Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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Adel in der Politik des Reiches keine nennenswerte Rolle mehr.

      Die Reichsstädte Die übergroße Mehrheit der Stadt- und Landgemeinden unterstand in der ein oder anderen Form fremder Jurisdiktion, doch eine Minderheit blieb von herrschaftlicher Lenkung und Kontrolle frei. An erster Stelle sind hier die etwa 80 „Freien und Reichsstädte“ zu nennen, die größtenteils in Schwaben und Franken lagen, den alten Kernlanden des Reiches im Süden und Westen. Zu ihnen zählten die meisten urbanen Zentren des Reiches, namentlich Augsburg, mit rund 48 000 Einwohnern größte Stadt des Reiches und etwa viermal so groß wie Berlin zur selben Zeit. Augsburg führte eine kleine Spitzengruppe aus Nürnberg, Hamburg, Köln, Lübeck und Straßburg an, die jeweils rund 40 000 Einwohner hatten. Es folgten Städte wie Frankfurt, Bremen, Ulm und Aachen mit jeweils rund 20 000 Einwohnern sowie eine wesentlich größere Anzahl von Reichsstädten wie Nordhausen, Heilbronn, Rothenburg oder Regensburg, deren Einwohnerzahl unter 10 000 lag. Die meisten zählten sogar weniger als 4000 Einwohner, obwohl manchen (wie etwa Schwäbisch Hall) eine stattliche Anzahl von Dörfern der Umgebung unterstand. Der Einfluss der Reichsstädte beruhte zum Teil auf ihrer unmittelbaren Beziehung zum Kaisertum, die sie vor der Eingliederung in die umgebenden Territorien bewahrte. Jeder, der im Jahr 1619 den Vogt des Dorfes Eriskirch am Bodensee aufsuchte, erblickte über dem Portal des Amtshauses das Emblem der Reichsstadt Buchhorn, des heutigen Friedrichshafen (das noch immer dasselbe Wappen führt). Das „redende“ buchhornische Wappen – eine Buche und ein Signalhorn – zeigte an, dass Eriskirch unter der Herrschaft der nahe gelegenen Reichsstadt stand, die das Dorf 1472 erworben hatte. Der prominent darüber platzierte Reichsadler symbolisierte die Loyalität der Buchhorner Bürgerschaft zu Kaiser und Reich, wobei der doppelköpfige Reichsadler für die Verbindung der Kaiserkrone mit dem römisch-deutschen Königtum stand. Rund um den Reichsadler war die Ordenskette des Ordens vom Goldenen Vlies zu sehen, eines 1429 zum Schutz und zur Verteidigung der Kirche gestifteten, ursprünglich burgundischen Ritterordens. Die Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies war die höchste Auszeichnung, die die Habsburger zu vergeben hatten; sie unterstrich den Anspruch ihrer Familie auf die traditionelle Rolle des Kaisers als Hüter der Christenheit. Auf der Brust des Adlers verwies der Bindenschild in den rot-weiß-roten Farben Österreichs noch einmal auf die Habsburger, auf deren Anspruch auf die Kaiserkrone und die Zugehörigkeit der Stadt Buchhorn zu dem habsburgisch regierten Reich.17

      Die Reichsverfassung Der Kaiser und seine Vasallen teilten sich die Lenkung des Reiches, doch angesichts des hierarchischen Charakters der Reichsverfassung konnten die damit verbundenen Rechte und Pflichten nur ungleich verteilt sein. Der Kaiser war oberster Lehnsherr und Souverän; er verfügte über eine beträchtliche Anzahl von Hoheitsrechten, die sich nicht von seiner Herrschaft über bestimmte Territorien herleiteten, sondern direkt mit der Kaiserkrone verbunden waren. Unter diesen stachen die sogenannten Reservatrechte hervor, die der Kaiser ohne Mitwirkung oder Zustimmung des Reichstages ausüben durfte. Der genaue Umfang der kaiserlichen Vorrechte blieb absichtlich vage – schließlich hätte eine rechtliche Festlegung den misslichen Eindruck erweckt, dem universalen Herrschaftsanspruch des Kaisers seien irgendwelche Grenzen gesetzt. Allerdings sahen sich der Kaiser und die reichsunmittelbaren Fürsten gezwungen, zur besseren Bewältigung dringlicher Aufgaben die Einzelheiten ihrer Lehnsbeziehung genauer zu bestimmen. Hierdurch entstanden zusätzliche Autoritäten auf diversen niederen Ebenen der Reichshierarchie, die zwischen dem Kaiser und den einzelnen Bestandteilen seines Reiches vermittelten. Wenn mit der Kaiserkrone auch ein habsburgisches Quasi-Monopol verbunden schien, so musste die Betonung doch auf dem „Quasi-“ liegen: Einen tatsächlichen Rechtsanspruch auf den Thron besaßen die Habsburger nicht. Stattdessen mussten sie vor jeder Kaiserwahl mit den Kurfürsten verhandeln, um die Bestätigung des jeweils nächsten habsburgischen Thronanwärters sicherzustellen. Man konnte die Kurfürsten nämlich dazu bewegen, einen bereits vorab designierten Kaiser anzuerkennen, der als „erwählter römischer König“ bezeichnet wurde und der nach dem Tod seines Vaters die Herrschaft übernehmen würde. Andernfalls war ein Interregnum vorgesehen, dessen Einzelheiten die Goldene Bulle regelte: Die kaiserlichen Vorrechte würden in einem solchen Fall vom sächsischen (im Norden) beziehungsweise dem pfälzischen Kurfürsten (im Süden) ausgeübt, bis sich die sieben Kurfürsten innerhalb einer bestimmten Frist – die die Goldene Bulle ebenfalls festlegte – versammelt haben würden, um unter dem Vorsitz des Mainzer Kurfürsten (in seiner Eigenschaft als Reichserzkanzler) einen neuen Kaiser zu wählen. Hierfür konnte freilich nicht jeder Beliebige kandidieren; das Kaiseramt war schließlich keine repräsentative Staatspräsidentschaft auf Lebenszeit, sondern die Würde eines souveränen Monarchen. Gewisse „monarchische Qualitäten“ (nicht zuletzt der Abstammung) musste man also, dem Verständnis der Zeit entsprechend, schon mitbringen.

