Название | MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869168807 |
Laut Stephen Walsh leitet sich die Kürze der Kurtág-Formen auch aus der Gestensprache ab,23 während andere – wie beispielsweise Stenzl24 – die aphoristischen Formen auf Webern zurückführen. Vielleicht aufgrund einer missverstandenen Aussage von Kurtág hält sich auch die Idee hartnäckig, dass die Struktur seiner Zyklen – vor allem aber das Streichquartett op. 1 – aus der Bartók’schen Brückenform stamme, obgleich sie immer aus geradzahligen Sätzen bestehen.25 Als ein wichtiges Analyseprinzip wird der Kurtág eigene Grundtyp des periodischen Denkens betrachtet, also das Frage-Antwort-Paar, das einige seiner Kompositionen charakterisiert. Ein paradigmatisches Beispiel ist der Satz Virág az ember [Der Mensch, eine Blume], der zuerst in den Sprüche[n] von Péter Bornemisza (Notenbeispiel 1) auftaucht.
Die ersten fünf Noten – wie Kurtág selbst formuliert – werden zu einer Frage-und-Antwort-Periode (2 + 3 Noten) geformt, gefolgt von einer dreitönigen Coda.26 Peter Hoffmann meint darin Kurtágs Intention von der Verknüpfung des radikalen musikalischen Denkens mit der Bewahrung der Tradition zu erkennen.27 Simone Hohmaier hingegen weist auf den Einfluss der späten Beethoven-Quartette und der letzten Klaviersonaten hin, die für Kurtág – im Kontext des periodischen Denkens – so wichtig waren.28
II »Das sprachliche Niveau« und das Komponieren aus Rohmaterialien
Die oben erwähnten, oft widersprüchlichen Interpretationen basieren auf der Tatsache, dass die Kurtág-Werke, die zu dieser Zeit entstanden, in Bezug auf ihre Kompositionstechnik außergewöhnlich sind – sowohl in der ungarischen als auch in der europäischen Musikgeschichte. Während Kurtágs Kompositionen im ersten Fall beispiellose Dokumente der Besetzung der westlichen neuen Musik sind,29 repräsentieren sie im zweiten Fall die Geburt der postmodernen Musik, die sich der radikalen Moderne entgegensetzt.30 Analytiker sind sich jedoch einig, dass diese Stücke aus technischer Sicht eine hohe Qualität erreichen: Kroó sagt, dass Kurtág sich in diesen Arbeiten als Meister des neuen Stils und der neuen Technik präsentiere,31 während Tobias Bleek die These von Stockhausens Webern-Schrift (»Zum 15. September 1955«) auf Kurtág projiziert, in der Stockhausen betont, dass, obwohl Webern nicht nachgeahmt werden könne, aber kein zeitgenössischer Komponist »das sprachliche Niveau« seiner Musik unterschreiten solle.32
Es stellt sich wohl zu Recht die Frage, ob die Kompositionen der ersten, avantgardistischen Periode von Kurtág wirklich das wahrgenommene sprachliche Niveau von Weberns Kunst erreichen. Und wenn ja, wie sind Kurtágs Aussagen zu verstehen, in denen er auf die Grenzen seiner eigenen kompositorischen Fähigkeiten hinweist? »Die Technik des Komponierens konnte ich mir eigentlich nie richtig zu eigen machen«, sagt er.33 Besonders hervorzuheben sind seine Aussagen im Bezug auf die Partituren Weberns und Stockhausens, die er studierte, sowie seine Lektüre über neue Musik zu dieser Zeit. In einem Interview mit Ulrich Dibelius sagte er, dass ihn die Analyse von Weberns Werken verwirrt habe.34 Auf die Frage von Friedrich Spangemacher antwortete er beschämt, dass er der Partitur von Stockhausens Gruppen nach der ersten Seite nicht folgen konnte,35 und dass in den Aufsätzen von Boulez und Stockhausen – zum Beispiel in Stockhausens Schrift, »… wie die Zeit vergeht …«36 –, auf die ihn Ligeti aufmerksam gemacht hat, er sich »in wenigen Sekunden« verloren habe: »Ich verstand ihr Denken nicht«, erinnerte er sich.37
