Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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Herrschaft des Kaisers über die zahlreichen ihm untertanen Territorien war ausgeschlossen. Stattdessen wurde die kaiserliche Autorität über das Reich durch eine Stufenfolge von Zuständigkeiten und Befugnissen vermittelt, die letztlich auf mittelalterlich-feudale Ursprünge zurückging. Der Kaiser war der oberste Lehnsherr einer Heerschar ihm untergebener, geringerer Autoritäten, die untereinander ebenfalls durch Lehnseide verbunden waren. Mit der Zeit waren die Rangunterschiede zwischen den verschiedenen Fürsten des Reiches immer schärfer hervorgetreten, insbesondere weil sich das Reich in den Jahren nach 1480 einer Vielzahl von inneren wie äußeren Problemen hatte stellen müssen. Namentlich war es zu einer grundsätzlichen Trennung gekommen zwischen jenen Autoritäten, Fürsten und anderen, die dem Kaiser direkt unterstellt waren – die reichsunmittelbar waren –, und jenen mittelbaren Reichsständen, die einer dem Kaiser nachgeordneten Instanz unterstanden.

      Die reichsunmittelbaren Landesherren waren im Besitz kaiserlicher Volllehen (Reichslehen), die ihnen der Kaiser in seiner Eigenschaft als ihr Lehnsherr verliehen hatte. Diese setzten sich in der Regel aus mehreren sogenannten Unter- oder Afterlehen zusammen, die ihrerseits von Lehnsleuten der reichsunmittelbaren Landesherren – mittelbaren Lehnsleuten des Kaisers also – gehalten wurden, oder aus Jurisdiktionen, die andere, dem kaiserlichen Lehnsnehmer untergebene Körperschaften innehatten. Auf diese Weise waren Städte, Dörfer und andere Gemeinschaften durch ein komplexes, juristisch und politisch definiertes Netz von Rechten, Privilegien und Machtbefugnissen miteinander verknüpft. Diese Rechte wiederum verliehen ihren Inhabern Anspruch darauf, von ihren Untergebenen respektiert und loyal unterstützt zu werden, sowohl materiell als auch mit Dienstleistungen. Der Grundherr eines Dorfes etwa, dem dort auch die (niedere) Gerichtsbarkeit zukam, durfte von dessen Bewohnern Folgsamkeit und Treue erwarten, dazu einen Anteil ihrer Ernte sowie – in einem bestimmten Umfang – auch ihrer Zeit und Arbeitskraft zur Erfüllung gewisser Aufgaben. Im Gegenzug erwartete man von ihm, dass er seine Untertanen gegen äußere Übel verteidigen, ihr Gemeinwesen als solches auch im weiteren Rahmen des Reiches beschützen sowie – im Innern – Streitigkeiten schlichten und ernstere Probleme lösen werde.

      Die Bedeutung einer solchen Gemeinschaft als sozialer und politischer Raum ging damit einher, dass alle diese Rechte letztlich im Grund und Boden verwurzelt waren: Wem sie zukamen, der hielt auch die Macht über das dazugehörige Gebiet in Händen. Herrschaftstitel verschiedener Herkunft und Qualität schlossen sich dabei nicht zwangsläufig aus: Wer im Besitz eines reichsunmittelbaren, mithin vom Kaiser verliehenen Lehens war, konnte zugleich auch Lehnsnehmer eines anderen Adligen sein. Auch hatte der große Einfluss und Reichtum der Kirche ein Heer von geistlichen Herren hervorgebracht, die traditionell eine enge Verbindung zum Kaisertum pflegten und sich deshalb gemeinsam auch als „Reichskirche“ betrachteten. Die materielle Grundlage dieser Reichskirche bestand in den Siedlungen und Gütern, die ihr kraft kaiserlicher und anderer Lehen und Hoheitsrechte unterstellt waren. Allerdings waren diese territorialen Machtbefugnisse der Kirche keineswegs deckungsgleich mit ihrem geistlichen Machtbereich, der sich auch auf die Kirchsprengel in den Territorien weltlicher Herrscher erstreckte. Schließlich konnten sich mehrere Herren die Macht in ein und demselben Hoheitsbereich teilen oder innerhalb eines Geltungsbereiches je unterschiedliche Hoheitsrechte halten.

      Die meisten der beschriebenen Rechte wurden durch Erbschaft erworben und innerhalb der 50 000 bis 60 000 Adelsfamilien des Reiches weitergegeben. Die überwiegende Mehrheit dieser Familien gehörte dem Landadel an, dessen niedere Gerichtsbarkeit der höheren Gerichtsbarkeit des (wesentlich exklusiveren) reichsunmittelbaren Adels unterstellt war. Insgesamt gab es auf der obersten Ebene der Lehnsordnung etwa 180 weltliche und 130 geistliche Lehen, die zusammen die Territorien des Reiches ausmachten. Ihre Größe variierte beträchtlich, wobei kein direkter Zusammenhang zwischen der Ausdehnung eines bestimmten Territoriums und seinem politischen Einfluss bestand. In der Entstehungszeit des Heiligen Römischen Reiches hatte sich dessen Bevölkerung vor allem im Süden und Westen des deutschen Sprachraums konzentriert. Die Bevölkerungsdichte in diesen Gebieten ermöglichte es, dort eine größere Anzahl von Grundherrschaften aufrechtzuerhalten als im dünner besiedelten Norden und Osten; die letztgenannten Regionen traten erst Anfang des 16. Jahrhunderts vollständig in den Geltungsbereich der Reichsverfassung ein.

