittels der von ihnen erstellten Gutachten etwa Gerichtsprozesse, bei denen Männer aufgrund von § 175 RStGB angeklagt waren, entscheidend beeinflussen und mögliche Verurteilungen mit der Folge von Geld- oder Gefängnisstrafen abwenden.207
Über derartige, auch über die Publikationsorgane in Berlin erschließbare Netzwerke konnte im südwestdeutschen Raum staatliche Repression durchaus abgefedert werden.208 Hingewiesen sei darauf, dass zusätzliche medizinische Gutachten und zugewandte Anwälte nicht für jeden verfügbar waren. Es bedurfte eines gewissen Knowhows und ausreichender ökonomischer Ressourcen, um diese für sich in Anspruch nehmen zu können. Der Sohn eines württembergischen Oberinspektors aus Stuttgart etwa konnte dies, während die ebenfalls mit ihm der »widernatürlichen Unzucht« überführten Männer aus der einfachen Arbeiterschicht über diese Ressourcen nicht verfügten.209
Abb. 12: Württembergischer Obmann des WhK: Friedrich »Fritz« Doederlein (1922).
Anzunehmen ist, dass Hirschfeld zu solchen Anlässen auch mit der sich in Stuttgart seit Beginn der 20er Jahre bestehenden Gruppe politisch aktiver gleichgeschlechtlich orientierter Männer und Frauen oder einzelnen Vertreter_innnen zusammenkam, die sich auf die politischen Ziele des WhK bezog(en).210 Wie schwierig es trotz bekannter Fürsprecher wie dem Berliner Medizinalrat für die Mitglieder der Gruppe war, öffentlich für die Ziele des WhK einzutreten, davon zeugt eine Anzeige dieser Gruppe in der Zeitschrift »Die Freundschaft«. Kündet die Anzeige einerseits selbstbewusst von der feierlichen Gründung »[…] unter zahlreicher Beteiligung von Personen aus den ersten Kreisen Stuttgarts […]«, so wird hier andererseits auch die Exklusivität der Gruppe hervorgehoben, indem betont wird, dass »,[…] die künstlerischen Darbietungen das Mittelmaß weit überstiegen […]«,211 wohinter sich eine auch heute noch geläufige Anerkennungsstrategie verbirgt.212 Dass gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Württemberg zu Beginn der 1920er Jahre hier wie in den meisten städtischen Zentren der jungen Republik in der überwiegenden Mehrheit nicht frei und offen gelebt werden konnten mehr noch, Anlass zu Furcht, Scheu