Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

Читать онлайн.
Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



Скачать книгу

zahlreichen beigegebenen Kupferstiche liefern mit ihren Mauern, Kirchtürmen und Herrschaftsbauten eine perfekte Veranschaulichung der drei Elemente, aus denen sich jedes der abgebildeten Gemeinwesen zusammenfügte, und lassen zudem erkennen, wie diese mit den Machtstrukturen des gesamten Reiches zusammenhingen.

      In der Darstellung wird jeder Ort deutlich von der ihn umgebenden Landschaft abgesetzt; die Merian-Ansichten zeigen die Stadtgemeinschaft in ihrem klar umgrenzten sozialen Raum. Die meisten der gezeigten Städte und Siedlungen liegen an Flüssen, die für die Kommunikation mit dem Rest der Welt unerlässlich waren, aber auch zur Abfallentsorgung und als erste Barriere gegen Angreifer dienten. Anders als die meisten heutigen Flüsse folgten die Flüsse des 17. Jahrhunderts noch ihrem natürlichen Lauf. Während der Schneeschmelze oder nach starkem Regen schwollen sie an, traten über die Ufer und ergossen sich über Auen und Niederungen. Größere Flüsse änderten mit der Zeit ihren Lauf, schufen Inseln und Nebenarme, die kluge Brückenbauer in die Planung ihrer weit gespannten Meisterwerke einbezogen. Aus dem Mittelalter stammende Mauern umschlossen Städte und größere Dörfer, nach außen oft ergänzt durch einen Verteidigungsgraben, der mit dem Wasser aus Flüssen und Bächen gefüllt wurde. Zu diesen hohen, aber vergleichsweise dünnen Mauern mit ihren markanten Türmen und Torwerken gesellten sich mit der Zeit weitere, modernere Verteidigungsanlagen, die vor der Stadt angelegt wurden, um diese vor Artilleriebeschuss zu schützen. Einige Städte hatten sich schon im 16. Jahrhundert derartige Befestigungen zugelegt, aber in den meisten Fällen geschah dies erst in den zunehmend kriegsgeprägten 1620er-Jahren – entweder durch völlige Neubauten oder durch die Modernisierung bestehender Anlagen. Die nunmehr dicken, gedrungenen Festungswälle mit ihren mächtigen, steinernen Bastionen erstreckten sich in einigem Abstand rings um den mittelalterlichen Stadtkern. Neuere Vorstädte schlossen sie bisweilen ein, mitunter wurden diese aber auch rigoros niedergerissen, um ein rundherum freies Schussfeld zu erhalten. Nur ein geübtes Auge konnte die ausgeklügelten geometrischen Muster erkennen, mit denen die neuen Befestigungsanlagen die Landschaft überzogen, denn das Geflecht von Wällen, Vorwerken und Gräben wurde, betrachtete man es aus Bodensicht, meist von zusätzlichen Erdwällen verdeckt, die sich bis weit in das Umland erstreckten. Bei den wenigen Gebäuden, die außerhalb der Befestigungsanlagen verblieben, handelte es sich entweder um Gewerbebauten wie Sägemühlen oder Ziegelöfen oder um kirchliche Stiftungen wie Mönchs- oder Nonnenklöster, die ihrerseits wieder eigene Gemeinschaften bildeten.

      Sogar kleinere Dörfer und Weiler wurden eingezäunt – einerseits, um wilde Tiere fernzuhalten, aber andererseits auch, um dem Orts- und Heimatgefühl der Bewohner Ausdruck zu verleihen. Die Stadttore wurden bei Einbruch der Dunkelheit verschlossen und waren selbst in vergleichsweise friedlichen Zeiten stets bewacht. Wer sie durchschritt, wurde nach dem Woher und Wohin seines Weges gefragt; mitgeführte Waren mussten nicht selten verzollt werden. Die Stadtmauern – genauer gesagt: die Schwierigkeit ihrer Erweiterung und die damit verbundenen hohen Kosten – sorgten dafür, dass sich in ihrem Inneren die Häuser dicht an dicht drängten, in größeren Städten mit einem dritten oder sogar weiteren Stockwerken versehen wurden und überhaupt jeglicher verfügbare Raum – ob im Keller oder unter dem Dach – genutzt wurde. Stein oder Backstein kamen oft nur im Erdgeschoss zum Einsatz; den Rest des Hauses errichtete man als Fachwerkbau. Feuer war eine ständige Gefahr und richtete oft wesentlich größeren Schaden an als der Krieg. Die Enge in den Städten schärfte so auch die Neugier und Wachsamkeit ihrer Bewohner: Ein allzeit betrunkener Nachbar war nicht nur ein Ärgernis, sondern im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich. Zudem waren die Gemeinwesen der Frühen Neuzeit nur in den seltensten Fällen groß genug, um auch nur den Anschein von Anonymität zuzulassen. Das gesellschaftliche Leben spielte sich weitgehend von Angesicht zu Angesicht ab, und Fremde oder Außenseiter zogen Blicke, Erkundigungen, nicht selten auch Verdächtigungen auf sich. Das Herannahen des Krieges brachte ganze Scharen von bewaffneten Fremden, die von den Hügeln oder aus dem Dunkel der Wälder in Richtung der Siedlungen zogen. Sie sprachen ungewohnte Dialekte, vielleicht sogar fremde Sprachen. Jeder neue Soldatentrupp bedeutete weitere hungrige Mäuler in der Stadt; oft waren es am Ende mehr Soldaten als Stadtbewohner, die verpflegt sein wollten. Stellte man sich dem Eindringen der fremden Truppen entgegen, riskierte man die Beschädigung oder gar Zerstörung wohlvertrauter Bauten. Schlugen die Soldaten eine Bresche in die Mauer, war der Schutzraum der Stadtgemeinschaft verletzt. Der folgende Einfall endete für gewöhnlich in Plündern, Brandschatzen und Schlimmerem.