      Das Anwachsen seiner Macht und Güter prädestinierte das Haus Habsburg geradezu, einen Kaiser nach dem anderen zu stellen – schließlich autorisierten die kaiserlichen Prärogativen ihren Träger zwar, weitreichende Exekutiventscheidungen zu fällen, gaben ihm aber nur spärliche Mittel an die Hand, diese auch durchzusetzen. Die Kurfürsten erwarteten deshalb vom Kaiser, dass dieser nicht nur zur Finanzierung des kaiserlichen Hofes und diverser Reichsinstitutionen seinen eigenen Besitz aufwenden, sondern auch bei der Verteidigung des Reiches gegen die Osmanen und andere, christliche Feinde einen Großteil der Kosten tragen würde. Allerdings erkannten die Kurfürsten, dass Veränderungen in der Kriegführung dies zunehmend unmöglich machten, wenn nicht auch der Rest des Reiches sein Scherflein beitrug. Die Reichsfürsten und -städte sahen dies ebenfalls ein, und die Bereitschaft, Reichssteuern zu zahlen, wurde zur entscheidenden Voraussetzung der Reichsunmittelbarkeit: Wer Reichssteuern zahlte, war anders als die große Mehrheit der Grundherren und Städte, die lediglich in die Staatskassen der ihnen übergeordneten Territorien einzahlten. Zahlungen in die Reichskasse waren als „Römermonate“ bekannt – nach den Kosten der Eskorte, die Karl V. zu seiner Krönung nach Rom geleiten sollte. Ein jedes Territorium wurde nach einem Schlüssel veranlagt, durch den sein spezifischer Zahlungsanteil am Monatssold von 24 000 Soldaten festgelegt wurde. Abgaben wurden entweder als Bruchteile oder als Vielfaches dieses Basistarifs erhoben; eingetrieben wurden sie entweder als Einmalzahlungen oder in Raten über mehrere Monate, manchmal sogar Jahre.

      Bis 1521 war die Einschreibung in das Reichssteuerregister zum entscheidenden Faktor dafür geworden, ob ein bestimmtes Territorium auf den Reichstagen vertreten war oder nicht, mithin ob es als Reichsstand anerkannt wurde oder nicht. Der Reichstag war kein Parlament im heutigen Sinne, sondern verkörperte das frühneuzeitliche Repräsentationsprinzip: Sobald es um Angelegenheiten ging, die alle betrafen, war der Monarch verpflichtet, sich mit den „edelsten“ seiner Untertanen – dem Adel – darüber zu beraten. Entsprechend der hierarchischen Gesamtstruktur des Reiches fanden die Beratungen des Reichstages in drei gesonderten Kollegien (oder Kurien) statt: Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte blieben in ihren Kurien jeweils unter sich. Insbesondere die Zusammensetzung des Reichsfürstenrates befand sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch im Wandel; die bestehenden Mitglieder des auch als Fürstenbank bekannten Gremiums, die über jeweils eine Virilstimme verfügten, zögerten, den wesentlich zahlreicheren Grafen und Prälaten, die sich bislang eine Handvoll Stimmen (die sogenannten Kuriatstimmen) geteilt hatten, einen gleichberechtigten Platz in ihren Reihen zu gewähren. Die Initiative im Reichstag lag beim Kaiser, der die Themen der Beratung vorschlug. Im Anschluss an diese fällten die einzelnen Kurien einen Mehrheitsentscheid, wobei der Reihe nach jeder Stimmberechtigte seine Meinung zum Gegenstand kundtat (oder durch einen bevollmächtigten Vertreter mitteilen ließ); es galt eine strenge Rangfolge. Anschließend berieten sich jeweils zwei Kollegien miteinander: In der Regel sprachen die Kurfürsten zuerst mit dem Reichsfürstenrat, bevor sie sich den Vertretern der Reichsstädte zuwandten. Wenn dann schließlich – in einem nicht selten langwierigen Prozess – ein für alle Seiten akzeptabler Kompromiss formuliert worden war, wurde dieser gemeinsame Beschluss aller drei Kurien als „Empfehlung“ dem Kaiser vorgelegt – und in der Tat konnte dieser frei entscheiden, ob er seine Zustimmung erteilte oder nicht. Stimmte er zu, so wurde der betreffende Entschluss als „Reichsschluss“ in den bei Ende des Reichstages erlassenen „Reichsabschied“ aufgenommen und erlangte so bindende Wirkung. Als Reaktion auf neu entstandene Probleme hatte sich das System der Reichstage nach 1480 verhältnismäßig rasch herausgebildet, und seine Gesetzgebung schuf Präzedenzfälle, die dann in die Reichsverfassung aufgenommen wurden. Wenngleich der Kaiser formal nicht verpflichtet