Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

Читать онлайн.
Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



Скачать книгу

lieber war.

      Interpretationen sind nicht nur musikalische Auffassungen, manchmal sind es Weltanschauungen, manchmal unversöhnliche, sagte er sich.

      Im Neubau des Eisenacher Bachhauses konnte man über Kopfhörer ein und dasselbe Stück unter neun verschiedenen Dirigenten miteinander vergleichen: ein musikalischer Streifzug durch hundert Jahre Musikgeschichte! Einige lagen so weit auseinander wie Peking und Paris. Georg besaß vier Aufnahmen der H-Moll-Messe. Besonders beim Credo, das durch seine klare Struktur zum Offenbarungseid jedes Chores werden kann, fiel ihm auf: Es gibt nicht die richtige oder falsche Interpretation. Wie sollte man auch anders seinen Glauben bekennen können als subjektiv? Ein Glaubensbekenntnis ist doch eine zutiefst persönliche Angelegenheit, intim wie ein Liebesgeständnis.

      Als er in Eisenach den Meister ohne Perücke sieht, erschrickt er, muss aber zu der Büste immer wieder zurückkehren, bis sie ihm vertraut ist. Danach fühlt er sich seiner großen musikalischen Vorliebe um zwei Jahrhunderte näher.

      Mit seiner Innenstimme summte Georg die großen Bögen mit und hoffte, die Stimmbänder würden seinem Befehl zu schweigen gehorchen. Nahezu unmerklich beschrieb seine rechte Hand in Auf- und Abbewegungen den Takt, die Kuppe des Zeigefingers auf den Daumen gelegt. Er schmolz dahin und kam nicht auf den Gedanken, schon mit dem nächsten Titel der Zufallswiedergabe aufgeschreckt zu werden, da schrie ihm bereits Grönemeyer seine Flüsternde Zeit ins Ohr. Er hatte das Lied schon so oft gehört, dass er inzwischen sogar den Text verstand. Die bildhaften und doch einfachen Sätze mochte er, mehr noch die eindringliche Stimme, die weniger mit Gesang als mit musikalischer Provokation zu tun zu haben schien.

      Er stellte sich vor, er schrie mit Grönemeyers Stimme seiner Gemeinde im Gottesdienst das Evangelium entgegen. Er sah seine Herzdorfer Bauern vor sich, Herrn Ludwig, der meist schon beim Eingangslied schlief, den schwerhörigen Herrn Watzke, der immer freundlich lächelte und bei dem man nie wusste, was er wirklich mitbekommt, Frau Schreck, die ihn immer mit so erschreckend gläubigem Blick anschaute, dass er glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, und all die andern, er sah, wie sie auf einmal aufrecht in ihren Bänken saßen, verstört und mit spitzen Ohren, als ob das Jüngste Gericht über sie hereinbräche. So müsste man predigen, dachte er. Vielleicht war Johannes der Täufer so einer, mehr missionarischer Schreihals und Exorzist als Lehrmeister. Jesus stellte er sich stiller vor, bedachter, entschieden ja, aber nicht so apodiktisch.

      Es folgten Reinhard Mey, Carlos Gardel, ein Satz aus der Frühlingssymphonie, Balulalow, Mercedes Sosa mit der Missa Creola, ein Mozart-Divertimento, Piazzolla und wieder Bach. Manchmal lief ein leichter Schauer über seine Schulterblätter die Arme entlang bis in seine Fingerspitzen, wenn er Bach hörte.

      Was ist das, was mich nahezu alle Bach’schen Werke, von der Matthäuspassion bis zu den Motetten, von den großen Orgelwerken über die Cembalokonzerte bis hin zu den Cellosonaten als Steigerung dessen erleben lässt, was gemeinhin Musik genannt wird? Die Ordnung, beantwortete er sich selber seine Frage. Es ist die tiefe Ordnung in dieser musikalischen Unendlichkeit, die Klarheit in einer genial-fantastischen Vielfalt, seine überraschende Berechenbarkeit.

      In Georgs Auto lagen immer CDs mit Bach’scher Musik, die seine Stimmung innerhalb weniger Takte aufhellen konnten. Mitunter versetzten sie ihn in eine Art blinder Euphorie, dass er weder bemerkte, wie er zu fest auf das Gaspedal trat noch den Blitzer am Straßenrand wahrnahm.

      Freunde belächelten ihn manchmal dieser Schwärmerei wegen. Ariane tolerierte seinen Tick mit Milde und gönnte sich zum Ausgleich, wenn er nicht da war, eine donnernde Klangorgie aus Maffay, Lindenberg und Turner durch das ganze Haus.

      Der Zug raste mitten durch einen Wald. Wenn Georg frontal durch die Scheibe sah, verschwamm dieser in wildem Flimmern, das die Augen schmerzte, wie bei einem zu schnell laufenden Film. Er musste im spitzen Winkel aus dem Fenster schauen und so Abstand gewinnen, um aus der verschmierten Ansicht wieder Wald werden zu lassen.

