Название | MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783869168807 |
Der Eindruck des fein Gemeißelten, Exquisiten und zugleich Magischen lässt in Fin de partie, da er von einer permanenten Rätselhaftigkeit grundiert ist, zuweilen an jene berühmte, von duftigem Nebel erfüllte Sfumato-Technik von Leonardo da Vinci denken. Dieses Navigieren im Ungefähren oder Imaginären ist durchaus als Modus der Abweichung vom Traditionellen zu werten. Nicht leicht ist bei alledem allerdings die musikalische Darbietung. Das musikalische Sfumato dieses Stückes erscheint schutzlos gegenüber der Versuchung, es durch breiten Pinselstrich zu übergroßer Kenntlichkeit zu bringen. Dies deutet in diesem Falle wie auch bei anderen Werken von Kurtág auf die Gefahr, die emphatischen und suggestiven Momente, die von den Anspielungen auf die europäische Musiktradition ausgehen, um sie doch in Schwebezustände zu versetzen, zu forcieren und das Ganze zu konventionell und eindimensional erscheinen zu lassen. Gerade diese Gefahr, die insgesamt mehr als bei der Musik vieler anderer Komponisten besteht, dürfte Kurtág bereits seit Jahrzehnten dazu motiviert haben, mit den Ausführenden mit äußerster Akribie und manchmal geradezu unerbittlicher Strenge zu proben, um alles Pauschale zu überwinden.
György Kurtág zielt beim Komponieren beharrlich auf Zwischenräume zwischen reduzierten, offenen und abstrakten Elementen einerseits und den Resonanzen (oder manchmal bloß vagen Schatten) der Tradition andererseits. Etabliert er damit, wie man zuweilen über ihn liest, einen »dritten Weg« zwischen einer musikalischen Avantgarde und einer Tendenz zu konservativem Komponieren? Angesichts der ebenso ungewöhnlichen wie perspektivenreichen konzeptionellen Ähnlichkeiten mit so vielen höchst unterschiedlichen Ansätzen der europäischen Musik, vor allem jener nach 1950, erscheint seine Musik weit eher als Exempel dafür, dass Dichotomien für den Umgang mit neuerer und neuester Musik wenig hilfreich sind. Gehen doch die auf ihnen basierenden Beschreibungsversuche zumeist von viel zu eindimensionalen Erfahrungshorizonten aus – und damit an der klingenden Realität sowie an den Potenzialen, der Vielfalt und den besonders inspirierenden Momenten wichtiger Positionen der Gegenwartsmusik schlichtweg vorbei. Kurtágs Musik ist vom Bewusstsein gerade dieser fruchtbaren Pluralität, die viel mehr mit Verknüpfungen und Verwandlungen als mit Abgrenzungen zu tun hat, unüberhörbar durchdrungen. Und sie lädt in besonderem Maße zur Reflexion über diese so wichtige, für die Entwicklung und Entfaltung der Neuen Musik seit 1950 essenzielle Dimension der europäischen Tradition ein.
1 Brief aus dem Jahre 1796 an Andreas Streicher, in: Ludwig van Beethoven. Briefwechsel, Gesamtausgabe, hrsg. im Auftrag des Beethoven-Hauses Bonn von Sieghard Brandenburg, Bd. 1, München 1996, S. 32. — 2 Friedrich Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: Schiller-Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar 1962 (Unveränderter Nachdr. 2001), S. 382 (22. Brief). — 3 Vgl. seinen Hinweis auf diese Stücke (einschließlich der Pathétique genannten Klaviersonate Nr. 8) im Gespräch mit B. A. Varga, in: »Drei Fragen an György Kurtág«, in: György Kurtág. Drei Gespräche mit Bálint András Varga und Ligeti-Hommagen, hrsg. von Bálint András Varga, Hofheim 2010, S. 16–25, hier S. 21. Und vgl. zu Beethoven: Hans-Joachim Hinrichsen, Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit, Kassel – Stuttgart 2019. — 4 Gerade an diesem Punkte berühren die Parallelen zwischen Kurtágs Komponieren und dem von Lachenmann den Horizont, den Beethovens Werk eröffnete. Freilich ist zu ergänzen, dass es zwischen den beiden Komponisten (die seit Jahrzehnten gut miteinander bekannt sind, in ihren in der Basler Sacher-Stiftung