Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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letzte Kaiserkrönung, an der sämtliche Kurfürsten persönlich teilnahmen. Während niederadlige Grafen und Prälaten, die um ihre volle Anerkennung als Reichsstände bemüht waren, auch weiterhin selbst beim Reichstag erschienen, ließen andere, regierende Herren ihre Interessen in der Regel durch gelehrte Juristen vertreten. Viele Reichsstädte scheuten die hohen Kosten, die mit dem Entsenden einer ganzen Delegation verbunden waren, und entsandten einen einzigen Vertreter, der für sie abstimmen sollte. Natürlich behielten persönliche Treffen in einer Zeit, in der ein Brief von Berlin nach Heidelberg bis zu zwei Wochen unterwegs sein konnte, weiterhin große Bedeutung. Im direkten Gespräch konnten die Herren gemeinsame Interessen entdecken – zum Beispiel die Jagd oder den Kunstgenuss –, die unter Umständen jahrelange politische oder sogar konfessionelle Spannungen zu lösen vermochten. Und wenn selbst ein gemeinsamer Gottesdienstbesuch oder der reichliche Genuss alkoholischer Getränke keine gesellige Stimmung herbeizuführen vermochten, hielt die vielschichtige Reichsverfassung immer noch genug Möglichkeiten zum Dialog bereit.

      Dem raschen „Durchdrücken“ eines bestimmten Anliegens zogen die meisten politischen Akteure des Reiches ein geduldiges Taktieren vor: Man wartete ab, bis die Leidenschaften sich etwas gelegt hatten, oder man verschob die Verhandlungen gleich auf eine andere Organisationsebene der Reichsverfassung, wo die Verbündeten zahlreicher oder die Erfolgsaussichten größer waren. Das lange Beratungsverfahren bot die Chance, unliebsame Lasten ganz einfach loszuwerden, indem man sich auf eine Änderung der Umstände berief, die seit Gesprächsbeginn eingetreten sei. Oder man zögerte den Abschluss hinaus, indem man dringenden Rücksprachebedarf mit weiteren Parteien geltend machte. Die Reichspolitik vollzog sich so durch eine Reihe formeller, in unregelmäßigen Abständen stattfindender Versammlungen von Herrschern und Abgesandten. Dazu kamen bei Bedarf weitere, kleinere Zusammenkünfte zur Erörterung spezifischer Fragen etwa des Münzwesens oder der Steuerpolitik. In den Zwischenzeiten wurde der Kontakt durch Boten oder informelle persönliche Treffen aufrechterhalten. Die große Anzahl von – jeweils für sich genommen – recht schwachen Einzelgliedern erschwerte politische Alleingänge, wirkte dem Extremismus entgegen und verwässerte jede Absicht so weit, dass alle sich auf den entstehenden Kompromiss einigen konnten.

      Gebremst durch diesen schwerfälligen Mechanismus, konnte das Heilige Römische Reich nur mit Mühe ein entschlossenes Handeln an den Tag legen, doch verlieh er ihm zugleich eine besondere Stärke, die es dem Reich ermöglichte, den längsten und blutigsten Bürgerkrieg seiner Geschichte zu überstehen. In der modernen Demokratie übernimmt der Staat die Verantwortung dafür, dass die im Mehrheitsverfahren gefassten Beschlüsse auch umgesetzt werden. Die in der Abstimmung unterlegene Minderheit sieht sich dann der ganzen Macht des Staates gegenüber – und wenn sie sich dennoch zum Widerstand entschließt, dann kann die Situation in Gewalt ausarten, denn für eine Missachtung der Staatsgewalt gibt es keine rechtliche Grundlage. Im Alten Reich war eine solche Trennung unbekannt, da Gesetzgebung (Legislative) und Gesetzesvollzug (Exekutive) im Prinzip die gemeinsame Aufgabe von Kaiser und Reichsständen blieben. Die Minderheit stand also stets gegen die Mehrheit – aber niemals gegen das Reich an sich. Es war, als wäre der Prozess der Entscheidungsfindung noch nicht voll ausgereift und bliebe selbst die Mehrheitsmeinung so lange vorläufig, bis auch die Minderheit ein Einsehen gehabt hätte. Dieser Sachverhalt war offenkundig problematisch – ermöglichte er es den Vertretern einer abweichenden Meinung doch, selbst dann noch auf die völlige Umkehrung einer unliebsamen Entscheidung zu hoffen, wenn die Mehrheit, deren Meinungsäußerung so dreist ignoriert wurde, schon längst frustriert war. Das ständige Aufschieben kontroverser Entscheidungen konnte eine endgültige Regelung unmöglich machen. Allerdings blieb die Gefahr eines Gewaltausbruchs erheblich reduziert, solange ein Kompromiss zumindest möglich schien. Außerdem lehnte keine der beiden Seiten das Reich als solches ab, welches so das akzeptierte Forum der Entscheidungsfindung blieb. Wer eine abweichende Meinung vertrat, lehnte dadurch eine bestimmte Auslegung der Gesetze ab, nicht jedoch die Institutionen, die diese Gesetze erließen oder durchsetzten. Während die Bewohner des Heiligen Römischen Reiches also durchaus über die korrekte Interpretation der Reichsverfassung stritten, bestritten sie doch niemals das Existenzrecht des Reiches an sich. Am Ende sollte auch ihr Friedensschluss im Rahmen des Reiches erfolgen.