      Im Mai 1979 erlebt Georg wider Erwarten seine erste Westreise nach dem Mauerbau. In Brüssel findet eine europaweite Kirchenkonferenz statt, zu der aus der DDR zwei Teilnehmer zu bestimmen sind. Die Konferenz hat den Ruf, linkslastig zu sein, weshalb den Behörden eine Teilnahme von DDR-Vertretern angeraten erscheint. Die Wahl fällt auf ihn und einen weiteren Kollegen, von dem er damals noch nicht wissen kann, dass der ihn zugleich im Auftrag der Staatssicherheit begleiten wird. Die Beschaffung der Pässe und Visa obliegt einer Abteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Als er eine Woche vor Reiseantritt nachfragt, wann er die Reisepapiere erhalten werde, bekommt er eine Antwort, wie er sie auf jeder polizeilichen Meldestelle erhalten würde: Warten Sie ab, Sie erhalten von uns Bescheid, ob und wann Sie den Pass bei uns abholen können. Bis dahin gedulden Sie sich, Herr Weber.

      Auf die Nachfrage, wie lange vor Reiseantritt man denn erfahrungsgemäß damit rechnen könne, weil doch davon abhinge, wann er nach Berlin kommen müsse, wieder der barsche Ton: Wie gesagt, warten Sie ab. Wir können die Bearbeitung nicht beschleunigen.

      Als er einen Tag vor dem vorgesehenen Reiseantritt erneut anklingelt, erkennt er die gleiche Stimme: Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen, Herr Weber.

      Aber morgen Mittag soll ich doch schon fahren, wendet er ein.

       Hören Sie auf, uns weiter zu bedrängen! Es liegt nicht in unserer Hand. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr in die Auguststraße und bringen Sie Zeit mit. Garantieren können wir Ihnen aber nichts, auch nicht, ob die Papiere überhaupt fertig werden.

       Wenn ich das richtig verstehe, ist also noch gar nicht sicher, ob ich überhaupt fahren kann?

       Ich sagte doch, wir können nichts garantieren!

      Schikane, sagt er, als er den Hörer auflegt, wieder mal typisch! Da darf man nun schon einmal ins sogenannte kapitalistische Ausland fahren, weil es der Staat für opportun hält, und dann wird einem seine Abhängigkeit von den Behörden noch einmal unübersehbar eingebläut. Dieser Staat lässt keine Gelegenheit aus, seine Bürger zu demütigen. Kein Wunder, dass immer wieder Leute drüben bleiben, wenn sie einmal die Mauer und diesen ganzen Sicherheitswahn hinter sich haben.

      Er nimmt noch den Abendzug und quartiert sich bei seiner Schwester ein, die darauf vorbereitet ist, um am Morgen pünktlich zur Stelle zu sein.

      Nein, sagte die Dame, die auf sein Klopfen hin die Tür öffnet, Ihre Papiere sind noch nicht da. Wollen Sie warten?

      Das also ist die Person, die zu der Telefonstimme gehört. Das Bild, das er sich von ihr gemacht hat, stimmt mit der Erscheinung überein. Er stellt sich die junge Frau in Polizeiuniform vor. Sie muss ihm ansehen, dass sie ihm unsympathisch ist.

      Stimmt etwas nicht, fragt sie.

      Doch, doch, sagt er. Alles stimmt.

      Im Übrigen wolle er lieber warten, als ziellos und unruhig durch die Stadt zu schweifen und aller zwei Stunden erneut zu klopfen. Er nimmt in einem Vorraum Platz, in dem nur der Ikonenkalender aus dem Union-Verlag verrät, dass er sich nicht auf einer Polizeidienststelle befindet. Er zieht ein Buch aus der Tasche, Dorothee Sölle, Atheistisch an Gott glauben, und beginnt zu lesen.

      Eine andere Tür öffnet sich.

       Elisa?

      Er springt auf, während sie ruhig mit ihrem leicht rudernden Gang auf ihn zukommt.

       Ich hab gehört, du bist hier.

      Georg und Elisa haben in Greifswald drei Jahre zusammen studiert. Seit seinem Wechsel nach Halle sind sie sich nie wieder begegnet.

      Ich hatte keine Ahnung, dass du hier arbeitest. Bist du denn gar nicht Pastorin geworden? Doch, schon, sagt sie. Ich habe mir mit meinem Mann eine große Landgemeinde geteilt. Er eine volle Stelle, ich der Kinder wegen eine halbe. Seitdem mein Mann Pfarrer in Berlin ist, arbeite ich in dieser Kirchenbehörde und bin zuständig für die Vorbereitung theologischer Fachtagungen. Und du?

      Georg berichtet von seiner ersten Gemeinde in Sachsen, von Sabine und den Töchtern, von seinem Wechsel in den Norden, und dabei denkt