Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Abb. 13: Doederlein privat mit seinem Motorrad (o. D.).
Stuttgarter bzw. württembergischer Obmann des WhK215 in Berlin war zu dieser Zeit (1925) der homosexuelle Arzt Dr. med. Fritz, bzw. Friedrich Doederlein (1882–1959) (Abbildung 12 u. 13).216 Der Mitte der 1920er Jahre am Ludwigspital in Stuttgart als Oberarzt tätige Mediziner gab verschiedenen homosexuellen Männern vor allem schriftlich, aber auch telefonisch Auskunft ihre Belange betreffend (Abbildung 14).217 Als begeisterter Leser von Fachliteratur des WhK in Berlin wirkte er in seinem Zuständigkeitsbereich als informierter Multiplikator.218 Wie vorsichtig er dabei auch mit den persönlichen Daten seiner Klientel verfuhr, wird im Rahmen einer Vernehmung auf dem Polizeipräsidium Stuttgart im Februar 1925 deutlich. Doederlein, der bereits 1922 eine Wohnungsdurchsuchung aufgrund von Verdacht des Verstoßes gegen den § 175 RStGB über sich ergehen lassen musste, betonte bezüglich der Korrespondenzen, vermutlich auch um eine weitere Wohnungsdurchsuchung abzuwenden: »Diese Anfragen vernichte ich in den meisten Fällen, nachdem ich entsprechende Antwort gegeben habe.«219 Selbstbewusst konstatierte er gegenüber den Beamten:
»Dass ich selbst homosexuell veranlagt bin, bestreite ich nicht, bestreite dagegen entschieden, mich in dieser Richtung je einmal strafbar gemacht zu haben. Was ich in dieser Richtung im Ausland vornehme, ist dort nicht strafbar.«220
Damit gibt der Obmann des WhK in Württemberg auch Auskunft über eine mögliche Strategie, sich der Strafverfolgung gerade in grenznahen Regionen zu entziehen. Über die hiesige strafrechtliche Verfolgung wohlinformiert, verfügte er als praktizierender Arzt über die nötigen Mittel und entsprechenden Kontakte, um sein Begehren in Ländern ohne strafrechtliche Sanktionierungen mann-männlicher homosexueller Handlungen ausleben zu können und hatte als promovierter Mediziner das nötige Standing oder die Chuzpe, dies vor der Ermittlungsbehörde auch offen zuzugeben.221
Abb. 14: Schriftliche Beratung durch den Obmann des WHK in Stuttgart (1924).
Politische Rückendeckung erhielt die Stuttgarter Ortsgruppe und der mutige Obmann des WhK Friedrich Doederlein auch durch die republikweiten Emanzipationsbemühungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin, etwa durch die Gesetzesinitiative zur Abschaffung des § 175 RStGB. Noch heute befindet sich in den Akten des württembergischen Staatsministeriums zum Entwurf eines Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches eine »Eingabe« des WhK vom 5. August 1924 »gegen das Unrecht des § 175 R.St.G.B.«, mit der das WhK die nationalen Reformbemühungen auf einer regionalen Ebene stärken wollte (Abbildung 15).222 Die Emanzipationsbewegung setzte auf klassische Mittel bürgerlicher Aufklärung, d. h. sie bemühte eine rationale Argumentationsstrategie und berief sich dabei auf wissenschaftliche Befunde der Zeit, um einen politisch-gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. So wurde nicht nur großen Wert gelegt auf die Unterstützung der Kampagne durch wissenschaftliche Persönlichkeiten, sondern in den Magazinen der Emanzipationsbewegung kamen wiederholt auch Mediziner und Juristen zu Wort, um dort um Aufklärung und Anerkennung zu werben.223
Abb. 15: Eingabe des WhK gegen das Unrecht des § 175 (1924).
