Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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nun darfst du reisen, fragt sie. Nach Belgien? Wie schön. Ich freu mich für dich.

      Na ja, – Georg zögert – mir ist eben mitgeteilt worden, das sei alles noch ziemlich ungewiss. Ich werd gleich mal nachschauen. Sag mir noch, wie es dir gesundheitlich geht? Damals hattest du manchmal Depressionen, vor allem in den grauen Spätherbst- und Winterwochen, wenn sich die Sonne lange versteckt hielt.

      Georg schaut sie erstaunt an: Das weißt du noch?

      Elisa nickt.

      Ganz los bin ich sie nicht, bekennt Georg, aber ich arbeite daran. Und wenn man mich jetzt für eine Woche aus diesem Staatsgefängnis entlassen würde, ginge es mir sogar sehr gut, obwohl die graue Zeit im Anmarsch ist.

      Nicht so laut, zischt Elisa. Die Wände haben überall Ohren.

      Ich denke, ich bin in einer Kirchenbehörde, flüstert er.

      Das hat nichts zu sagen, flüstert sie zurück und schüttelt den Kopf über so viel Naivität. Wann sollst du reisen, fragt sie, jetzt wieder laut.

      Heute Mittag, hat es geheißen.

      Ich werd mal nachschauen, sagt sie erneut und verschwindet hinter der bewussten Tür. Schon wenige Minuten später winkt sie ihn in das Büro, wo er vor einem Tresen stehen bleibt. Auf einem der beiden Schreibtische dahinter türmt sich ein Stapel blauer Pässe. Sie greift nach dem obersten, in den mehrere Papiere geklemmt sind und reicht ihn Georg.

      Das ist dein Pass, sagt sie. Darin findest du auch die Fahrkarte Berlin-Zoo – Brüssel und zurück sowie einen kleinen Stadtplan von Brüssel. Dein Zug fährt übrigens erst morgen. Wenn du willst, kannst du schon heute rübergehen. Hast du in Westberlin jemanden, wo du übernachten kannst?

      Georg nickt.

      Du bekommst 100 D-Mark Reisegeld. Das klingt viel, aber du wirst sehen, wie wenig das ist. Dabei schiebt sie eine Liste unter seine Hand, auf der ein blauer Geldschein mit einer Büroklammer befestigt ist und reicht ihm einen Stift.

       Du musst mir hier Pass- und Geldempfang quittieren.

      Das wär’s, sagt sie und hat es auf einmal eilig. Als sie ihm die Hand gibt, macht sie mit der Linken eine Geste zur Tür in den Nachbarraum hin, die er so deutet: Tut mir leid, dass dir meine Mitarbeiterin die Papiere noch nicht geben wollte. Wer jeden Tag Pässe organisieren muss und selber nie fahren darf, nimmt allmählich die Umgangsformen der Volkspolizei an. Als er sich auf der Straße wiederfindet, weiß er nicht mehr, ob er sich bei ihr bedankt hat. Alles ist so ungewohnt und aufregend. Denn auf einmal ist die Mauer weg. Für ihn zumindest. Was er da in seiner Innentasche weiß, ist so etwas wie ein Lottogewinn. Manche riskieren ihr Leben dafür. Jetzt würde er am liebsten in ein Café gehen, einen Mokka bestellen, seinen Pass auspacken und seine Fahrkarte streicheln, den Stadtplan von Brüssel studieren und sich in Ruhe auf die neue Situation einstellen. Denn jetzt ist er – zumindest für eine knappe Woche – reiseberechtigt. Andererseits befürchtet er, irgendetwas könnte doch noch dazwischen kommen, das ihn am Übergang in den Westen hindert, ein Polizeikommando, das ihn kurz vor der Grenze einsammelt, ein Geheimer, der ihm seinen Pass wieder abnimmt.

      Er begibt sich auf schnellstem Wege zum Bahnhof Friedrichstraße, holt sein Köfferchen aus dem Schließfach und wendet sich nach links, legt die hundert Meter bis zum Eingang der Grenzübergangsstelle zurück, die im Volksmund Tränenpalast genannt wird, und befindet sich am Beginn eines Ganges, dessen linke, durch ein Geländer getrennte Hälfte von Menschen mit Taschen und Koffern verstopft ist, während die rechte nahezu unbenutzt scheint. Ein Grenzer fordert seinen Pass. Georg greift in seine Innentasche und reicht ihm die Papiere, ohne die Fahrkarte herauszunehmen.

      Dienstreisender, fragt der Grenzer.

      Ja, sagt Georg.

       Rechts, bitte.

      So kann er an all den Menschen vorüber bis zu einem Schalter gehen, an dem er anzuhalten hat.

