Название | MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág |
---|---|
Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869168807 |
Kernideen der romantischen Musik und namentlich ihre Leidenschaftlichkeit aufblitzen zu lassen, meint bei Kurtág dementsprechend: diese Seite nicht bloß zu beschwören oder gar überkochen zu lassen, sondern zugleich zu fragmentieren und auch Raum für Momente des Verlöschens zu lassen. Dieses Fragmentieren ist im Laufe von Jahrzehnten ein bevorzugter Modus seines Komponierens geworden, getragen, relativiert, aber zugleich intensiviert durch lapidare oder bloß hauchende Momente. Zu dieser Einsicht passt es, dass in die Hommage à. R. Sch. offenkundig auch Bezüge zur Musik Gustav Mahlers eingelassen sind.39 Mahlers Neigung zum Ambivalenten, Gebrochenen und zugleich Existenziellen, die bei Schumann anklingt und auch für manche von Kurtágs Generationsgenossen wichtig wurde (so etwa für Henri Pousseur), scheint gerade hier nachzuklingen.
IV Reduktion und komponierte Interpretation
Bei alledem ist das Emphatische und (Über-)Pointierte, zu dem einige der intertextuellen Momente beitragen, bei Kurtág nicht denkbar ohne den Habitus der Konzentration und Verdichtung. Dieser schon herausgestellte Gegenpol zur expressiven Seite legt noch einzelne weitere Überlegungen nahe, um von hier aus wenigstens kurz auch auf das Musiktheaterwerk Fin de partie zu sprechen zu kommen.
In gewisser Weise schreibt sich Kurtágs Musik seit dem 1. Streichquartett gerade in jene Tradition reduktionistischer Strategien ein, die vom Verzicht auf ausladende Dimensionen, üppige Klangentfaltungen oder strukturelle Komplexität getragen sind. Bestimmt von stilistisch durchaus unterschiedlichen Prägungen kann diese Tradition – vielleicht sollte man eher von einem Bündel von Traditionen sprechen – zu den wesentlichen Strömungen der Neuen Musik gerechnet werden. Gemeint sind damit musikalische Situationen oder Konzepte, in denen Momente von Enthaltsamkeit zum Tragen kommen. In vielen Fällen geht diese Haltung, die zuweilen mit spirituellen Tönungen verbunden ist, mit stark reduzierter Ereignisdichte einher. Oft aber – und gerade bei Kurtág – verbindet sie sich mit einer hierzu gegenläufigen Tendenz, nämlich mit großer Verdichtung, ausgefeilter Schattierung oder sogar dramatischer Aufladung von Klängen. Fragt man nach Motiven für die in stilistisch sehr unterschiedlichen Teilen der Gegenwartsmusik wichtige Grundtendenz der musikalischen Reduktion, gelangt man unschwer zu der Einsicht, dass sich der Habitus des Verzichts auf glanzvolle, monumentale, unterhaltsame oder souveräne Tönungen in vielen Fällen als bewusste Negation der im Konzertbetrieb so präsenten Neigung zu Eingängigkeit sowie zum Spektakulären deuten lässt. In diesem Kontext kann es besonders plausibel und herausfordernd erscheinen, sich auf Weniges und auf kaum Greifbares zu beschränken. Die Tendenz zur Reduktion meint in Kurtágs Komponieren, im Gegensatz zu manchen anderen Beispielen etwa aus der Feder von Arvo Pärt, Morton Feldman oder Alvin Lucier, dass Musikstücke gewissermaßen als Gegenpol zu aller Überschaubarkeit und Konzentration eine gewisse Mannigfaltigkeit klanglicher oder sogar gestischer Gestaltungen aufweisen können und dabei eine energetische, jeder Form von Simplizität widersprechende Klangauffassung verraten. Gleichsam unter der Oberfläche einer bewusst limitierten erzählerischen Dimension kann sich ein enorm intensives, brodelndes, oft überdies durchaus komplexes Spiel emotionaler Schattierungen entfalten.40
Im Falle Kurtágs hat die reduktionistische Tendenz des Komponierens außer mit spezifischen musikalischen Erfahrungen wie besonders der Entdeckung Weberns sowie mit dem Impuls der Psychologin Marianne Stein gewiss auch mit der Begegnung mit Literatur zu tun. Namentlich die intensive Auseinandersetzung mit Samuel Beckett ist hierfür ein wichtiges Beispiel. Dabei begegnete Kurtag Becketts Werken gerade in der Zeit seines ersten, für sein Komponieren so enorm folgenreichen Aufenthalts in Paris – wo er die Uraufführungsproduktion von Fin de partie erlebte.
