Название | MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869168807 |
V Die Grenzen des Verstehens
Obige Aussagen veranschaulichen, wie wenig sich Kurtág dem Diskurs des Darmstädter Kreises über neue Musik angeschlossen hat. Er betont jene Elemente der Modellkompositionen – wie die Geigenkadenzen der Gruppen,66 den Kampf zwischen den Blechbläsern,67 die Dichte des musikalischen Geschehens sowie die Frage-Antwort-Strukturen68 –, die eher die Grundelemente seiner Musik sind, während er die kompositionstechnischen Beschlüsse, die Überlegungen zu Orchestrierung oder elektronischer Musik,69 die »das sprachliche Niveau« der zeitgenössischen Musik ausmachten, völlig ignorierte. Es ist bemerkenswert, wie wenig er aus dem Blickwinkel eines eingeweihten Serialisten spricht, sondern eher aus der Position des allgemeinen Rezipienten und primär die gestischen und sprachlichen Qualitäten der Musik betont. Bei Ligeti hob er die Dichte des musikalischen Geschehens hervor, das heißt jene Attitüde, die den Gebrauch von musikalischen Füllungs- und Bindemitteln ablehnt. All dies bedeutet, dass Kurtágs Rezeption neuer Musik auf jenen Elementen basiert, die für ihn derzeit überhaupt spürbar waren.
Die von Kurtág apperzipierten Elemente stehen jedoch oft in keinem Zusammenhang mit den Intentionen des Komponisten. Dies wird auch durch Kurtágs oft zitierte Aussage gestützt, in der er sagte, als er sich über die Hommage-Kompositionen der Reihe Játékok äußerte: »Ähnelte ein Stück zum Beispiel von Ferenc Szabó, dann hinderte mich keinerlei Vorbehalt, auch in seinem Stil weiterzukomponieren.«70 Wie aber ein bestimmtes Stück dem Stil eines anderen Komponisten ähnelt, wird nicht klar. Dies sind musikalische Momente, die Kurtág im Stil des anderen Komponisten für charakteristisch hält, während – wie wir im Falle von Stockhausen, Boulez und Ligeti gesehen haben – diese Momente in der Originalkomposition sogar eine völlig zufällige Rolle spielen können. An anderer Stelle bezieht sich Kurtág selbst auf dieses Phänomen, wenn er feststellt, wie sich Weberns Wirkung verwirklichte: »Auch Webern hat nicht durch das Hören gewirkt, sondern durch das Studium, das ›Aushorchen‹ kleiner Ausschnitte.«71
Tobias Bleek weist darauf hin, dass der Komponist in einer Skizze vom 25. Februar 1958 die Worte »acciaccatura a la Pousseur« zu seinem in Paris komponierten Klavierstück aufzeichnete.72 Kurtág hörte Pousseurs im Jahre 1955 komponiertes Quintette à la mémoire d’Anton Webern vier Wochen früher beim Konzert des Domaine Musical.73 Pousseurs Werk bezieht sich auf die Reihe von Weberns Quartett op. 22 und die Bagatellen op. 9. Pousseur schrieb gerade eine detaillierte Analyse über den 1. Satz der Bagatellen für den von Kurtág gelesenen Webern-Gedenkband von die Reihe.74 Pousseur notiert sein Quintett im rigorosen Zweiviertel, jedoch ist klar, dass es trotz der strikten Schreibweise sein Ziel ist, sich von dem traditionellen, metrischen Denken zu entfernen. Der Verlauf der Musik ist ziemlich frei: Pousseur kombiniert den Zweiviertel-Takt mit drei- und fünffacher Teilung, und er verwendet Teilungen wie 7 : 8 und 5 : 4 sowie Triolen. Er wendet inzwischen alle Rhythmusformeln an. Darüber hinaus bilden die fünf Instrumente (B-Klarinette, Bassklarinette, Klavier, Geige, Cello) einen dichten Kontrapunkt. All dies erzeugt einen fragmentierten musikalischen Prozess, in dem die Töne fast nie zur gleichen Zeit erklingen, sondern Arpeggio-artig einander folgen. Diesen Effekt nennt Kurtág »Acciaccatura«.
