Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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die Reichstagsberatungen dem Kaiser, sich ein Bild von der Meinungs- und Stimmungslage unter den Reichsständen zu machen, und verliehen seinen Entscheidungen größere Legitimität. Obwohl der Reichstag eine so schwerfällige Institution war, beriefen die Kaiser des 16. Jahrhunderts doch mit einiger Regelmäßigkeit Reichstage ein, die ein insgesamt beträchtliches Korpus von Gesetzen verabschiedeten sowie – wegen der kostspieligen Verteidigung gegen die Osmanen – immer regelmäßigere Steuerzahlungen bewilligten (siehe Kapitel 4).

      Zusätzliche Abgaben wurden erhoben, um die andere verfassungsmäßige Hauptaufgabe des Reichstags wahrzunehmen, nämlich die innere Ordnung des Reiches zu sichern sowie Streit unter den Reichsfürsten und -städten zu schlichten. Der Wormser Reichstag von 1495 beschloss einen „Ewigen Landfrieden“, wodurch der Kaiser und alle seine Vasallen verpflichtet wurden, ihre Streitigkeiten zur unabhängigen Schlichtung vor ein neu geschaffenes Höchstgericht, das Reichskammergericht, zu bringen, das ab 1527 in der Reichsstadt Speyer residierte. Der Kaiser durfte lediglich den Präsidenten des Reichskammergerichts sowie einige seiner Beisitzer ernennen. Die Reichsstände schlugen dann weitere Kandidaten vor, die von den amtierenden Richtern bestätigt werden mussten. Der Amtseid, den sie bei Antritt ihrer Tätigkeit zu leisten hatten, entband sie von jeglichen Pflichten, die sie einem territorialen Landesherrn gegenüber haben mochten. Das Rechtssystem des Heiligen Römischen Reiches hat in der Nachwelt einen ziemlich schlechten Ruf gehabt, nicht zuletzt, weil es an der Lösung jener Probleme scheiterte, die schließlich den Dreißigjährigen Krieg herbeiführten. Allerdings erlaubte seine Weiterentwicklung dem Reich einen Fortschritt von brutaler Selbstjustiz zu einem immerhin einigermaßen geregelten Fehdewesen und schließlich zur friedlichen Klärung vor Gericht. Dort ging es nicht so sehr darum, eine absolute Wahrheit oder Schuld festzustellen, sondern allseits akzeptable – und folglich auch umsetzbare – Lösungen zu finden. In den 1520er-Jahren wurde das Rechtssystem erweitert und befasste sich fortan auch mit Beschwerden und Unruhen, die innerhalb einzelner Territorien aufgekommen waren, sowie mit Streitigkeiten zwischen Territorien. Die Kurfürsten und die größeren Reichsstände schufen zwar eigene Gerichtswesen, die teils außerhalb der Jurisdiktion des Reichskammergerichts lagen; Berufungen an die und Interventionen seitens der Reichsgerichtsbarkeit blieben jedoch weiterhin möglich. Der Kaiser akzeptierte die weitgehende Unabhängigkeit des Reichskammergerichts nicht zuletzt deshalb, weil er selbst noch ein weiteres Gericht ins Leben gerufen hatte. Dieser Reichshofrat residierte in Wien und befasste sich mit allen Fragen, welche unmittelbar die kaiserlichen Vorrechte betrafen. Da jene aber notorisch unklar definiert waren, ließen sich auf ihrer Grundlage auch Verfahren in Angelegenheiten eröffnen, für die eigentlich das Reichskammergericht zuständig sein sollte. Wenngleich die Schaffung des Reichshofrates die Möglichkeit von Zuständigkeitskonflikten zwischen den beiden höchsten Gerichten des Reiches heraufbeschwor, schlug doch in Wien nun so etwas wie das „zweite juristische Herz“ des Heiligen Römischen Reiches, das im Fall einer Überlastung des Reichskammergerichts mit einem „erhöhten Puls“ für Abhilfe sorgen konnte.