Mehr als 60 Jahre später, im November 2018, wurde in Mailand eine erste Version der gerade auf diesen Text bezogenen einzigen Oper Kurtágs uraufgeführt. Und es liegt nahe, dieses zwischen 2010 und 2017 komponierte Werk im Horizont des sechs Jahrzehnte zuvor erfolgten Neuanfangs zu betrachten. Gewiss ist Kurtágs Komponieren mittlerweile erheblich ausgefeilter, verfeinerter, kompakter und zugleich souveräner als sein damaliges Op. 1.41 Aber einige wesentliche Merkmale, vor allem die Tendenz zur Verdichtung und die daraus resultierende besondere Intensität, sind doch geblieben. Und zum Charakter des emphatischen chef-d’œuvre, den Kurtág der Beckett-Oper selbst zuerkannte, trägt der damalige Impuls gewiss wesentlich bei.
Denkt man beim Hören von Kurtágs Stück an den reduktionistischen Ansatz, mit dem der im selben Jahr wie er geborene Morton Feldman einst in seinem viel beachteten Musiktheaterstück Neither (1977) auf Beckett reagierte,42 mag man überrascht, womöglich enttäuscht sein. Denn in ähnlicher Weise, wie Kurtág auf Webern reagierte, nämlich mit einer Akzentuierung von Klängen und Gesten, die über Webern hinausgehen und eher an Bartók oder Mahler erinnern, wird von ihm auch Beckett in ein Klanggewand gebracht, das eher auf Vielfalt als auf Kohärenz oder gar Einheitlichkeit zielt. Debussy- oder Mussorgsky-Anklänge, aber sogar auch konkrete Anspielungen auf Walzer, Marsch, Tango oder Organa gehören an vielen Stellen ebenso zum Arsenal dieser Oper wie klassisches Singen. Die für Kurtág schon seit Jahrzehnten charakteristischen aphoristischen Setzungen prägen jedoch auch in diesem in 14 Szenen aufgefächerten Werk das klangliche Gesamtbild. Ausdruckswerte im Bereich des Abgründigen, Dunklen und Rätselhaften werden dabei favorisiert. Wie schon in den großen Vokalzyklen des Komponisten wird hier ein obsessiv anmutendes Wechselspiel zwischen der Stauung von Spannung und deren Entladung entfaltet. Ähnlich wie in den Kafka-Fragmenten erwächst daraus eine ganz spezifische, zum Teil uneigentlich wirkende Dramatik, die das plötzlich aufblitzende Pointieren genauso kennt wie das ebenso plötzliche Herunterblenden oder gar Suspendieren von Expressivität. Das Spiel mit Schattenhaftem sowie mit Erinnerungsspuren ist erneut Kurtágs Lieblingsspiel. Dessen obsessive Seite mag es nahelegen, an Schillers einschlägige Definition des Spiel-Begriffs zu denken, zeigt aber zudem eine durchaus substanzielle Geistesverwandtschaft mit Beckett. Diese Oper ist in diesem Sinne vor allem eines: eine Beckett-Hommage – im kompletten Werktitel Samuel Beckett: Fin de partie, scènes et monologues, opéra en un acte klingt das unüberhörbar an.
Doch ästhetische Konvergenz oder gar Homogenität resultiert, das sei nochmals herausgestellt, aus Kurtágs Beckett-Rezeption genauso wenig wie aus seiner Webern-Rezeption. Denn das Lapidare, Karge und Humorvolle in Becketts originalem Theaterstück kehrt die obsessive Seite gewiss ganz anders hervor, ist von einer anderen Art der Zurückhaltung, einem anderen Grundhabitus erfüllt als Kurtágs üppigere und komplexere Adaption, deren Differenz zu Feldmans Beckett-Oper tatsächlich sehr groß ist. Man mag bei Kurtágs Fin de partie insofern an jene Form der »komponierten Interpretation« denken, wie sie etwa Hans Zender (mit dem Kurtág viele Jahre fast freundschaftlich verbunden war) durch seine kompositorischen Reflexionen von Schuberts Winterreise und von Beethovens Diabelli-Variationen ausgeprägt hat. Beide Reflexionen sind geleitet von der Überzeugung, einem Original, das als Inkunabel der abendländischen Kultur verstanden werden kann, nicht dadurch gerecht zu werden, dass man sich dessen Ästhetik anschmiegt, sondern dass man ihm Kontraste und Brechungen entgegensetzt, womöglich auch Sprachmittel späterer Zeiten.43 Die beim Umgang mit Weltliteratur gewiss unvermeidliche Frage, was durch die klangliche Seite hinzugefügt oder »gewonnen« wird, kann man im Falle von Kurtágs Oper mittels der Idee einer komponierten Interpretation vielleicht am besten beantworten. Dafür spricht im Falle dieses Werkes, dessen Gestaltung durch dieses Konzept des zehn Jahre jüngeren Kollegen womöglich sogar ermutigt wurde,44 außer den Resonanzen anderer Musik besonders auch die Integration des 1976 entstandenen Beckett-Gedichts Roundelay. Dieses ist in englischer Sprache gehalten und wirkt hier umso mehr wie ein »objet trouvé«, wie ein absichtlicher Fremdkörper. Doch Abweichungen vom Habitus des Originals sind auch auf anderen Ebenen erfahrbar. Das relativiert die bei der Uraufführung stark wahrgenommene traditionelle Seite, zu der es gehört, dass Kurtág, verglichen