      Papiere, sagt ein Grenzbeamter durch den Fensterschlitz. Diesmal reicht Georg nur den Pass hinüber. Der Pass verschwindet unter einem Tresen und bleibt für eine Weile unsichtbar. Währenddessen hat Georg Gelegenheit, sich umzusehen. Er entdeckt den Spiegel über sich, dann eine Kamera an der Wand.

       Sie wollen nach Belgien?

      Ja, sagt Georg.

      Aus der Tiefe des Tresens holt der Grenzer einen Telefonhörer hervor und wählt offenbar eine Nummer, auch wenn von dem Apparat selber nichts zu sehen ist. Georg hört seinen Namen. Alles andere versteht er nicht. Stimmt etwas nicht, fragt er sich. Kommt jetzt dessen Vorgesetzter, um mir zu erklären, dass meine Reise nicht stattfinden werde? Es dauert.

      In Ordnung, sagt der Grenzer zu irgendwem am anderen Ende und legt auf. Irgendwann liegt der Pass wieder auf dem Tresen.

      Gute Reise, sagt er.

      Georg fühlt sich wie ein Bergsteiger, der soeben auf dem Gipfel angekommen ist. In solchen Momenten werden alle Menschen Brüder. Er würde dem Grenzer am liebsten einen Kuss geben. Aber wofür? Dafür, dass der seiner Pflicht nachkommt, einen Reiseberechtigten durch die Sperre zu winken? Dafür, dass er – entgegen aller Grenzgewohnheit, wie Georg später noch feststellen wird – Gute Reise gesagt hat? Es gibt eine Art von Dankbarkeit, die etwas Hündisches hat, weil sie das Ergebnis von permanenter Demütigung ist. Vor der muss ich mich hüten, schießt es Georg durch den Kopf.

      Der nächste Beamte holt ihn auch schnell wieder auf den Boden zurück: Halt! Führen Sie etwas mit sich, was den Zollbestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik unterliegt?

      Ich glaube nicht, sagt Georg unsicher. Außer meinen persönlichen Dingen habe ich lediglich zwei Schallplatten und ein Buch bei mir, die als Geschenk gedacht sind.

      Einen entsprechenden Zettel hat er ausgefüllt und reicht ihn hinüber.

       Was für ein Buch?

      Brecht, Gedichte.

      Verschwinden Sie, scheint die Geste zu heißen, mit der ihn der Zöllner wortlos weiterwinkt. Und nun? Was kommt als Nächstes? Ein Gang, Kabinentüren, eine Ecke, eine Treppe hinauf – und er steht auf dem Bahnsteig, den man mit einer Stahlwand von den Bahnsteigen für den Ostberliner Verkehr abgetrennt hat. Eigentlich ist er schon fast im Westen, auch wenn er territorial gesehen auf Ostberliner Boden steht, die Ost-Berliner S-Bahn vor der Nase. Der Zug steht mit offenen Türen vor ihm. Menschen steigen ein, junge Leute mit Plastiktüten und Umhängetaschen, Tagesbesucher, die ihr zwangsgetauschtes Geld in Form von Büchern wieder mit hinübernehmen, andere mit Koffern und Taschen, Rentner, die zwar keinen Anspruch auf Westreisen besitzen, aber doch in der Regel fahren dürfen, da ihr Verbleiben im Westen ökonomisch nicht als Verlust zu Buche schlägt: frei werdende Wohnung, eingesparte Sozialleistungen, langsam aussterbende bürgerliche Ansichten und Traditionen. Auf diesem Bahnsteig mischt sich wieder, was im Tränenpalast sorgfältig getrennt worden ist.

      Er steigt ein. Und als sich die Türen schließen, fährt er in die Freiheit oder was er dafür hält. Und keine Mauer hält ihn mehr auf.

      Lehrter Stadtbahnhof. Gott, wie der aussieht! Eine verlassene, schwarzgraue Halle, von seinen Schwesterbahnhöfen im Osten nicht zu unterscheiden. Nur ein zerschrammter Vivil-Automat verrät, dass man sich im anderen Teil der Stadt befindet. Die S-Bahn verlangsamt ihre Fahrt, hält und fährt wieder an, ohne dass jemand zugestiegen ist. Bellevue. Eine alte Frau quält sich mit ihrem großen Koffer hinaus, zwei Männer, eine Zeitung unter dem Arm, kommen in den Wagen. Tiergarten. Der Zug füllt sich. Dann Bahnhof-Zoo. Das ist nun unübersehbar der Westen. Auf dem Bahnsteig emsiger Betrieb. Frauen und Männer, die ihre Verwandten aus dem Osten abholen und sich schluchzend in den Armen liegen, Geschäftsreisende mit eckigen, schwarzen Lederkoffern, junge Leute mit verwegenen Frisuren und auffälliger Garderobe. Aber ihm scheint, auffällig nur für ihn. Die Menschen hasten aneinander vorbei, treppauf und treppab, ohne einander gewahr zu werden. Unten in der Halle wendet er sich an einen Beamten