Im Jahr 1925 legte die konservative Reichsregierung einen amtlichen Entwurf zur Reform des Strafgesetzbuches vor (AmtlE 1925), in dem nicht etwa eine Aufhebung des § 175 RStGB vorgesehen war, sondern eine Verschärfung.224 Der AmtlE 1925 hielt »[…] an der Strafbarkeit auch der einfachen Homosexualität unter dem Hinweis auf die Gewährleistung der Reinheit, der Kraft und der Gesundheit des Volkslebens fest (§ 267 Abs. 1 AmtlE 1925).«225 Trotz dieses Rückschlags konzentrierte sich das WhK auch vermittels neuer Allianzen in einem »Kartell für Reform des Sexualstrafrechts« darauf, seine emanzipativen Bemühungen weiter umzusetzen.226 Neben den fundierten Strafrechtsreformbemühungen – die Reichstagsvorlage von 1927 trennte erstmals einfache und schwere Unzucht zwischen Männern (§§ 296, 297 E 1927),227 die wiederum in einen Gegenentwurf zum E 1927,228 den GE 1927,229 mündeten – zielte das WhK insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf die wissenschaftliche Aufklärung zur Gewinnung von Multiplikator_innen in Politik, Justiz und Wissenschaft.230 Ziel war es, anerkannte Persönlichkeiten als Mitstreiter_innen und Unterzeichner_innen für die WhK-Petitionen zur Abschaffung des § 175 RStGB zu gewinnen.231 Diese Bemühungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin wurden von zahlreichen Einzelpersonen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im deutschen Südwesten wie in den anderen Teilen der jungen Republik zunehmend unterstützt. Der Geschichtsforscher Ralf Bogen konstatiert:
»Mehrere Kulturschaffende, Lehrer, Rechtsanwälte und Professoren, u. a. von den Universitäten Heidelberg und Tübingen, unterstützten die Unterschriftensammlung der homosexuellen Verbände gegen den aus dem Jahr 1872 stammenden § 175 und trugen dazu bei, dass ein vom Reichstag eingesetzter Ausschuss für eine Strafrechtsreform sich am 16. Oktober 1929 für eine Legalisierung von einverständlichen homosexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen aussprach.«232
Unter den zahlreichen prominenten Unterstüzer_innen wie August Bebel (1840–1913), Ernst Bloch (1885–1977), Martin Buber (1878–1965), Sigmund Freud (1856–1939), Thomas und Heinrich Mann (1875–1955; 1871–1950), der Bildhauerin Käthe Kollwitz (1867–1945), der Ärztin, Sexualreformerin, Frauenrechtlerin und Gründerin des »Bundes für Mutterschutz« Helene Stöcker (1869–1943) befanden sich namhafte Persönlichkeiten aus dem deutschen Südwesten wie der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers (1883–1969), der bekannte Industrielle Robert Bosch (1861–1942), darunter auch bekannte Juristen wie der Strafrechtswissenschaftler Wolfgang Mittermaier (1867–1956), der Rechtswissenschaftler Richard Thoma (1874–1957), der führende Staatsrechtslehrer und Kommentator der Weimarer Reichsverfassung Gerhard Anschütz (1867–1948) und Gustav Radbruch (1878–1949).233
Die Reformbemühungen zur Liberalisierung des Strafrechts kulminierten im Oktober 1929. Der neue 21. Strafrechtsausschuss des Reichstags stimmte in der 85. Sitzung am 16. Oktober 1929 mit 15 zu 13 Stimmen dafür, den § 296 RStGB (»Unzucht zwischen Männern«) abzulehnen, was einer Streichung der Strafbestimmung gegen die sogenannte einfache Homosexualität gleichkam.234 Die Entscheidung des Rechtsausschusses zum § 296 zeugt davon, welches emanzipatorische Potential unter den Bedingungen des Weimarer Parlamentarismus mobilisiert werden konnte: Die der Abstimmung vorausgegangen Anträge auf Streichung des § 296 vom 8. Oktober 1929 stellten der Ossietzky-Anwalt Dr. Kurt Rosenfeld, der Badische Rechtsanwalt Dr. Ludwig Marum, Wilhelm Dittmann, der später im KZ Theresienstadt ermordete Mediziner Dr. Julius Moses und die Münchenerin Antonie »Toni« Pfülf (alle SPD) sowie der Rechtsanwalt Dr. Eduard L. Alexander, Peter Maslowski und Arthur Ewert (alle KPD).235 Im Zuge der 85. Sitzung des Rechtsausschusses ergriff auch der liberale Rechtsexperte der DVP, der Leiter des Strafrechtsausschusses des Reichstags und langjährige Streiter einer Strafrechtsreform Dr. Wilhelm Kahl (1849–1932)236 das Wort und erklärte, obwohl er die »Homosexualität« als eine »naturwidrige Betätigung des Geschlechtstriebes« verstand:
»[E]r habe sich