Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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sie. Ist eben erschienen. Bei euch wird das nie rauskommen, dazu ist es zu heiß.

      Collin, steht auf dem Deckel. Stefan Heym. Er liest den Klappentext. Seine Ohren beginnen zu glühen. Kann ich das hier einfach lesen? Ich sitze zwar in einem internationalen Reisezug, aber noch befinde ich mich im Osten, wo das Buch garantiert verboten ist. Wenn jetzt einer von den DDR-Grenzern ins Abteil käme, was wäre ich dann? DDR-Bürger auf DDR-Territorium, wo das Buch bestimmt nicht gelesen werden darf? Reisekader auf dem Weg in den Westen, wo das Buch herumliegt, lesbar auch für mich? Für eine Woche aus der gesellschaftlichen Haftung für staatsfeindliche Umtriebe Entlassener? Und wenn die Frau gegenüber …?

      Da spricht sie ihn an: Wie weit sind Sie schon mit Lesen?

      Ich hab noch gar nicht angefangen, antwortet Georg.

       Na, da machen Sie sich mal auf was gefasst. Ein wahnsinniges Buch, sag ich Ihnen. Ich hab’s grad gelesen. Glaubt man nicht, was die da drüben alles anstellen.

      Sie meinen: bei uns drüben?, fragt Georg. Also hier. Wir sind ja noch in der DDR. Ach, Sie kommen aus dem Osten, will sie wissen.

      Ja, sagt Georg und hält sich zurück.

       Wieso dürfen Sie dann in den Westen fahren?

      Ich habe die Genehmigung, an einer kirchlichen Tagung in Belgien teilzunehmen. So was geht?, fragt sie.

      Georg nickt: Manchmal ja.

      Mehr will sie nicht wissen. Sie wendet sich wieder ihrer Strickarbeit zu, und Georg beginnt zu lesen.

      Irgendwann fragt sie ihn ganz unvermittelt: Sind Sie verheiratet?

      Er bejaht.

       Und warum tragen Sie keinen Ring?

      Weil er nicht mehr passt, lacht Georg.

      Blöde Ausrede, sagt sie und schaut ihn feindselig an. Seltsam, dass Männern, wenn sie zu einer Tagung fahren, immer der Ring nicht mehr passt.

      Quatsch, sagt er. Meine Frau trägt auch keinen mehr.

      Ja, ja, murmelt sie und wendet sich wieder ab.

      Für einen Moment glaubt Georg, soeben sei der Magdeburger Dom vorbeigehuscht. Er liest weiter und nimmt sich vor, sein Gegenüber mit Ignoranz zu strafen.

      Und dann verpasst er doch, rechtzeitig sein Buch im Koffer zu verstecken. Die Tür wird aufgerissen. Zwei Männer, grünlich graue Uniform mit grünem Ärmelband, die Hose im Stiefel, verlangen die Papiere. Georg klappt das Buch zu und legt es neben sich in die Fensterecke, aufs Gesicht natürlich. Er spürt, wie er rot wird. Als er dem einen seinen Pass reicht, schaut der andere unter die Sitzbänke und fragt nach dem Gepäck. Die junge Frau muss kurz aufstehen. Ihr Strickzeug fällt einem der Grenzer vor die Füße. Sie bückt sich, um es aufzuheben. Dabei rutscht ihr weiter Pullover nach oben und legt ihren Rücken und die Rückseite ihres BHs frei. Die beiden schauen sich an und verziehen den Mund.

      Wem gehört die Zeitschrift, fragt der eine, und zeigt auf das Gepäcknetz.

      Georg fällt ein, dass er den SPIEGEL da abgelegt hat.

      Er zuckt mit den Schultern. Und da ihn die Frau auch nicht für sich reklamiert, nimmt ihn einer der Grenzer mit. Kein Gruß. Die Tür knallt ins Schloss.

      Na, fröhliche Lektüre, Genossen, denkt Georg. Bloß gut, dass auch ich ihn geschenkt bekommen habe.

      Der Zug war zum Stehen gekommen. Tiefgraue Wolken hingen über dem Land. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Scheiben, die sich in irrenden Rinnsalen vereinten und wieder auseinanderflossen. Georg malte sich aus, welches Bild es ergäbe, zöge er deren nervös zuckende Zickzackbewegungen mit einem schwarzen Edding auf der Fensterinnenseite nach. Vor seinen Augen entstand ein Miró, ein Hartung, der sich zu einem Jackson Pollock entwickelte.

      Eine Diesellok schleppte eine Kette von Tankwagen an seinem Fenster vorbei. Reflexartig zählte er die Spiegelbilder, die ihm jeder vorübergleitende Tank bescherte. Fünfunddreißig Mal Georg im Spiegel. Dann zog sein Zug langsam wieder an.