Kurtág kannte die Partitur des Pousseur-Quintetts wahrscheinlich nicht. Im Gegensatz zu den Webern-Partituren, die er gründlich studierte, sammelte er nur klingende Erfahrungen aus dem Quintett. Der 2. Satz des Bläserquintetts (Notenbeispiel 4) macht jedoch deutlich, dass er versuchte, eine ähnliche fragmentierte Struktur in seinem Werk zu schaffen. Kurtág notiert den musikalischen Prozess ohne Taktstriche und wendet verschiedene rhythmische Formeln und Vorschläge an, um die erwünschte Fragmentierung zu erreichen. Er verbindet die gleichzeitig zu spielenden Akkorde mit Hilfslinien. Während Henri Pousseur in seinem Quintett davon ausging, dass er mit dem Weiterdenken von Weberns zwei Kompositionen die Technik von gebundenen Takten und die Empfindung der ungebundenen Metrik entwickeln kann, sodass er unter dem strengen Zweivierteltakt eine freie Struktur schaffen kann, versuchte Kurtág, vorwiegend das klingende Erlebnis des Endergebnisses von Pousseurs Werk auf seine Weise zu erzeugen. Er konnte sich jedoch nur vorstellen, diese klingende Erfahrung in einer Struktur ohne Taktstriche zu realisieren.
Auf die Frage von Bálint Varga, wie die Anweisung »erstarren« in die Partitur des Streichquertetts gelangt sei, antwortete Kurtág unverblümt: »Das habe ich von den Darmstädtern gestohlen.«75 Diese Formulierung ist sehr vielsagend: Sie macht deutlich, wie sehr Kurtág, der seine neue kompositorische Periode gerade mit dem Streichquartett eröffnete, ein starkes Interesse daran hatte, westliche neue Musik zu imitieren. Mit anderen Worten, Kurtág suchte in den Werken des Darmstädter Kreises einen Bezugspunkt für seinen neuen Stil, also Merkmale, die es ermöglichen, seine Musik aus der früheren ungarischen Praxis des Komponierens zu entfernen, und gleichzeitig helfen, seine neue musikalische Sprache zu gestalten. Die Grundelemente seiner Musik – wie die Frage-Antwort-Perioden oder die Einbeziehung der Reaktionen des Rezipienten in den Prozess der Ausarbeitung der Form – entstanden daher aus fruchtbaren Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Die Geste des »Diebstahls« wurde so zum Prinzip von Kurtágs Poetik. Die Quelle der späteren Intertextualität seines Œuvres ist gerade das, was György Kurtág bei der Rezeption der Darmstädter neuen Musik erkannt hatte: dass es seine früher angewandten musikalischen Worte nicht mehr möglich machen, seine neuen Gedanken auszudrücken. Sein Œuvre ist ein Dokument der Unmöglichkeit des Sprechens und Komponierens. Seine Kunst ist gerade deswegen intertextuell geworden, weil sie die Erkenntnis vermittelt, dass es nur möglich ist, mit den missverstandenen Worten und Musik anderer etwas zum Ausdruck zu bringen.
Notenbeispiel 4: György Kurtág, Bläserquintett op. 2, Beginn des 2. Satzes, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest, mit freundlicher Genehmigung
1 István Balázs, »Fragmente über die Kunst György Kurtágs«, in: György Kurtág, hrsg. von Friedrich Spangemacher, Bonn 1986 (= Musik der Zeit. Dokumentationen und Studien, Bd. 5), S. 65. — 2 István Balázs, »Kurtág«, in: Tisztelet Kurtág Györgynek, hrsg. von Domokos Moldován, Budapest 2006, S. 21– 61. — 3 Balázs, »Fragmente« (Anm. 1), S. 70. — 4 Rachel Beckles Willson hat die Quellen dieser ethischen Kurtág-Interpretation analysiert: György Kurtág: The Sayings of Péter Bornemisza, op. 7. A ›Concerto‹ for Soprano and Piano, Aldershot 2004, S. 141–144. — 5 György Kroó, A magyar zeneszerzés huszonöt éve, Budapest 1971; überarbeitete deutsche Fassung: György Kroó, Ungarische Musik – gestern und heute, Budapest 1980. —