      Die Entscheidungen der Gerichte wurden durch regionale Institutionen vollstreckt, die auf der Ebene zwischen dem Reich und seinen Territorien angesiedelt waren. Die einzelnen Territorien wurden einem von zehn Reichskreisen zugeordnet, aus denen Kandidaten für das Reichskammergericht ausgewählt und die zu dessen Finanzierung notwendigen Beiträge erhoben wurden. Außerdem waren auf der Ebene der Reichskreise spezielle Reichssteuern und Truppenkontributionen fällig, die zur Wahrung des inneren Friedens oder zur Verteidigung des Reiches nach außen herangezogen werden konnten. Bis 1570 hatten sich im Reichsrecht genügend Normen herausgebildet, um einem autonomen Vorgehen der Reichskreise beträchtlichen Handlungsspielraum zu eröffnen. Jeder Reichskreis hatte seine eigene Versammlung, den Kreistag, auf dem jedoch – anders als auf dem Reichstag – jeder Vertreter eine eigene Stimme hatte, die in einem gemeinsamen Plenum zum Tragen kam; somit erhielten die kleineren Stände ein proportional größeres Gewicht. Die Kreistage wurden entweder vom Kaiser oder durch einen Reichsabschied einberufen, oder sie trafen sich auf Initiative der dazu in der jeweiligen Region berechtigten Landesfürsten (in der Regel waren dies ein weltlicher und ein geistlicher Fürst je Reichskreis). Die Kreistage boten ein zusätzliches Forum zur Klärung von Streitigkeiten, Formulierung politischer Strategien und zur Abstimmung des sich daraus ergebenden Handelns. Ihre Entwicklung unterschied sich in Abhängigkeit davon, wie regelmäßig sie von ihren Mitgliedern in Anspruch genommen wurden. Die Gebiete der Habsburger waren in einem Burgundischen und einem Österreichischen Reichskreis zusammengefasst, die naturgemäß habsburgischer Kontrolle unterstanden; die böhmischen Territorien waren von der Organisation der Reichskreise ausgenommen. Die vier rheinischen Kurfürsten schlossen sich zum Kurrheinischen Reichskreis zusammen, obgleich große Teile ihrer Territorien fern der Rheinebene zerstreut lagen. Die kleineren Territorien des Westens und des Südens fanden sich in dem kompakteren Niederrheinischen (oder Westfälischen), dem Oberrheinischen, Schwäbischen, Fränkischen sowie dem Bayerischen Reichskreis vereint. Letzterer wurde vom Herzogtum Bayern dominiert, dem mit 800 000 Einwohnern größten Territorium, das reicher als die Kurfürstentümer war (und 1623 selbst zum Kurfürstentum aufstieg). Allein die Existenz 13 weiterer Kreisstände – darunter der Erzbischof von Salzburg – verhinderte eine völlige Alleinherrschaft des bayerischen Herzogs über den Bayerischen Reichskreis. Die Gebiete im Norden unterteilten sich in den Obersächsischen Reichskreis im Osten und den Niedersächsischen Reichskreis im Westen. Der erstgenannte wurde von den Kurfürstentümern Brandenburg und Sachsen dominiert; im zweiten herrschte größeres Gleichgewicht zwischen einer ganzen Reihe von Bistümern und Herzogtümern.

      Die politische Kultur des Alten Reiches Die meisten Inhaber von Reichslehen waren somit zugleich Reichsstände und Kreisstände, das heißt, sie waren sowohl im Reichstag als auch in ihrem jeweiligen Kreistag vertreten. Der Kaiser konnte also entweder in seiner Eigenschaft als ihr unmittelbarer Lehnsherr an sie herantreten, oder er bediente sich dazu seiner Vertreter im Reichstag, an den Reichsgerichten oder bei den Kreistagen. Über die allermeisten Einwohner seines Reiches konnte der Kaiser, da diese unter der Herrschaft eines oder mehrerer ihm untergeordneter Landesfürsten lebten, nicht direkt verfügen – die Untertanen in seinen eigenen Erblanden bildeten die Ausnahme. Durch ihre Mitwirkung in den diversen Institutionen des Alten Reiches konnten die Territorialfürsten als Sachwalter der „teutschen Libertät“ auftreten, wie sie in der Reichspolitik des 17. Jahrhunderts aufgefasst wurde. Bei diesem Freiheitsverständnis, das keineswegs mit dem Gedanken einer Gleichheit oder Brüderlichkeit aller Untertanen einherging, drehte sich alles um eine Reihe von ständischen Libertäten, durch die einer rechtlich bestimmten, als Körperschaft greifbaren Gruppe von Individuen bestimmte Privilegien, Exemtionen und Rechte zugesprochen wurden. Die Territorialherren erfreuten sich – in ihrer Eigenschaft als Reichsstände – einer Reihe von Sonderrechten, die sie vor ihren Vasallen oder Untertanen auszeichneten. So besaßen sie etwa das Privileg, vom Kaiser bei bestimmten Entscheidungen zurate gezogen zu werden und somit an der gemeinschaftlichen Regierung des Reiches beteiligt zu sein. Die reichsständischen Freiheiten brachten jedoch auch Pflichten mit sich – so etwa die Pflicht, Rechte und Selbstbestimmung des eigenen Territoriums, der eigenen Untertanen und ihrer Gemeinschaften zu verteidigen. An diesem Punkt tritt das ausgeklügelte System der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle, durch das der römisch-deutsche „Reichskoloss“ sich auszeichnete, am deutlichsten zutage. Jeder Grundherr oder Landesfürst im ganzen Reich war darauf bedacht, seinen jeweiligen Platz in der Reichshierarchie zu behaupten. An so etwas wie Unabhängigkeit dachte keiner. Selbst den größten Kurfürstentümern mangelte es an den notwendigen Ressourcen für eine unabhängige politische Existenz. Stattdessen bezogen sämtliche Landesherren ihre Autorität und ihr Ansehen aus ihrer Zugehörigkeit zum römisch-deutschen Kaiserreich, denn diese erhob sie zugleich über die Adligen anderer Länder, die in ihren Augen „nur“ Untertanen „bloßer“ Könige waren. Allerdings unterschieden die Vertreter des reichsständischen Adels durchaus zwischen Kaiser und Kaiserreich: Loyal waren sie beiden gegenüber, aber ihre Bindung an den Kaiser war persönlicher Natur; dem Reich fühlten sie sich als kollektive Körperschaft verpflichtet.

      Im 16. Jahrhundert setzte überall in Europa – und also auch im Heiligen Römischen Reich – eine Transformation der politischen Systeme ein, in deren Verlauf die persönlichen Beziehungen zu einem Lehnsherrn zunehmend durch die Subordination unter einen abstrakten,