      Bis 1521 hatte die Konsolidierung der Reichsverfassung die weltlichen und geistlichen Herren in drei Gruppen gegliedert. Die kleinste, aber ranghöchste bildeten die sieben Kurfürsten, also jene sieben Reichsfürsten, deren Lehen in der Goldenen Bulle von 1356 mit dem exklusiven Recht verknüpft worden waren, den Kaiser zu „küren“. Die herrschende Gesellschaftsordnung räumte dem Klerus als „erstem Stand“ den Vorrang noch vor dem Adel ein – erfüllten doch die Kleriker durch ihr beständiges Gebet für das Seelenheil der ganzen Christenheit eine unentbehrliche gesellschaftliche Funktion. Der ranghöchste Kurfürst war deshalb der Erzbischof von Mainz, gefolgt von seinen Amtsbrüdern in Köln und Trier; keiner der drei herrschte über mehr als 100 000 Untertanen. Unter den weltlichen Kurfürsten stand der böhmische König an erster Stelle (Böhmen war das einzige Territorium des Reiches, das mit einer eigenen Königswürde verbunden war, siehe Kapitel 3). Das Königreich Böhmen war außerdem das größte Kurfürstentum; es erstreckte sich über 50 000 Quadratkilometer, und seine 1,4 Millionen Einwohner lebten in 102 Städten, 308 Marktgemeinden, 258 Burgen und Schlössern sowie 30 363 Dörfern und Weilern, die insgesamt 2033 Pfarrkirchen vorweisen konnten. Das zweitgrößte – wenn auch rangniedrigste – Kurfürstentum war Brandenburg mit 36 000 Quadratkilometern Fläche, aber nur 350 000 Einwohnern. Kursachsen war kleiner, mit rund 1,2 Millionen Einwohnern aber dichter bevölkert. Die Kurpfalz, rangmäßig an zweiter Stelle hinter den Ländern der böhmischen Krone platziert, erstreckte sich über insgesamt rund 11 000 Quadratkilometer mit etwa 600 000 Einwohnern, die sich auf zwei räumlich getrennte Territorien verteilten: die am Rhein gelegene Unter- oder Rheinpfalz sowie die nördlich des Herzogtums Bayern gelegene Oberpfalz. Zusammen herrschten die Kurfürsten über etwa ein Fünftel des Gebietes und rund ein Sechstel der Bewohner des Heiligen Römischen Reiches.

      Die restlichen Reichslehen lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen. Zu der ersten gehörten 50 geistliche und 33 weltliche Lehen, deren Inhaber im Fürstenrang standen (wobei ihre konkreten Titel und Adelsprädikate vom Bischof und Erzbischof über den Herzog bis zum Landgrafen und Markgrafen reichten). Die Lehen der weltlichen Fürsten wurden formal durch Erbschaft oder Kauf erworben; in beiden Fällen war die Zustimmung des Kaisers nötig, um die Übertragung zu legitimieren. Die geistlichen Fürsten wurden von den Dom- oder Stiftskapiteln der jeweils bedeutendsten Kirche ihres Territoriums gewählt. Auch dabei musste, zumindest der Form nach, der Kaiser sowie in diesem Fall zusätzlich der Papst seine Zustimmung geben. Die Anzahl der Reichsfürsten lag stets unter der Gesamtzahl der Reichslehen, da sowohl die Kurfürsten zusätzliche Lehen an sich ziehen konnten als auch andere Reichsfürsten mehr als ein Reichslehen zur selben Zeit halten konnten; selbst Fürstbischöfe besetzten zuweilen mehr als einen Bischofsstuhl zugleich. Unter den Fürstendynastien des Reiches erwiesen sich die Habsburger als die Geschicktesten, was diese Art der Einflussmaximierung betraf: Schließlich herrschten sie nicht nur über ihre österreichischen Erblande, sondern auch über das Königreich Böhmen mit seinen Nebenländern sowie über ihre 17 niederländischen Provinzen – alles in allem über ein Territorium von 303 000 Quadratkilometern, was rund 40 Prozent der Gesamtfläche des Heiligen Römischen Reiches entspricht. Einschließlich der 1526 unter habsburgische Herrschaft gekommenen ungarischen Gebiete lag die Zahl der habsburgischen Untertanen um 1600 bei über sieben Millionen – gegenüber rund 17 Millionen Einwohnern im restlichen Reichsgebiet. Diese Hausmacht war es, die den Habsburgern zwischen 1438 und dem Ende des Alten Reiches 1806 im Ringen um den Kaiserthron eine beinah unangefochtene Monopolstellung sicherte. Den anderen Fürsten, von denen die wenigsten über mehr als 100 000 Untertanen geboten, waren die Habsburger haushoch überlegen.

      Zur zweiten Klasse von Reichslehen, der etwa 220 Lehnsnehmer angehörten, zählten wesentlich kleinere Territorien, deren Inhaber nicht im Fürstenrang standen. Sie waren Grafen, Prälaten oder sonstige Herren; selten hatten sie mehr als ein paar Tausend Untertanen. Daneben gab es noch rund 400 niederadlige Familien – Ritter und Freiherren –, die als Reichsritterschaft zusammen 1500 weitere kaiserliche Lehen hielten. Jeweils für sich betrachtet, waren ihre Herrschaften auch nicht größer als die