      Der Prozess der Konfessionalisierung

      Religiöse Spannungen behinderten das Funktionieren der Reichsverfassung und trugen so zum Kriegsausbruch des Jahres 1618 bei. So direkt, wie es vielleicht scheinen mag, war der Zusammenhang jedoch nicht. Das 16. Jahrhundert war deutlich weniger blutig gewesen als weite Teile des Mittelalters, in denen nicht nur endlose Fehden gewütet hatten, sondern sogar Kaiser von ihren Vasallen abgesetzt worden waren. Um die Rolle der Religion dabei zu verstehen, müssen wir zuerst nachvollziehen, wie Debatten über Glaubensfragen mit Disputen über weltliche Herrschaftsansprüche verknüpft werden konnten – und dazu müssen wir den Prozess betrachten, in dem während der Nachreformationszeit die Ausformung unterschiedlicher konfessioneller Identitäten erfolgte. Natürlich bezogen sich alle christlichen Konfessionen auf gemeinsame Wurzeln, entwickelten jedoch bald getrennte Dynamiken: aufgrund von je eigenen Absichten und materiellen Interessen, aufgrund von Ängsten um sozialen Status und Prestige, aber auch aufgrund des psychologischen Bedürfnisses, sich als Mitglied einer Gruppe zu empfinden und dieses Zugehörigkeitsgefühl durch die Abgrenzung von Andersdenkenden zu definieren und festzuschreiben. Die theologischen Kontroversen im Anschluss an die Reformation zwangen die Gläubigen, Stellung zu beziehen, weshalb alle größeren konfessionellen Gruppen sehr schnell dazu übergingen, jeweils unterschiedliche Elemente ihres Glaubens als charakteristisch zu betonen. Der Katholizismus hob die Bedeutung der kirchlichen Organisation hervor und postulierte, dass die römische Kirche als einzige befähigt sei, das Wort Gottes für alle Christen auszulegen. Die Lutheraner unterstrichen die Bedeutung der christlichen Glaubenslehre und nahmen für sich in Anspruch, das Wort Gottes vor der Fehlinterpretation durch eine irregeleitete Kirche zu retten. Der Calvinismus wiederum stand für den Primat der Praxis: Luthers reformatio doctrinae müsse – damit Glaube und Verhalten endlich in Einklang stünden – durch eine reformatio vitae, eine Besserung des Lebens, ergänzt und vollendet werden.18

      Die Katholiken Die Kampfansage Martin Luthers an die Adresse der kirchlichen Hierarchie stand ursprünglich im Zusammenhang mit verbreiteten Bemühungen um eine Erneuerung des Katholizismus, aber Luthers Bruch mit Rom zwang den Papst neben der theologischen auch zu einer politischen Reaktion. Die in den Jahren 1545–63 zu einem Konzil im oberitalienischen Trient einberufenen Kardinäle sollten den Riss schließen, der sich in der europäischen Christenheit aufgetan hatte; am Ende verwarfen sie die evangelischen Glaubenssätze dennoch als häretisch. Die abschließenden Dekrete des Tridentinums konzentrierten sich auf eine theoretische Definition des katholischen Glaubens und formulierten ein Programm zur Auslöschung der Häresie durch die praktische Erneuerung des katholischen Glaubenslebens. Ein Streitpunkt betraf die korrekte Auffassung der Eucharistie und damit die Frage nach dem richtigen Verständnis von Christi Einsetzungsworten über Brot und Wein beim Letzten Abendmahl. Der Grund dafür, dass diesem Punkt so große Bedeutung zugemessen wurde, lag letztlich in der zentralen Bedeutung der heiligen Messe als eines gemeinschaftlichen Aktes der Anbetung, der Priester und Gemeinde vereinte. Die tridentinischen Dekrete bestätigten den Primat der Kirche, indem sie darauf hinwiesen, dass es das liturgische Handeln des Priesters sei, durch das die Hostien geweiht und somit in den Leib Christi gewandelt würden, der hierauf inmitten der versammelten Gemeinde gegenwärtig sei. Eine Akzeptanz der in diesem Sinne verstandenen „tridentinischen Messe“ galt als Zeichen der Unterwerfung unter die Autorität des Papstes – und damit als Zeichen für eine Akzeptanz auch der anderen päpstlichen Lehrentscheidungen. Mit dem tridentinischen Ritus ging ein Wiederaufleben der eucharistischen Frömmigkeit des Mittelalters einher, etwa durch Fronleichnamsprozessionen der Gläubigen, die am Donnerstag nach Trinitatis, begleitet von liturgischen Bannern und Kultbildern, der Monstranz mit dem Sakrament durch die Straßen folgten, nachdem sie zuvor gemeinsam die Messe gefeiert hatten.

      Das Konzil von Trient erließ eine Reihe von Dekreten, die Martin Luthers Kritik, der Klerus sei seiner Vermittlerrolle zwischen Gott und den Menschen nicht gewachsen, zum Schweigen bringen sollten. So wurde die Priesterausbildung erweitert, damit künftige Generationen von Klerikern die Lehren der Kirche besser verstehen und ihre Schäfchen nicht