Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

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alle Freunde und Gäste erfreute und reichlichen Beifall erntete.«323

      Ein Bericht der Ortsgruppe Stuttgart bezeugt, dass zu einem am 5. November 1932 im Saalbau Rosenau veranstalteten Stiftungsfest sich nicht nur die Mitglieder der hiesigen Ortsgruppe einfanden, sondern es wurden auch Gäste aus Pforzheim, Karlsruhe, Mannheim und der Pfalz, aus Tuttlingen und Nürnberg begrüßt (Abbildung 22).324 Es bestanden mithin regionale Kontakte nach Baden, ins Württembergische sowie überregionale Kontakte nach Bayern und in die Pfalz, die zu diesem Anlass gepflegt wurden.325

      In der Dezember/Januar-Ausgabe der »Blätter für Menschenrecht« von 1932/1933 verkündete die Ortsgruppe Karlsruhe ihre Neugründung, die sie mit einem Gründungsfest im »Hotel Geist« (Kronenstraße 54) feierte.326 Eingeladen waren

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      Abb. 22: Gaststätte Sonnenhof in Stuttgart (1942). Anfang der 1930er kam hier die Ortsgruppe des BfM zusammen.

      nicht nur »Mitglieder«, »Freunde« und »Gönner«, wie es in dem kleinen Artikel heißt, sondern auch die umliegenden Ortsgruppen des BfM aus Stuttgart und Mannheim.327 Während des Festes der Ortsgruppe in Karlsruhe im Dezember/Januar 1932/33, zu dem auch viele Stuttgarter kamen, hielt der erste Vorsitzende der Ortsgruppe Mannheim, Kurt Hunger, eine Rede über »Zweck, Ziel und Gemeinschaftsgeist im Bunde«, Neben dem »Karlsruher Schützenmarsch« wurde ein Violinensolo vorgeführt und ein Mitglied der Gruppe sang das Lied »Einsam klingt das Glöckchen«. Im Bericht heißt es: »Überall sah man frohe Laune und gemütliche Stimmung war über den ganzen Saal, der festlich geschmückt war, verbreitet […].«328 Zur Erinnerung an den bereits im März 1932 an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung verstorbenen Herausgeber der »Blätter für Menschenrecht« und Vorsitzenden des »Bundes für Menschenrecht« Friedrich Radszuweit, »[…] den allzufrüh verstorbenen Führer und Kämpfer der Bewegung […]« wurde später »[…] auf gedämpfter Geige und Klavier […]« das Lied: › »Ich hatt’ einen Kameraden« gespielt »[…] das von allen Anwesenden stehend und im stillen Gedenken an den Führer angehört wurde.«329 Anschließend wurden der neugegründeten Ortsgruppe Tischstandarten überreicht.330

      Die während der Festivitäten dargebotenen Lieder und Rezitationen lassen Rückschlüsse auf die in diesem lebensweltlichen Gefüge zirkulierenden kognitiven Artefakte zu. Die Liedwerke und ihre (vermutete) homoerotische Aneignung, etwa durch den anzunehmenden Austausch von Pronomen in den Liedtexten, waren Teil der Lebenswelten, der Selbstverständnisse und der Selbstbilder der hier organisierten homosexuellen Männer, der »Freunde und Freundinnen« im deutschen Südwesten der 1920er und beginnenden 1930er Jahre.331

      Mit der Darbietung und dem angenommenen »queering« eines Liedes wie »Ungeduld« aus Franz Schuberts (1797–1828) Liederzyklus »Die schöne Müllerin« (1823) kann hier ein vorsichtig entstehendes homosexuelles Selbst-Bewusstsein ausgemacht werden. Das homoerotisch appropriierte Lied, das als solches von einer intensiven Liebe zu einem anderen Mann kündet, von einer Liebe, die geheim ist und die ihren Adressaten nicht zu nennen oder gar zu adressieren wagt, zeugt zugleich von einer Sehnsucht, diese Liebe öffentlich zu verkünden. In der mann-männlich homosexuell gewendeten Variante singt ein gleichgeschlechtlich orientierter Mann davon, dass er seine Liebe zu einem anderen Mann überall kundtun möchte, zugleich befürchtet er, dass genau diese Liebe erkannt und entdeckt werden könnte:

