Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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wird zu einer Art Eigenzensur und nimmt damit seinen Notizen ein Stück Authentizität.

      Aber seine jährliche Herbstwoche bleibt ihm heilig. Sowohl Sabine als später auch Ariane tolerieren diesen Alleingang, wissen sie sich doch so für eine Woche seiner zwanghaften Ordnungsliebe enthoben, die nicht selten das häusliche Klima in eine mittlere Krise treibt.

      Die Liaison mit Katharina allerdings hätte diese eine Herbstwoche beinahe nicht überstanden. Denn Katharina droht, sollte er allein losfahren, sich nie wieder blicken zu lassen. Dann aber findet er sie, als er zurückkehrt, in seiner Wohnung vor, aufgeräumter als diese selber und zärtlicher denn je.

      Einmal vergisst Georg seine herbstliche Auszeit. Das ist 1989. In diesem Herbst ist alles anders.

      Georg steht am Ausgang und befindet sich unter den Ersten, die hinaus ins Dunkel treten. Er sieht heitere Menschen, von Kerzen angestrahlt, die nach ihm aus dem Portal der Markuskirche quellen, Menschen, die sich verschwörerische Blicke zuwerfen, viele bekannte Gesichter darunter, aber auch neue. Fremde möchte er nicht sagen. Wer jetzt mitgeht, ist nicht mehr fremd.

      Georg, hört er eine Stimme, hast du mal Streichhölzer?

      Damit der Wind die ungeschützten Lichter nicht ausbläst, hat Georg, wie viele andere, seinem Licht eine Papiermanschette verpasst. Noch leuchtet seines.

      Nein, sagt er, hab ich nicht. Aber du kannst dein Licht an meiner Kerze anzünden.

      Ich wollt eine rauchen, sagt der junge Mann neben ihm.

      Jetzt, wo es losgeht, fragt Georg.

      Genau, sagt er, jetzt, weil es losgeht. Ich mag aber meinen Stummel nicht in eine Kerze halten.

      Eine befreiende Anspannung liegt über der ersten Demonstration in seiner Stadt.

      Sein Blick streift die dunkelblauen Anoraks mit dem roten Futter, die sich schon am Nachmittag in Zweier- und Dreiergruppen völlig unauffällig um die Kirche herum postiert haben, so zivil wie irgend möglich und darin wieder uniform.

      Müsste man sich die Gestalten merken, die man in sie gesteckt hat? Wozu?

      Aber das Gefühl an diesem ersten Mittwoch muss uns erhalten bleiben, darf niemals ganz verloren gehen, denkt er. Wer weiß, wofür wir es noch brauchen.

      Jetzt fuhr Georg in den Westen.

      Für ihn war es noch immer eine Westreise, obgleich sich die Spuren des DDR-Grenzregimes inzwischen verloren hatten. Wenn er am Schalter eine Fahrkarte in die alten Bundesländer löste, nannte er den Ort und fügte hinzu: im Westen. Meistens lächelte dann sein Gegenüber.

      Manchmal aber trafen ihn auch böse Blicke. Und jedes Mal, wenn er sich der einstigen Grenze durch Deutschland näherte, kroch aus einer nicht lokalisierbaren Tiefe diese alte Angst in ihm empor, die ihm den Hals zuschnürte und ihn Glauben machte, gleich würde die Tür aufgerissen, zwei Uniformierte forderten seinen Pass und stellten unangenehme Fragen, und er brächte keinen ordentlichen Satz mehr heraus.

      In den Neunzigerjahren war er oft mit dem Dienstwagen unterwegs. Dann stierte er schon lange vor der ehemaligen Grenze aus den Fenstern und bat den Fahrer, das Tempo zu drosseln. Er wollte sich vergewissern, dass die Grenze wirklich verschwunden ist. Dann aber wollte er auch wieder etwas entdecken, was an sie erinnerte.

      Zwei Jahre ist es her, dass er das letzte Mal mit dem Zug in den Westen gefahren ist. Auch diesmal wieder möchte er den einstigen Grenzbahnhof nicht verpassen.

      Seine Gedanken verharren im Herbst 89.

      Als die erste Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz auftaucht, erschrickt er. Es kommt ihm wie Verrat vor. Eben waren wir uns noch einig: Wir sind das Volk, wir werden es euch zeigen, wir haben keine Angst mehr, wir bauen uns unsere Demokratie selber, wir jagen euch zum Teufel mit euern Wanzen und mit euern Panzern. Manche wollen sie in einen Zug sperren, der erst in Moskau wieder hält. Dann sind sie in ihrem Paradies. Wir brauchen nur eine Wirklichkeit, in der sich gerne leben lässt. Sein Bild vom Westen ist nicht vom Westbild beeinflusst. Wenn er gefragt wird, was hast du für ein Westbild, muss er antworten: Wir haben kein Fernsehen. Ich höre Radio. Das reicht mir. Er kennt weder Traumschiff noch Schwarzwaldklinik noch Denver Clan. Aber auch Aktuelle Kamera und Schwarzer Kanal sind ihm fremd.

