Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
»Betrachte Deine Veranlagung nie als etwas Unrechtes, Krankhaftes, denn was du tust ist Deine Natur – Die Nichterfüllung Deines Naturgesetzes kann nur ein Mensch von Dir verlangen, der unserer Sache aus Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und falschem Moralgefühl verständnislos gegenübersteht.«284
In den »Blättern für Menschenrecht« – kurzweilig auch prägnant »Menschenrecht« genannt – ist, wie in ihrem Vorläufer »Der Freundschaft«, eine leitmotivische Bezugnahme auf den humanitaristischen Menschenrechtsdiskurs als virulente Konstante und als diskursives Schutzschild der Homosexuellenemanzipation zu erkennen.285 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und im Gefolge der Aufklärung mit ihrem in Säkularisierungsbestrebungen und einem in Vorstellungen von Vernunft, Rationalität und Empirie wurzelnden Weltbild hatte sich in einigen europäischen Staaten eine liberalere Tendenz gegenüber homosexuellen Handlungen durchgesetzt, die auch in einer teilweisen Entkriminalisierung ihren Ausdruck gefunden hatte. Im Deutschen Reich wurde dies mit der Übernahme des »Homosexuellenparagrafen« aus dem Preußischen Strafrecht in das Reichsstafgesetzbuch jedoch verhindert.286
Entsprechend setzte die Emanzipationsbewegung zur argumentativen Absicherung ihrer Ziele auf Geistesgrößen der europäischen Aufklärung, z. B. indem sich der Vorsitzende des BfM, Friedrich Radszuweit, in der Konzeption seines »Freundschaftsverständnisses« auf Montaigne berief.287 Mit der naturrechtlichen ebenso wie der (natur-)wissenschaftlichen Begründung der Anerkennung homosexueller Handlungen, die mit der Ablehnung des Begriffs der »widernatürlichen Unzucht« ebenso einherging wie mit der Anerkennung der Idee einer in der »Natur des Menschen« wurzelnden sexuellen Orientierung, situierte sich die Bewegung strategisch in der Tradition der europäischen Aufklärung.288 Wiederholt wurden Vorstellungen der Befreiung, des Rechts am eigenen Körper und über sich selbst tradiert, die diese Semantik fundierten. Sie zeigt sich zugleich in der politischen Praktik von »Aufklärungs- und Bildungsveranstaltungen« die die Mitglieder des BfM und des WhK unter ihnen z. B. auch Mediziner und Juristen öffentlich abhielten und in denen es galt die Beteiligten zu kompetenten Mitstreiter_innen der Emanzipationsbewegung zu formen und sie ggf. zu befähigen selbst als Agenten der Emanzipation aufzutreten.
Nicht nur im württembergischen Stuttgart, sondern auch im liberalen Baden gründeten sich in den beiden größten Städten Mannheim und Karlsruhe in den 1920er Jahren Zweigstellen des Bundes für Menschenrecht. Im Frühjahr 1924 begannen sich gleichgeschlechtlich orientierte Personen auch im südbadischen Freiburg unter dem Dachverband des Bundes für Menschenrecht zu organisieren.289 Mitstreiter_innen des »Bundes für Menschenrecht« bemühten sich, nachdem es bereits im Jahr 1920 Bemühungen um die Gründung einer Freundschaftsgruppe gab (Abbildung 21),290 erneut um die Gründung einer Ortsgruppe. In der Ausgabe der »Blätter für Menschenrecht« vom 29.02.1924 hieß es und auch hier ist der Berliner Verlag die zentrale Vermittlungsinstanz der auf Anonymität bedachten Inserent_innen: »Freiburg-Zähringen. Einwandfreie Damen und Herren wollen sich zwecks Gründung einer Ortsgruppe an die Geschäftsstelle Berlin wenden.«291 Die aktiven Mitglieder des Bundes für Menschenrecht aus der Region Freiburg-Zähringen versuchten von Februar bis April 1924 eine Ortsgruppe zu gründen. Offenbar misslang dies, denn in den Ausgaben der »Blätter für Menschenrecht« Mitte/Ende 1924 findet sich weder das Inserat, noch ist die Gruppe im Verzeichnis der bestehenden Ortsgruppen der Blätter für Menschenrecht aufgeführt.292
Abb. 21: Aufruf zur Gründung einer Freiburger Freundschaftsvereinigung im Jahr 1920. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 42, 1920.
