Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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dem eine endgültige Lösung der Konfessionsfrage ausgehandelt werden sollte. Der zunehmend desillusionierte Kaiser übertrug die Initiative hierfür wiederum seinem Bruder, dem gemäßigteren, pragmatischeren Ferdinand. Und tatsächlich: Beim Reichstag zu Augsburg gelang es diesem 1555, den Augsburger Religionsfrieden zu schließen. Im Jahr darauf übertrug Karl V. die Regierungsgeschäfte des Reiches endgültig auf Ferdinand, der ihm als Kaiser nachfolgen sollte, dankte ab und zog sich nach Spanien zurück. Mit seinem Tod zwei Jahre später zerfiel das Haus Habsburg in eine österreichische und eine spanische Linie. Nur wenige Monate zuvor hatten die Kurfürsten Ferdinand I. als ihren neuen Kaiser anerkannt.

      Für das Luthertum im deutschen Raum bedeuteten diese Entwicklungen eine tiefe Krise. Das umstrittene Handeln etwa eines Moritz von Sachsen stellte den Führungsanspruch des Adels innerhalb der lutherischen Bewegung infrage. Der bewaffnete Aufstand gegen den Kaiser brachte religiöse und politische Loyalitäten in Konflikt. Der Verlust gleich dreier Territorien an Frankreich wurde vom Kaiser nie anerkannt und zeigte allen, was passieren konnte, wenn man zur Verteidigung der Religionsfreiheit auf Hilfe von außen spekulierte. Noch wesentlicher war jedoch: Das Unvermögen, sich auf einen politischen Kurs zu einigen, befeuerte letztlich nur den Streit über Glaubensfragen. Der Tod Luthers fiel 1546 genau in diese Krisenzeit. Sollten seine Anhänger in zentralen Punkten ihres Glaubens Kompromisse eingehen? Oder sollten sie sich dem Kaiser widersetzen und das Reich damit in einen Bürgerkrieg stürzen? So oder so: eine krasse Wahl. Die Pragmatiker schlossen sich Philipp Melanchthon an. Melanchthon verkörperte eine Strömung innerhalb des Luthertums, die vom Humanismus eines Erasmus von Rotterdam geprägt war und sich bereit zeigte, gewisse Details der traditionellen Liturgie wieder einzuführen – wenn dafür im Gegenzug die Lutheraner auf der Reichsebene anerkannt würden. Die Gegner dieser „Philippisten“ nannten sich selbst „Gnesiolutheraner“, vom griechischen gnēsios, „echt“. Sie bestanden auf dem ursprünglichen Augsburgischen Bekenntnis von 1530 und lehnten die revidierte Confessio Augustana variata, die Melanchthon zehn Jahre später mit Luthers stillem Einverständnis ausgearbeitet hatte, strikt ab. Den Gnesiolutheranern schien das Augsburger Interim nur der erste Schritt zu ihrer Auslöschung; überhaupt neigten sie der apokalyptischen Vorstellung zu, der Endkampf zwischen den wahren Christen und dem Antichrist stehe kurz bevor. Als Fanal erschien ihnen der Fall Magdeburgs, das sich dem Interim widersetzt hatte und im November 1552 von kaiserlichen Truppen gestürmt worden war.

      Im Zuge der Konfrontation zersplitterten die Konfliktparteien auch in sich. Die Gnesiolutheraner säuberten ihre Reihen von den extremeren Vertretern eines „echten Luthertums“, die allgemein als „Flacianer“ bekannt waren – nach dem Theologen Matthias Flacius, der wegen seiner kroatischen Herkunft auch „Illyricus“ genannt wurde. Diesen hatten solche ominösen Vorzeichen wie etwa die Geburt fehlgebildeter Kinder davon überzeugt, dass die Menschheit physisch degeneriere und das Weltende unmittelbar bevorstehe. Orthodoxeren Zulauf bekamen die Gnesiolutheraner aus den Reihen der Jungen, die seit der Reformation herangewachsen waren und nun in den neuen, lutherischen Landeskirchen Karriere machten. Die Hoffnung der Philippisten auf einen Ausgleich mit den Katholiken wiesen sie von sich; stattdessen, meinten sie, solle man die Katholiken lieber zum Luthertum bekehren. Aus Unsicherheit kehrten manche Lutheraner entweder in den Schoß der römischen Kirche zurück oder aber wandten sich radikaleren reformatorischen Strömungen zu. Als die führende Macht unter den evangelischen Fürsten des Reiches bemühte sich Kursachsen ab 1573 um Vermittlung zwischen den konkurrierenden Strömungen. Die kursächsischen Hofprediger stellten zwischen 1577 und 1580 das „Konkordienbuch“ zusammen, einen Kanon der wichtigsten lutherischen Bekenntnisschriften, der die gnesiolutherische Sicht der Glaubensdinge bestätigte und die Ansichten der Flacianer – wie auch den größten Teil des Philippismus – verwarf. Der sächsische Kurfürst machte es sich zur Aufgabe, die anderen protestantischen Reichsstände zur Unterzeichnung des Konkordienbuches zu bewegen, was ihm bis 1583 auch bei 20 Reichsfürsten, 30 anderen Herren und 40 Reichsstädten gelang.26