Wir sind es gewohnt, solche Äußerungen mit Skepsis zu behandeln: Bestenfalls dokumentieren sie das mangelnde Selbstwertgefühl des Komponisten, schlimmstenfalls seine Tiefstapelei. Dennoch stellt sich die Frage: Wenn wir die ersten Kompositionen, die das neue Kurtág-Œuvre eröffnen, als technisch hochwertige Werke betrachten, die keine kompositorisch-technische Diskrepanz aufweisen, werden wir sie überhaupt verstehen? Ist es nicht möglich, dass Kurtágs individuelle Musiksprache, die auf der Intertextualität basiert, aus der Tatsache entstanden ist, dass der Komponist – im Gegensatz zu seinen Analytikern – erkannte, dass er »das sprachliche Niveau« der 1950er Jahre, was durch Weberns Musik, genauer gesagt eigentlich von der Stockhausens und Boulez’ vorlag, nicht erreichen konnte? Und ist es nicht möglich, dass die ersten, mit Opus-Nummer gekennzeichneten Kurtág-Kompositionen Abdrücke dessen sind, was der Komponist aus seiner, in den Jahren 1957 und 1958 gesammelten Erfahrungen de facto geistig oder musikalisch verarbeiteten konnte, mit anderen Worten, was er aufgrund seiner eigenen, eher geschlossenen Tradition davon verstehen konnte?
Die 40 Sätze der ersten sechs Werke mit Opus-Nummer wurden für verschiedene Ensembles erarbeitet (Tab. 1).38
Tabelle 1: György Kurtágs Werke zwischen 1959 und 1968
Jahr | Werk |
1959 | Op. 1: StreichquartettOp. 2: Bläserquintett |
1960 | Op. 3: Acht Klavierstücke |
1961 | Op. 4: Acht Duos für Geige und Cimbalom |
1962 | Op. 5: Jelek für Bratsche (revidiert: 1992)Op. 6/c: Szálkák für Cimbalom (beendet: 1973) |
1963–68 | Op. 7: Die Sprüche des Péter Bornemisza |
Auffällig ist jedoch die Kraft des Traditionalismus in den meisten ausgewählten Gattungen: Das erste Werk ist ein Streichquartett. Kurzum, die Ouvertüre von Kurtágs neuer Periode ist mit einem Genre verbunden, das traditionell als die größte Herausforderung der Kompositionstechnik betrachtet wird. Op. 2 wendet sich dem Genre Bläserquintett zu, einem der wichtigsten Genres im ungarischen Musikleben der 1950er Jahre.39 Die Reihe Acht Klavierstücke (op. 3) – mit dem neutralen Titel – verweist vermutlich zudem auf Kodálys Zehn Klavierstücke (op. 3): Solche Anspielungen auf klassische Opus-Nummern sind in Kurtágs Œuvre auch später nicht selten.40 Die ersten drei Zyklen machen gerade darauf aufmerksam, dass der Komponist zu Beginn seiner neuen Periode vorhatte, die Neuheiten seiner Kunst in bewährten traditionellen Genres zu präsentieren. Gleichzeitig zeigt die Auswahl der Instrumente (in erster Linie die Benutzung von Cimbalom) im Acht Duos (op. 4) und Szálkák (Splitter, op. 6/c) einen spezifischen nationalen Traditionalismus, obwohl der Hinweis auf die ungarische Musiktradition im Op. 2 und 3 auch klar ist. Vielleicht enthalten die für Bratsche geschriebenen Jelek (Zeichen, op. 5) die geringste Zahl der traditionellen Elemente. Sein Titel ist hauptsächlich autobiografisch geprägt: Wie Kurtág über seine in den Pariser Monaten unter dem Einfluss von Marianne Stein entstandenen Kompositionen schrieb, gab er mit deren Hilfe tatsächlich der Außenwelt »Zeichen«.41 Dies mag auch die Tatsache erklären, dass Jelek – ähnlich wie Szálkák – im späteren Kurtág-Œuvre ihr eigenes Leben weiterführen, das heißt eine der wiederkehrenden Grundformeln seines Lebenswerks darstellen.42
Die Wiederverwendung zuvor komponierter musikalischer Rohstoffe