aufbewahrten Briefen ist sogar oft von Freundschaft die Rede) auch deutliche Unterschiede gibt: Erstens wird in Lachenmanns Werk noch dezidierter Beethovens Idee einer Verschränkung von Formaufbau und Form-Dekonstruktion aufgegriffen (und dabei zugespitzt); zweitens kommen darin noch viel stärker Brechungen des »besetzten« Materials und seiner Aura zum Zuge, um so im emphatischen Sinne Erkenntnisprozesse anzuregen. — 5 Ein Beispiel ist das aus dem Konzept eines Solowerkes für Gitarre entwickelte Orchesterwerk Grabstein für Stephan (1978/79/89); v. a. in der Fassung für Orchester mit Solo-Gitarre ist die Spannung zwischen Intimität und einem orchestralen Habitus deutlich erfahrbar. — 6 Näheres hierzu in meinen Beitrag »Hören und Komponieren im Spannungsfeld von Innerlichkeit und Öffentlichkeit«, in: ÖFFENTLICHprivat. (Zwischen)Räume in der Gegenwartsmusik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel, Mainz 2020 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 60), S. 10–33. — 7 Vgl. György Kurtág, »Laudatio auf György Ligeti«, in: Varga (Hrsg.), György Kurtág (Anm. 3), S. 158. — 8 Jürg Stenzl, Luigi Nono, Reinbek 1998, S. 94. — 9 Luigi Nono, [Kommentar zu] Fragmente – Stille. An Diotima, Partitur des Werkes, Ricordi Verlag 1980. — 10 Vgl. etwa Heinz-Klaus Metzger, »Wendepunkt Quartett?«, in: ders./Rainer Riehn (Hrsg.), Luigi Nono, München 1981 (= Musik-Konzepte, Bd. 20), S. 93–112. — 11 Zit. nach Jürg Stenzl, »György Kurtágs Mikrokosmos«, in: Booklet zur CD György Kurtág. Musik für Streichinstrumente, ECM 1598 (München 1998), o. S. Gruppen blieb für ihn (ähnlich wie für Lachenmann) auch später ein zentrales Werk. — 12 György Ligeti, zit. nach Ove Nordvall, György Ligeti. Eine Monographie, Mainz 1971, S. 41. Das Folgende ebd. — 13 Vgl. Kurtág, »Laudatio auf György Ligeti« (Anm. 7), S. 160. — 14 Vgl. ebd., S. 152: »Ich erlebe das Werk als den ersten echten Ligeti – von einer Dichte des Geschehens, Direktheit der Aussage, feiner Balance zwischen Humor und Tragik, die sogar verglichen mit der späteren Entwicklung mir unübertroffen scheinen.« Überdies kann man auch Kurtágs Blick auf Stockhausen als bewussten Widerspruch zu jenen Teilen der Stockhausen-Rezeption lesen, die in Gruppen vornehmlich etwas Strukturelles sahen (auf diesen Widerspruch wird noch zurückzukommen sein). — 15 István Balázs, »Im Gefängnis des Privatlebens. Über zwei neue Werke von György Kurtág«, in: Schweizerische Musikzeitung (1983) 9/10, S. 278. Weitere Werktitel, aus denen Ähnliches spricht, sind What is the Word, Jelek, Játekok és Uzenetek [Zeichen, Spiele und Botschaften] oder Ligatura – Messages to Frances-Marie. (The answered unanswered question). — 16 Vgl. Interview mit Varga vom April 2008, in: Varga (Hrsg.), György Kurtág (Anm. 3), S. 104 (er bezog sich dabei konkret auf Klees berühmtes abstraktes Werk Zeichen in Gelb [1937]). — 17 Im Programmheft der Uraufführung von Fin de partie (Mailand 2018, S. 84 f.) wird auf diesen Klee-Bezug explizit Bezug genommen – und werden auch einige eigene Zeichnungen Kurtágs gezeigt, die ebenfalls von diesem Maler inspiriert erscheinen. — 18 Vgl. Pierre Boulez, Das Fruchtfeld. Paul Klee, übersetzt von Josef Häusler, Berlin 2010 [frz. Original: Le pays fertile. Paul Klee, ed. par Paule Thévenin, Paris 1989]; sowie das Kap. »Paul Klee und Joan Miró als Impulsgeber« meiner Monografie Bernd Alois Zimmermann und seine Zeit, Lilienthal 2019, S. 158–168. — 19 Dies markiert eine Einsicht, ohne die ein Werk wie die überaus ausgedehnten Kafka-Fragmente (1985–87) kaum angemessen verstanden werden kann. — 20 Dies gilt namentlich für Grabstein für Stephan, … quasi una fantasia … (1987/88), Op. 27 Nr. 2 [Doppelkonzert] für Klavier, Violoncello und zwei im Raum verteilte Kammerensembles (1989/90) sowie Samuel