Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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ein bisschen Westgeld und übernimmt die Eintrittskarten für die Expressionismus-Ausstellung und die Wurst am Bahnhof Zoo. Diesmal meidet er Tante Vero. So groß ihr Herz auch ist, er befürchtet, sie werde die Reise des Neffen seinen Eltern nicht verschweigen wollen. Das zu erwartende Donnerwetter würde nicht ausbleiben, erst recht nicht, wenn sein Vater erführe, dass sein Sohn in weiblicher Begleitung unterwegs war.

      Georg kann nicht wissen, dass er seine Tante für Jahre nicht wiedersehen wird.

      Nicht ganz unerwartet klopft es an seine Tür. Da steht Ulrike im Nachthemd und tut, als fröre sie. Er zieht sie ins Zimmer und nimmt sie mit in sein Bett. Sie schmiegt sich an ihn, und er spürt ihre straffen kleinen Brüste. Er küsst sie und streichelt sie halsabwärts, bis er ihren kleinen runden Po zu fassen kriegt. Dann streichelt er sie poaufwärts unter ihrem Nachthemd weiter. Und auf einmal geschieht es. Er erschrickt so, dass er die Hand hervorzieht und Abstand sucht. Es tut mir leid, stammelt er und weiß nicht, wohin mit sich. Sie scheint das nicht aus der Fassung zu bringen. Sie schlingt ihren rechten Arm um seinen Hals und schiebt sich auf ihn. Er aber stößt sie zurück und wendet sich ab vor Scham. Sie bleibt bei ihm, dicht an seinen Rücken gepresst. Vor Sonnenaufgang muss sie sich aus seinem Zimmer geschlichen haben. Er findet nur ihren Geruch noch vor.

      Beim Frühstück kein Wort davon, stattdessen eifrige Anstrengungen, den Vormittag sinnvoll zuzuplanen. Und während sie auf den Stufen des Pergamonaltars ins Schwärmen gerät, denkt er immer nur: Das nächste Mal wird es besser werden. Aber es gibt kein nächstes Mal.

      Er schaute zum Viererabteil über den Gang. Ein stoppelbärtiger junger Mann, die Ärmel halb aufgekrempelt, die oberen Hemdknöpfe offen, sodass die Wolle herausquoll, saß mit ernstem Gesicht an seinem Laptop wie in einem rollenden Büro. Immer wieder las er etwas, scrollte mit seiner rechten Hand rauf oder runter, schrieb mit flinken Fingern ein paar Zeilen, stellte die Ellenbogen auf, klemmte nachdenklich seinen Kopf zwischen die Hände und las erneut. Die junge Frau ihm schräg gegenüber krümelte eben die andere Hälfte der Tischplatte mit ihrem Kuchen voll. Jedes Mal, wenn sie abbiss, beugte sie sich über den Tisch. Ihr grün-weiß gestreifter Pullover und der Schoß ihres langen meergrünen Rockes waren ebenfalls schon voller Krümel. Durch ihre leicht verschmierte Brille schaute sie zu Georg hinüber und lächelte. Er lächelte zurück und fragte: Schmeckt’s?

      Selbst gebacken, sagte sie, dabei blies sie weitere Krümel aus den Winkeln ihres vollgestopften Mundes. Sie zog die Stirn in Falten, was so viel heißen sollte wie Pardon, und wedelte die Krümel von Pullover und Rock auf den Boden.

      Als er wieder zu ihr hinüberschaute, war der Platz aufgeräumt. Sie lümmelte in der Fensterecke, die Füße auf dem Nebensitz, und las.

      Georg versank wieder in Gedanken.

      Es ist ein sonniger Morgen. Wie immer steht er als Erster auf.

      Eine Angewohnheit aus frühen Internatszeiten.

      Achtzig Jungen auf vierzig Waschbecken. Wer da nicht schnell ist, muss warten. Und wer ein Becken erobert hat, lässt sich manchmal Zeit. Dann wird es für die anderen eng. Zur Morgenandacht müssen alle unten im Speiseraum sein.

      Später genießt er die frühen Morgenstunden. Er gehört inzwischen zu den Oberen, ist Tischältester, Mentor von drei Fünftklässlern, besitzt einen eigenen illegalen Hausschlüssel und schläft schon längst nicht mehr im großen Schlafsaal mit den 40 Betten, sondern in einer Dachschräge, zusammen mit weiteren fünf Sechzehn- und Siebzehnjährigen. Wenn die anderen aufstehen, hat er sich schon rasiert.

