Название | MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869168807 |
Unter all den modellhaften Prägungen, die Kurtágs Entwicklung beeinflussten, war Ligetis Musik also nur eine von vielen. Zugleich kam ihr aber doch eine spezifische Ausnahmestellung zu, die sich wesentlich auch durch Ereignisse im Jahr 1958 erklären lässt. Zur Vorgeschichte: Nach der Zerschlagung des Aufstands gegen das Sowjetregime im Oktober/November 1956 war Ligeti nach Wien geflüchtet und nach Köln weitergezogen, wo er von Gottfried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen Anregungen empfing. Kurtág musste zunächst in Budapest bleiben, erhielt danach aber ein Visum für einen Frankreich-Aufenthalt (1957–58) und studierte dort bei Milhaud und Messiaen. Diese Lebensphase beschrieb er als Jahre der Krise und Selbstfindung. 1958 folgte ein Schlüsselerlebnis: Ligeti, der Kurtág 1957 in Paris besucht hatte, lud diesen ein, nach Köln zu kommen. Dort studierten sie die Partitur von Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) und hörten die Bandaufnahme dieses Werks.7 Neben der gestischen Qualität dieser Musik war es auch ihre raumorientierte Konzeption, die Kurtág interessierte.8 Am folgenreichsten war aber wohl die Begegnung mit Ligetis neuer elektronischer Komposition Artikulation (1958) – eine Faszination, die lange weiterwirken sollte. Von der »Dichte der Ereignisse«, der »Direktheit der Aussage« und dem »raffinierten Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie«, die er in diesem Werk fand, war Kurtág begeistert.9 Laut eigener Aussage folgte er ab diesem Zeitpunkt dem Ideal, etwas diesem Erlebnis Vergleichbares zu schaffen.10 Zu den Modellwerken Ligetis, an denen er sich dabei orientierte, zählte er in der Folge auch Atmosphères11 (1961) für großes Orchester sowie das Mimodram Aventures (1962) für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, zu welchem Artikulation als Vorstudie gedient hatte. Ausgehend vom Schlüsselerlebnis 1958, lassen sich in Kurtágs Musik zwei Entwicklungslinien verfolgen, anhand derer sich einerseits der Einfluss Ligetis, andererseits aber vor allem dessen Transformation zu etwas Individuellem, von Ligeti Losgelöstem nachvollziehen lässt. Sie können wie folgt näher definiert werden:
1) Raum / Klang: Diese Auseinandersetzung setzt erst relativ spät ein (in den 1980er Jahren).
2) Sprache: Dieser Begriff zielt nicht nur auf die Text-Musik-Beziehung, sondern auch auf die inhärente Musiksprachlichkeit, also die musikalische Syntax ab. Dieser Entwicklungsstrang ist bereits ab 1959 aktuell.
Um die beiden Entwicklungslinien analytisch zu fassen, werden im Folgenden Ausschnitte aus Werken Kurtágs analysiert, in denen er sich explizit auf Ligeti bezieht. Gemeint sind nicht Ligeti-Zitate im engeren Sinn12, sondern Ligeti-Hommagen, die in Werk- oder Satztiteln, Partitur- oder Skizzenanmerkungen offen als solche deklariert sind.13 Zuvor seien – als erste Orientierungshilfe – jene konkreten Spuren, die die Beziehung Kurtág/Ligeti in Kompositionen, Texten und Festreden beider Komponisten hinterlassen hat, in einer provisorischen Liste14 zusammengefasst.
Werk / Text / Festrede | Jahr | Bezug |
Kurtág, 24 Antiphonae op. 10 (Orch., unvollendet, nicht ediert) | 1970–71 | Widmung an Ligeti |
Kurtág, A kis czáva op. 15b, 3. Satz (Scherzo)(Picc, Pos, Git) | 1978 | Ligeti, Aventures (1962)Vermerk in den Skizzen |
Ligeti, Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapestvgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 2); urspr. in: Friedrich Spangemacher (Hrsg.), György Kurtág, Bonn 1986, S. 14–17 | 1985 | |
Kurtág, … quasi una fantasia … op. 27/1,1. Satz: Introduzione (Kl, Instr) | 1988–89 | Ligeti, Klavierkonzert (1985–88),2. Satz (Lento e deserto) |
Kurtág, Festredevgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 90–102;vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 155–66 | 1993 | Verleihung des Siemens-Preises an Ligeti im Cuvilliés-Theater München |
Ligeti, Analyse Introduzionevgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 15);ungar. Original in: Muzsika 39/2 (1996), S. 9–11 | 1995 | Kurtág, … quasi una fantasia …op. 27/1 (1988–89), Introduzione |
Kurtág, Hälfte des Lebens für drei Baritone(aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress | 1995 | Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982) |
Kurtág, »… le tout petit macabre – Ligetinek«, aus: pas à pas – nulle part op. 36 (Bar, Str, Perc) | 1993–97 | Ligeti-Bezug im Titel; Anspielung auf Ligetis Le grand macabre (1974–77, rev. 1996–97) |
Kurtág, Ligatura to Ligeti (Kl), aus: Játékok 7 | 1997 | Ligeti-Bezug im Titel; Bezug auf die Klangflächen in Atmosphères (1961) |
Kurtág, Hälfte des Lebens für Bariton soloVersion 1: noch einmal für György LigetiVersion 2: und wieder einmal für György Ligeti (aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress | 1999 | Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982) |
Ligeti, Laudatio György Kurtág vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 32) | 2000 | Aufnahme György Kurtágs in den Orden Pour le mérite |
Kurtág, Hipartita op. 43 (Vl solo), 1. Satz | 2000–04 | Vermerk »Hommage à Ligeti« in der Partitur; Bezug auf: Ligeti, Horntrio (1982), 4. Satz |
Kurtág, Kylwyria – Kálvária (Gedächtnisrede)vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 103–106vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 167–78 | 2007 | Veranstaltung zu Ehren verstorbener Träger des Ordre pour la mérite |
I Raum / Klang
… quasi una fantasia … für Klavier und Instrumentengruppen op. 27/1 (1988–89)
Der 1. Satz (Introduzione) dieses Werks ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Das Material, mit dem Kurtág arbeitet, ist auf äußerste Einfachheit reduziert. Im Klavier erklingen Skalenfragmente, die ab Ende von T. 3 in einen changierenden Klangteppich von piatti sospesi, Schellen und Gongs eingebettet werden. In T. 9 (dem letzten Takt) setzen zusätzlich der tiefe Gong und das Tamtam ein. Während diese Klänge verhallen, entstehen ppppp-Klangverschiebungen im hohen Register, die von Mundharmonikas15 gespielt werden. Resultat ist ein Klangprozess, der durch eine kontinuierliche Tendenz zur Aufhellung16 gekennzeichnet ist. Dies wird auch in der Zentroidwertanalyse ersichtlich (Notenbeispiel 1).
Im Blick auf Ligetis Klavierkonzert, das kurz davor entstanden ist (1985–88), wird deutlich, dass sich das Ende des 2. Satzes (Lento e deserto, T. 21–24) modellhaft auf T. 9 der Introduzione beziehen lässt. Auch diese Passage ist durch verhallende Klänge im tiefen Register bestimmt, in die sich höhere Mundharmonika-Klänge mischen. Das Ergebnis ist auch hier eine kontinuierliche Erhöhung der Klanghelligkeit (Notenbeispiel 2).