      Die Kirchtürme, die sich so imposant über die Mauern und Dächer der Stadt erhoben, verwiesen auf eine zweite, spirituelle Dimension der Siedlung, die immer auch eine Gemeinschaft der Gläubigen war. Kirchen wurden in der Regel aus Stein errichtet und zählten zu den größten Bauten am Ort. In den Kupferstichen Merians sind sie mit großer Sorgfalt abgebildet und beschriftet; jede Kirche wird dort mit ihrem Namen bezeichnet, die bedeutenderen unter ihnen erhalten manchmal sogar eine eigene Bildtafel. Selbst eher kleine Städte konnten vier oder mehr Kirchen haben, die jeweils das Zentrum eines Pfarrbezirks bildeten. Größere (Kirch-)Dörfer deckten auch den Seelsorgebedarf der umliegenden Weiler, mit Mönchs- und Nonnenklöstern standen weitere Gotteshäuser bereit. Die Anzahl und Größe dieser Bauten belegt nicht nur die große Bedeutung des Glaubens in der damaligen Zeit, sondern auch die wirtschaftliche Stärke einer frühneuzeitlichen Amtskirche, die in allen maßgeblichen Gemeinwesen vertreten war.

      Die andere Sorte von Gebäuden, die ein Reisender schon von fern entdeckt haben würde, waren die repräsentativen Bauten der weltlichen Macht. Rathäuser, Paläste oder Vogteien waren die neben den Kirchen größten Gebäude in den Städten der Frühen Neuzeit. Sie waren in der Regel weit massiver konstruiert als gewerblich genutzte Gebäude; wesentlich schmuck- und eindrucksvoller waren sie ohnehin. Wie die Kirchen standen auch sie symbolisch für alle Einwohner: sowohl als klar umrissene Gemeinschaft von Ortsansässigen wie auch als Angehörige eines größeren Gemeinwesens. Die Städte und die meisten Dörfer erfreuten sich einer beträchtlichen Autonomie, was die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten betraf, die in den Händen von gewählten Vertretern der wahlberechtigten Einwohnerschaft lag; wahlberechtigt waren in der Regel männliche, verheiratete Hausbesitzer und Familienväter. Die Befugnisse der gewählten Gemeindevertreter konnten sich im Einzelnen stark unterscheiden, umfassten aber in der Regel die niedere Gerichtsbarkeit, begrenzte Vollmachten zur Erhebung von Abgaben und Diensten für gemeinschaftliche Aufgaben sowie die Verwaltung und Bewirtschaftung des gemeinschaftlichen Besitzes an Grund und Gütern. Entscheidend war, dass zu diesen Befugnissen meist das Recht gehörte, über die Niederlassung ortsfremder Personen zu entscheiden sowie all jene zu bestrafen, die gegen die Regeln der Gemeinschaft verstießen. Dennoch war keine Dorf- oder Stadtgemeinschaft vollkommen autark: Jeder, der ein Rathaus, den Amtssitz eines Dorfvorstehers oder ein anderes zentrales Verwaltungsgebäude aufsuchte, würde dort ein geschnitztes, gemeißeltes oder aufgemaltes Wappen vorfinden, das auf eine höhere Macht als die der städtischen oder dörflichen Obrigkeit verwies – eine höhere Macht, der ebenjene Rechenschaft schuldig war.

      Die Reichsverfassung war es, die Tausende von Städten, Dörfern und anderen Gemeinschaften in einem hierarchisch geordneten System überlappender Jurisdiktionen miteinander verknüpfte. Obwohl sich der Titel von Merians Topographia Germaniae auf Deutschland zu beziehen scheint, ist ihr Gegenstand doch das Heilige Römische Reich – ein Gebiet, das auf einer Fläche von noch immer rund 680 000 Quadratkilometern nicht nur das gesamte heutige Deutschland, Österreich, Luxemburg und Tschechien umfasste, sondern weite Teile Westpolens sowie Lothringen und das Elsass, die heute in Frankreich liegen, noch dazu. Obwohl sie in Merians Topographia fehlen, waren auch die heutigen Niederlande und Belgien um 1600 noch größtenteils mit dem Heiligen Römischen Reich verbunden, genauso wie – auf einer Fläche von weiteren 65 000 Quadratkilometern – diverse Territorien in Oberitalien; in den Institutionen des Reiches waren diese Gebiete gleichwohl nicht vertreten.16

      Der Kaiser und die Fürsten Das Reich als Ganzes symbolisierte das spätmittelalterliche Ideal einer geeinten Christenheit. Sein Herrscher war der einzige christliche Monarch, der den Kaisertitel trug, was ihn über alle anderen gekrönten Häupter des Abendlands erhob. Der kaiserliche Anspruch auf die weltliche Oberherrschaft in Europa entsprang der Vorstellung, das Heilige Römische Reich stelle die lückenlose Fortsetzung des Römischen Reiches der Antike dar und sei somit, wie dieses, mit dem letzten der vier großen Weltreiche zu identifizieren, die im biblischen Buch Daniel prophezeit