      An diesem Morgen steht er nackt auf einer Kuhweide bei Sparow und rekelt sich. Er läuft hinunter zum See und wirft sich ins kalte Wasser. Enten schrecken schreiend aus dem Röhricht auf. Winzige blassgrüne Fische schwärmen vor seinen Schwimmbewegungen davon. Mit kräftigen Zügen erreicht er die Mitte des Sees. Er dreht sich um, sieht, wie die Sonne über den Dächern des Dorfes aufsteigt und alle Dürftigkeit mit einem goldenen Schleier bedeckt. Er wendet. Als er nicht mehr weit vom Ufer entfernt ist, kommt ihm ein Kanon in den Sinn: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Und während er zurück ans Ufer watet, fängt er laut zu singen an. Aus einem der Zelte setzt eine zweite Stimme ein, dann, zaghaft, eine dritte, eine Oktave höher. Er steigt aus dem Wasser, schüttelt sich wie ein Hund, dass es aus seinem vollen Haarschopf spritzt, und hüpft in großen Sprüngen hügelan. Außer Atem, den Kanon mit gebrochenen Lauten fortführend, gelangt er zu seinem Zelt, greift sich ein Handtuch und verstummt. Seine Schwester und Daniel haben singend den Frühstückstisch zu decken begonnen. Ein halbes Mischbrot liegt auf dem vierpfähligen Brettergestell, das er gebaut hat, sein Hirschfänger, eine neue Dose Schmalzfleisch und Marmelade, die nach nichts außer süß schmeckt.

      Nächste Woche ist es vorbei mit Bundeswehrreserven, sagt er. Da essen wir nicht mehr, was die Bundeswehr an den Osten abtritt, da essen wir wie die Bundeswehr, lauter gute Sachen: Schinken und französischen Käse und Sardinen und Oliven.

      Er sucht eine Musik auf dem kleinen Kofferradio, aber überall wird gerade gesprochen.

      Dann müssen wir halt warten, sagt er, und stellt den Ton lauter: … hat die DDR-Führung alle Übergänge nach Westberlin geschlossen …

      Alle drei stehen wie erstarrt und schauen sich ratlos an.

      Das kann nicht sein, sagt er.

      Aber welchen Sender er auch einstellt, überall die gleiche Meldung: Berlin ist dicht.

      Das werden sich die Alliierten nicht gefallen lassen, darin sind sie sich einig.

      Dann sickern weitere Einzelheiten durch. Die S-Bahn nach Potsdam halte nicht mehr auf Westberliner Bahnhöfen. Alle in Westberlin arbeitenden und studierenden DDR-Bürger seien aufgerufen, sich bei den Behörden zu melden. An den Grenzzäunen, die die DDR über Nacht gezogen habe, stünden Kampfgruppen der Arbeiterklasse zum Schutz der sozialistischen Errungenschaften. Der RIAS berichtet, auf Westberliner Seite versammelten sich Tausende Menschen. Protestrufe, Tränen und Verzweiflung charakterisierten die Stimmung in der nun erst recht geteilten Stadt.

       Und wenn nicht? Wenn die Amis nichts machen? Und Adenauer auch nicht? Dann werden wir den Westen nie wieder sehen.

      Daniel ist noch blasser geworden, als er sonst schon aussieht. Mein Vater wohnt in Köln, sagt er leise. Und dann heult er los. Die haben mir meinen Vater schon einmal weggenommen, jammert er.

      Sein Vater steht 1954 vor Gericht wegen angeblicher Industriespionage. Sie bringen ihn nach Waldheim. Nach fünf Jahren wird er in den Westen entlassen. Daniels Mutter lässt sich, nach massiven Drohungen, von ihm scheiden – und Daniel mit.

      Diese Schweine! Diese Schweine! Diese Schweine!, schreit er über den See.

      Daniel, zischt Georgs Schwester, nicht so laut!

      Aber Daniel ist nicht zu bremsen, Schweine, Schweine, verfluchte Schweine!

      Alles für das Wohl des Volkes, zitiert Georg bitter.

      Und Tante Vero, flüstert seine Schwester. Wie sagen wir ihr jetzt, dass wir nächste Woche nicht kommen, vielleicht nie mehr?

       Glaubst du, die hört keine Nachrichten, ausgerechnet Tante Vero? Sie wird das schon eher erfahren haben als wir.

      Dabei kommt er sich sehr erwachsen vor, obgleich auch er mit den Tränen kämpft.

      Nie wieder eine Westreise, murmelt er später. Wahrscheinlich auch nicht mit dem Chor.

      Inzwischen fuhren die Leute zwischen Ost und West hin und her, als wäre das immer so gewesen. Die Jungen kannten es nicht anders. Die Alten schienen vergessen zu haben, wie es war, als sich dieses kleine komische Land mit einer scharfen Grenze eingeriegelt hatte und eine Enklave der Freiheit mitten in seinem Staatsgebiet dulden musste. Enklave der Freiheit, ein Paradoxon eigentlich. Aber es war ja so vieles paradox.

      Er griff in die obere Außentasche seiner Lederjacke und zog Kopfhörer und MP3-Player heraus. Das Display zeigte: Bach, Cembalokonzert f-Moll, erster Satz. Georg schloss die Augen. Die Aufnahme war ihm vertraut. Er konnte sie genießen,