Ein Grund für die Popularität des »Bundes für Menschenrecht« lag neben der inhaltlich-emanzipatorischen Ausrichtung, so der Historiker Günter Grau, auch darin, dass der Verein und seine regionalen Gliederungen, die Ortsgruppen, neben politischen Aktionen auch Freizeitveranstaltungen, sportliche Betätigungen, Ausflüge, Bälle und andere Geselligkeiten organisierten, was auch für die Ortsgruppen im deutschen Südwesten zutraf.293
»Der Verein reklamierte für sich, die Interessen aller gleichgeschlechtlich Liebenden zu vertreten und beanspruchte die Führungsrolle im Kampf gegen ihre Diskriminierung. Seine Politik führte immer wieder zu Konflikten bis zu heftigen, öffentlichen ausgetragenen Auseinandersetzungen mit dem WhK und Aktivisten der Homosexuellenbewegung der Weimarer Republik.«294
Darüber hinaus fiel der Verein beispielsweise im Gegensatz zum WhK gerade gegen Ende der Weimarer Republik durch antisemitische Tendenzen ebenso auf wie durch das Bekenntnis zum virilen Männerhelden.295
In Abgrenzung zur ältesten Organisation zur Reform des Strafrechtsparagrafen Deutschlands, dem »Wissenschaftlich-humanitären Komitee«, lehnte der »Bund für Menschenrecht« nicht nur die sexuelle Zwischenstufentheorie Magnus Hirschfelds ab, sondern ebenso den Typus des »effeminierten« männlichen Homosexuellen mit der Begründung, dieser würde dem Ansehen der Homosexuellen in der Öffentlichkeit schaden. Stattdessen pflegte man das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit.296
Dieser bekannte Konflikt, die »Flügelkämpfe der Emanzipation« (Keilson-Lauritz), zeigte sich auch auf einer regionalen Ebene in der Aushandlung der Grenzen und Zugehörigkeiten zu den Freundschaftsgruppen zu Beginn der 1920er Jahre.297 In dieser Zeit begründete Ernst Kretschmer (1888–1964), Oberarzt der Psychiatrischen Abteilung des Universitätsklinikums Tübingen und Autor von »Körperbau und Charakter« (1921), seine psychosomatische Typenlehre,298 »[…] indem er die Körpertypen ›pyknisch‹, ›leptosom‹ [bzw. asthenisch, Anmerk. d. Verf.] und ›athletisch‹ entwickelte und meinte, mit ihnen auch bestimmte psychische Erkrankungen sowie Hinweise auf allgemein menschliche Persönlichkeitszüge, aber auch auf kriminelles Verhalten verbinden zu können.«299 Aus seiner biologisch fundierten Körperbaulehre entwickelte er eine Methode zur Bestimmung spezifischer Krankheitsformen wie Schizophrenie und Depression. Unter den »Leptosomen bzw. Asthenikern« verortete er auch »solche mit ›abnormer oder nicht eindeutig fixierter Triebrichtung‹.«300 Kretschmer konstatiert:
»Wir finden unter ihnen und ihren Angehörigen öfters ›homosexuelle Neigungen‹, ferner, auch ohne stärkeren sexuellen Antrieb, einen konträrsexuellen Habitus des Gefühlslebens, Mannweiber und weibische Männer.«301
In einem Aufsatz mit dem Titel »Keimdrüsenfunktion und Seelenstörung« (1921) behauptete Kretschmer basierend auf seinen Forschungen einen vermeintlichen konstitutionsbiologischen Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Homosexualität.302
Vor dem Hintergrund derartiger Konzepte und verwissenschaftlichter Ressentiments ist es kaum verwunderlich, dass bereits während der Gründungsphase der Stuttgarter Freundschaftsgruppe von einigen der Stuttgarter »Freunde« ein misogyner Maskulinismus und ein Eintreten für hegemoniale Männlichkeit auch als Strategie möglicher Anerkennung befürwortet und offen artikuliert wurde. So wetterte der Stuttgarter C. Grieb gegen die Effeminierten unter den homosexuellen Männern:
»In einer der letzten Nummern der ›Freundschaft‹ schreibt ein Einsender, daß jeder von ›Uns‹ mitarbeiten soll, um die Ansichten der großen Menge unserer näheren Umgebung über ›Uns‹ zu ändern. Diesem Rat kann ich nur aufs Wärmste zustimmen! […] Zeigt eurer Umgebung, daß wir Gefühlswerte besitzen, daß wir keine Lüstlinge, keine Verbrecher, keine Kranke sind, sondern daß es uns Natur ist so zu lieben! Gebt euch anständigen Menschen, wenn angebracht, zu erkennen. Warum denn die Komödie? […]«303
In der Auseinandersetzung um die öffentliche Repräsentation oder das öffentliche Bild des bzw. der Homosexuellen im deutschen Südwesten forderte er:
»Lebt doch euere Leben so, daß man euch Achtung zollt und abgewinnen muß! Nichts schadet uns mehr als ein ärgerniserregendes zur Schau getragenes Wesen in der Öffentlichkeit. Wohl frei, aber niemals provozierend, wie es leider so viel von den Unseren sich es