      »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, ich grüb’ es gern in jeden Kieselstein, ich möcht’ es sä’n auf jedes frische Beet, mit Kressensamen, der es schnell verräth, auf jeden weissen Zettel möcht’ ich’s schreiben: Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben. […] Ich meint, es müsst’ in meinen Augen steh’n, auf meinen Wangen müsst’ man’s brennen seh’n, zu lesen wär’s auf meinem stummen Mund, ein jeder Athemzug gäb’s laut ihr [bzw. ihm, Anmerk. d. Verf.] kund, und sie [bzw. er] merkt nichts von all’ den [sic] bangen Treiben: Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.«332

      Deutlich zeigt sich hier ein romantisch geprägtes Motiv der Einsamkeit, das aufgelöst wird in ein hoffnungsvolles Sehnen. Das ebenfalls im Kontext der Stuttgarter Feier des BfM 1932 aufgeführte »Wanderlied« von Robert Schumann wendet das Motiv der Sehnsucht positiv und schließt mit dem Motiv erfüllter Liebe in der Ferne elterlicher und familiärer Verbundenheit. Es bietet damit ein Identifikationsangebot, das sich leicht übertragen lässt auf vielleicht brüchige Lebenswege, die sich traditionellen, gewissermaßen evidenten Vorgaben von Lebensplanung und familiärer Solidarität entziehen und die in der vagen Anonymität einer südwestdeutschen Großstadt »Heimat« in der Liebe zu einer anderen gleichgeschlechtlichen Person neu begründen.333

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      Abb. 23: Portrait verklemmter bürgerlicher Homoerotik? Georg Scholz: »In einem kühlen Grunde… (Deutsches Volkslied)«, Heidelberg (1923). Bleistift auf Papier, 31,0 × 23,0 cm.

      Diese ambivalente Verschränkung von Homoerotik und Rekurs auf bestimmte Topoi der deutschen Romantik gibt der durch seine neusachlichen Arbeiten als sozialkritisch bekannt gewordene Maler Georg Scholz auch in seiner Zeichnung »In einem kühlen Grunde … (deutsches Volkslied)« (1923) zu sehen (Abbildung 23).

      Scholz skizziert hier quasi-naturalistisch zwei bürgerliche Männer in homoerotischer Pose vor einem Landschaftshintergrund. Die Zeichnung, die durch Überzeichnung und Lichtsetzung stark artifiziell wirkt, gibt die Männer oberhalb eines Dorfes zu sehen, gekleidet im modernen Herren- oder Sonntagsanzug, beide an eine Eiche gelehnt, der eine sitzend und ein Volkslied singend, der andere stehend und auf einer Flöte spielend.334

      Während das Dorf, bestehend aus einer Kirche, einer Wassermühle und wenigen Häusern, wie verlassen wirkt – Scholz gibt lediglich einen Knaben zu sehen, der in einen Weiher uriniert – blicken sich die beiden Männerfiguren verliebt in die Augen. Dabei umgreift der Sitzende, der in einer Hand eine Blume hält, den auf einer Flöte Spielenden mit seiner anderen Hand so, dass er dessen Oberschenkelinnenseite berührt. Der Musikant, der mit überkreuzten Beinen, tailliertem Anzug und Absatzschuhen effeminiert in Szene gesetzt ist, berührt mit seinem Pfennigabsatz wiederum den Schritt des Sitzenden. Die von Scholz hinzugefügte Beschriftung »›In einem kühlen Grunde …‹ (Deutsches Volkslied)«, verweist auf das von Friedrich Glück (1793–1840) vertonte romantische Gedicht von Joseph von Eichendorff (1788–1857), das unter dem Titel »Untreue« als »Volkslied« weitreichende Bekanntheit erlangte. Allerdings scheint es sich bei dieser Zeichnung von Georg Scholz, trotz der Anspielung auf das Motiv der Wassermühle, nicht um eine Illustration des bekannten Volksliedes zu handeln, sondern um eine ironisierende, persiflierende Zeichnung, die zwei Lesarten zulässt: Die Zeichnung stellt aus oder enthüllt ironisch, wie eine vermeintlich homosoziale, bürgerlich deutsch-nationale Männlichkeit der beiden Volksliedmusikanten ins Homoerotische und Homosexuelle zu kippen vermag. Vielleicht verspöttelt sie aber auch, wie sich homosexuelle Männer in deutschnationale, romantische Narrative einschreiben und wie dies zu scheitern droht.335

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