      Er erinnert sich an die Schulklasse, die in Köln zusteigt, junge Damen allesamt, Abiturientinnen, wie sich herausstellt. Fünf von ihnen kommen in sein Abteil, das die Strickerin inzwischen verlassen hat. Die andern verteilen sich auf die Nachbarabteile. Man nimmt keine Notiz von ihm. Georg gewöhnt sich an den Krach und das ständige Auf- und Zurollen der Tür und liest weiter in seinem Collin.

      An der Grenze zu Belgien wird er dann doch noch für die Damen interessant. Zwei Beamte öffnen das Abteil und bitten um die Reisepapiere. Die Damen machen sich über ihre Handtaschen her und ziehen ihre Personalausweise hervor. Als er seinen blauen Pass hinüberreicht, ist plötzlich Stille im Abteil. Erschrockene Blicke fliegen hin und her, erst recht, als einer der Beamten, der ein dickes Buch unter den Arm geklemmt hält, mit Georgs Pass aus dem Blickfeld verschwindet. Die Damen schauen, als glaubten sie, Augenzeugen der Überführung eines gesuchten Verbrechers zu werden. Amüsiert guckt indessen der andere in die Runde und reicht, nachdem sein Kollege wieder im Türrahmen erscheint, Georg den Pass zurück.

      Gute Weiterreise, meine Damen, sagt er, und Ihnen auch.

      Kaum ist die Tür geschlossen, fallen die Damen über Georg her, was das denn zu bedeuten habe.

       Wieso haben Sie nicht so einen Ausweis wie wir?

      Weil ich nicht von hier bin, antwortet er.

      Woher sind Sie denn, wollen die Damen wissen.

      Georg will es ihnen nicht so leicht machen und sagt nicht: aus der DDR. Er nennt auch nicht den Ort, in dem er wohnt, er sagt: Die nächstgrößere Stadt heißt Schwerin.

       Schwerin? Schwerin? Wo liegt das? In Bayern?

      Dann hätte ich so einen Ausweis wie Sie, sagt Georg und lässt sie weiter raten.

      Schließlich fragt eine der Abiturientinnen, deren kleines, spitznasiges Gesicht aus einem wilden Lockengewühl, ähnlich einer aufgeplatzten Seegrasmatratze, hervorschaut: In Polen?

      Er lächelt. Sie sind Abiturientinnen und haben noch nie etwas von Schwerin gehört? Es liegt gar nicht so weit von Hamburg weg. Dazwischen allerdings befindet sich eine scharfe Grenze. Ach in der Zone, bemerkt eine andere enttäuscht.

      Zum Glück bleiben weitere Fragen nach Reisegrund und Reiseerlaubnis aus.

      Georg gönnt sich einen Seitenblick in die offene Handtasche seiner Nachbarin. Wie immer, konstatiert er, Lippenstift, Taschentücher, Zigaretten, Portemonnaie, ein Stift … Er hätte Lust, darin zu kramen. Schon als Kind hat er die Taschen von zu Besuch weilenden Tanten mit Begeisterung durchstöbert. Meist fand sich etwas Außergewöhnliches, ein Talisman, ein besonderer Anhänger, Fotos, Papiere mit bedeutungsvollen oder geheimnisvollen Schriftzeichen, kleine Süßigkeiten, manchmal auch etwas, dessen Entdeckung peinliche Zwischenfälle ausgelöst hat.

      Georg horchte auf. Er erkannte die leicht verfremdete Stimme des Schaffners wieder, die die bevorstehende Ankunft auf dem Hauptbahnhof der nächsten Stadt bekannt gab.

      Als der Zug in die weite Halle einfuhr und die Türen geöffnet wurden, plärrten unverständliche Lautsprecheransagen in den Wagen hinein. Der Laptopmann von gegenüber hatte blitzschnell sein Gerät in einer Tasche verstaut und befand sich, während er sich mit einem Arm in seinen Mantel zwängte, bereits im Gang. Andere Insassen des Wagens drängten sich an den Ausgängen und schoben einander nach und nach auf den Bahnsteig. Neue Fahrgäste stiegen zu. Ein junger Mann mit Rucksack und einer schweren Tasche quetschte sich, nach links und rechts schauend und die Ziffern der Sitzplätze prüfend, an ihm vorbei, nicht ohne ihm in einer heftigen Wendung das Untergestell seines Rucksacks an den Kopf zu schlagen.

      Danke auch, sagte Georg.

      Sorry, hörte er es hinter sich.

      Die Krümelfrau, jetzt Alleinerbin