      In Westberlin lebt Tante Veronika, die Schwester seiner Mutter. Sie versorgt die Familie mit Kaffee und Literatur. Als Patentante – mit Bedacht für beide Geschwister erwählt – erfüllt sie kleinere, später auch größere Kinderwünsche und ist Ziel und Ausgangspunkt für alle Westreisen der Familie, vor der Mauer natürlich. Wenn sie zu Besuch kommt, schmuggelt sie gern einen SPIEGEL unter ihrer Diakonissentracht über die Grenze. Vitaminkapseln und Herzpräparate für den Vater mischt sie unter die Zuckereier im Osterpäckchen. Und über die Korrespondenz, die die Schwestern mit nahezu täglichen Eilbriefen hin und her pflegen, hält sie die Familie über die Tagespolitik auf dem Laufenden. Sein Vater nennt sie: Schwester für Politik und Zeitgeschichte.

      Der Brandt wird einmal Kanzler werden, schreibt sie. Der Adenauer hat zwar mit den Franzosen Frieden geschlossen und die letzten Gefangenen aus Russland zurückgeholt. Aber er hat Angst vor den Russen. Angst ist kein guter Ratgeber. Der Brandt kennt das Leben in der geteilten Stadt und weiß, wie man mit den Russen umgeht. Der wächst in Bonn, glaub mir. Außerdem respektieren ihn die Ehrlichen unter den Kommunisten, weil er in Norwegen im Widerstand war …

       Der Heinemann hat neulich gesagt, wir müssen endlich aufhören, immerfort auf Wachstum zu setzen. Irgendwann kippt unser Wohlstand um. Stattdessen sollten wir Reserven schaffen, damit der Sozialstaat noch hält, wenn sich die Dritte Welt emanzipiert. Wenn das man nicht schon zu spät ist! …

       Ob euer Ulbricht noch lange zugucken wird, wie die Kirche in der Zone von der Westkirche unterstützt wird? Diese Atheisten warten doch nur auf eine Gelegenheit, der Kirche den Garaus zu machen.

      Im Übrigen, wenn die Alliierten nicht in West-Berlin säßen, die würden nicht davor zurückschrecken, auch noch durch Berlin eine richtige Grenze zu ziehen

      Als Kind darf er manchmal, wenn sein Vater in Berlin zu tun hat, mitfahren, im Dienstauto, einem Mercedes 170 S. Der steht heute in einem sächsischen Verkehrsmuseum. Herr Friebel, fahr mal hundertzwanzig, drängelt er dann. Und Herr Friebel gibt Gas und saust an den anderen Autos vorbei. (Wenn seine Mutter mitreist, ruft sie gleich: Nicht so schnell, Herr Friebel, da wird einem ja ganz schlecht. Außerdem wollen wir doch heil ankommen.) Ihn bringt der Vater zu Tante Vero, während er seinen Amtsgeschäften nachgeht. Wenn er abends bei Tante Veronika eintrifft, ist Georg meistens schlecht, so viel Schokolade und Marzipan hat er gegessen. Jede Schwester in Tante Veronikas Krankenhaus will dem Neffen aus dem Osten etwas Gutes tun. Meist ist es zu viel des Guten.

      Apropos Schokolade. Er zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf und angelte nach der Schokoladentafel, die er sich eingesteckt hatte. Heute nur noch schwarz und bitter, von 75 Prozent aufwärts. Ein Stück, mehr nicht. Dafür waren die Stücken jetzt viermal so groß.

      Langsam ließ er den Leckerbissen auf seiner Zunge schmelzen. Draußen fegte eben ein Kleinstadtbahnhof vorüber, zu schnell, als dass man den Ortsnamen hätte entziffern können.

      Wo war ich eben? Westberlin, richtig.

      Seinen letzten Besuch in Westberlin unternimmt er trampenderweise mit Ulrike, seiner zweiten Liebe, wenn man die erste mitrechnen darf. Die heißt Karin und teilt mit ihm die Schulbank von der ersten bis zur dritten Klasse, bleibt ihm aber treu, bis er in den Chor kommt. Dass sie sich aus den Augen verlieren, schreibt er sich später als sein Versäumnis zu. Sie lässt ihn noch Jahre später über seine Mutter grüßen.

      Ulrike kann man nicht mehr eine Kinderliebe nennen, weil er inzwischen ausgesprochen männliche Gefühle in sich verspürt. In Westberlin gibt es 1960 eine große Expressionismus-Ausstellung. Da muss er hin. Und Ulrike, die sich mehr für Georg als für Literatur und Kunst interessiert, muss mit. Sie erhalten natürlich getrennte Zimmer auf unterschiedlichen Fluren im Christlichen Hospiz in