      Die Calvinisten Nicht alle Protestanten waren mit dieser Entwicklung zufrieden. Manche sahen in dem zentralen Bekenntnisbuch der – wie es ihnen schien – aufgezwungenen Orthodoxie keinen liber concordiae, sondern vielmehr einen liber discordiae, ein „Buch der Zwietracht“. Damit meinten sie, dass das wahre Potenzial der Reformation, den christlichen Glauben von Grund auf neu zu gestalten, mit dem Konkordienbuch verschenkt worden sei. Die so dachten und eine „zweite Reformation“ einforderten, eine „Reformation der Reformation“, schlossen sich bald der Lehre des französischen Theologen Johannes Calvin an, dessen Ideen sich nach dem Augsburger Religionsfrieden auch im deutschen Raum verbreiteten. Die Konversion des pfälzischen Kurfürsten zum Calvinismus 1560 gab der neuen Bewegung gehörigen Auftrieb und sorgte außerdem dafür, dass der Calvinismus im Heiligen Römischen Reich vom Adel angeführt wurde – anders als im restlichen Europa, wo er meist die „Konfession des einfachen Mannes“ war. Bis 1618 waren etwa 20 Grafen und kleinere Fürsten dem Beispiel des Kurfürsten gefolgt und hatten den neuen Glauben öffentlich bekannt, doch besaßen unter diesen nur der Landgraf von Hessen (1603) und der brandenburgische Kurfürst (1613) nennenswertes politisches Gewicht.

      Weil die Bezeichnung „Calvinisten“ zu sehr nach einer illegalen Sekte klang – und zudem von ihren lutherischen Kontrahenten geprägt worden war –, nannten sie sich selbst „Reformierte“. Ihr Ziel war es, Luthers Reformation zu vollenden, indem sie auch noch die letzten Überreste des „papistischen Aberglaubens“ beseitigen wollten – in der Liturgie wie in der Dogmatik. Hochaltäre und liturgische Gewänder wurden aus den Kirchen verbannt, Gemälde zerrissen und Skulpturen zerschlagen: Das sollte die Ohnmacht dieser Kultobjekte beweisen. Die reformierten Geistlichen trugen den schlichten Talar der Universitätsgelehrten; sie wollten als Spezialisten wahrgenommen werden, die für Predigt und Lehre bestens ausgebildet waren. Selbst altehrwürdige Glaubenstraditionen wie etwa der Exorzismus bei der Säuglingstaufe oder die Annahme der Realpräsenz Christi im Abendmahl wurden nun abgeschafft beziehungsweise verworfen – die Vorstellung, Leib und Blut Christi könnten durch die Verdauung der Hostie und des Messweins in den Gedärmen der Gläubigen zu Kot und Urin werden, erfüllte die Calvinisten mit Abscheu. Vielmehr wurde das Abendmahl zu einer Gedächtnisfeier, bei der die Gemeindemitglieder um einen Tisch saßen, um gemeinsam eine Mahlzeit einzunehmen; in Ostfriesland trank man dabei sogar Bier statt Wein.

      Allerdings griff auch Calvin – wie zuvor schon Luther – einzelne katholische Ideen auf und entwickelte sie in eine neue Richtung weiter. Die politisch folgenreichste unter diesen Weiterentwicklungen war die ausgeprägte Prädestinationslehre, die dem Calvinismus sein dynamisches Selbstbewusstsein verlieh, in den Köpfen und Herzen mancher Anhänger Calvins zugleich jedoch nagende Zweifel säte. Die frühe Kirche hatte die Ansicht verurteilt, Christen könnten allein durch eigene Verdienste und die Befolgung der christlichen Lehren zum ewigen Heil gelangen. Der heilige Augustinus beispielsweise hatte erklärt, Gott allein entscheide darüber, wer erlöst werde – und da diese Entscheidung bereits vor der Geburt falle, seien manche Menschen eben vorherbestimmt („prädestiniert“), als Gottes „Erwählte“ gerettet zu werden. Diese katholische Lesart der Prädestinationslehre lehnte Calvin strikt ab, schien sie doch zu implizieren, dass Gottes Macht zur Rettung der letztlich Verworfenen schlicht nicht ausreiche. Stattdessen entwickelte Calvin seine eigene Lehre von der „doppelten Prädestination“, der zufolge Gott sowohl die Erwählten als auch die Verworfenen vorherbestimme. Spekulationen der Gläubigen über ihren eigenen Erlösungsstatus missbilligte Calvin: Sie müssten nur auf Gott vertrauen, dann werde ihr Glaube sie von der Sünde wegführen, hin zu einem Leben nach seinen Geboten. Und doch blieb da dieser nagende Zweifel, der die Selbstgewissheit vieler Calvinisten zermürbte: Was, wenn ein persönlicher Schicksalsschlag in Wahrheit ein Beleg dafür war, dass sie nicht zu Gottes Erwählten gehörten?

      Ein neues Lebensmodell sollte diese Vorstellungen begleiten. Calvins Neuorganisation der Genfer Kirche schuf ein Vorbild, das seine Anhänger in ganz Europa nachahmten, wenngleich mit wechselnder Gründlichkeit. Der (hoch)adlige Charakter der „zweiten Reformation“ im Heiligen Römischen Reich brachte mit sich, dass die deutschen Calvinisten in der Regel bereits über protestantisch-landeskirchliche Strukturen verfügten, denn der neue Glaube fand seine Konvertiten vor allem unter Lutheranern, nicht unter Katholiken. Da die lutherischen Landeskirchen noch nicht lange bestanden, vertrauten die gerade konvertierten Neu-Calvinisten ihnen einfach