Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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wie gesagt, ich schreibe ein Buch über den Herbst 1989 in den Städten des Nordostens. Ich will natürlich nicht wieder all die Fakten zusammentragen, die schon zehnmal veröffentlicht sind. Ich will etwas erzählen von euern Zielen, Hoffnungen, Erwartungen, die euch damals getrieben haben. Dabei interessieren mich weniger die Programme und Grundsatzerklärungen, die in deiner Landesstelle gesammelt werden, mehr die internen Debatten, die nicht protokollierten Positionen der einzelnen Protagonisten.

      Du erwartest also, dass ich sozusagen unser Innenleben bloßlege, soweit ich mich überhaupt erinnern kann, warf er ein.

      Du wirst dich doch wohl erinnern, was du damals dachtest und wolltest. Und von einigen anderen, denen wenigstens, mit denen du dich am meisten gestritten hast, auch.

      Wieso glaubst du, dass ich mich mit anderen gestritten habe, fragte er.

      Weil ich dich kenne?

      Ach, guck mal an! Jetzt glaubst du, mich zu kennen?

      Du hast es mir damals selber erzählt. Zum Beispiel, dass du zu denen gehörtest, die schon im Herbst 1989 die alten SED-Spitzenfunktionäre austauschen wollten. Oder dass du, als die Stasi entmachtet wurde, deren Akten lieber von einer Bürgerwache als von der Polizei schützen lassen wolltest.

      Ja, das stimmt.

      Gut, dann bleiben wir gleich an diesem Punkt: Bürgerwache. Wie hattet ihr euch das vorgestellt?

      Die Polizei war gefügiges Organ der Staatsmacht.

      Ist das nicht immer ihr Job, unterbrach sie ihn.

      Ja, schon. Aber im Herbst 1989 machten sich manche von uns kurzzeitig Hoffnung, sie würde sich auf unsere Seite schlagen. Anlass dazu hätte es gegeben.

      Nämlich?

      Zum einen hatte die Polizei ziemlichen Rochus auf die Stasi, weil die sie die Drecksarbeit machen ließ: schön in Uniform Streife gehen, Stadien absichern, Fahrzeuge und Personen kontrollieren, Genehmigungen erteilen, vor allem verweigern, Hausbewohner ausfragen usw., während die Stasi in Zivil sich das herauspickte, was für sie operativ interessant war. Die Stasi spielte sich ja als eigenständiges Untersuchungsorgan auf und konnte jederzeit polizeiliche Aufgaben, selbst bei laufenden Ermittlungen, an sich ziehen. Der Dumme, vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung, war immer die Polizei.

      Diogenes, flüsterte sie und schaute zur offenen Küchentür.

      Er wandte sich um und erblickte eine langhaarige weiße Katze, die im Türrahmen stehen blieb und erstaunt zu ihm aufschaute, ehe sie, so lautlos, wie sie gekommen war, den Raum durchquerte und sich auf eine silberne Schale vor dem Spültisch zubewegte, auf der eine bräunliche Masse lag.

      Diogenes heißt sie?

      So hat sie mein Student getauft, als er das verschreckte Tier in einer Tonne fand und mitbrachte.

      Dann tritt ihr mal nicht zu sehr in die Sonne, sagte er.

      Heiße ich Alexander, fragte sie zurück und nahm den Faden ihres Gesprächs wieder auf: Und der andere Grund?

      Weil die Polizei innerhalb ihrer eigenen Reihen eine Politische Abteilung besaß, die – wie die Stasi – mit geheimdienstlichen Methoden ermittelte und Inoffizielle Mitarbeiter führte, vor denen sich der einzelne Vopo auch nicht sicher fühlen konnte.

      Ich verstehe, sagte Katharina. Dabei machte sie sich auf immer neuen Blättern mit fliegender Schrift Notizen. Das also war der Grund?

      Daraus schlossen etliche von uns, fuhr er fort, die Polizei werde im Kampf gegen die Stasi nicht uns, sondern Partei für uns ergreifen.

      Und? Wenn ich richtig gelesen habe, hat sie das ja auch gemacht.

      Dem Anschein nach, ja. Aber nach den Prügelorgien von Dresden und Berlin konnte sich jeder denken, dass das eher ein taktisches Manöver zur Rettung der eigenen Haut war. Tatsächlich sind auch unter Polizeischutz noch immer Akten aus dem Stasi-Archiv verschwunden. Deshalb wünschten einige von uns, zu denen auch ich gehörte, eine aus Bürgerbewegten rekrutierte Wachmannschaft.

      Bewaffnet?

      Bewaffnet, allerdings. Es waren ja noch viele Waffen in Umlauf, von alten Stasi-Leuten und SED-Funktionären, die ab einer bestimmten Position über eine Pistole verfügten. Vor einer wehrlosen Wachmannschaft, fürchteten wir, würden sie keinen Respekt haben.

      Und das du als alter Pazifist, fragte Katharina mit spöttischem Unterton.

      Ich weiß, ich weiß. Viele von uns waren Pazifisten. Deshalb haben wir ja unsere Demonstrationen unter dem Motto Keine Gewalt durchgeführt, damit potenzielle Gewalttäter, von welcher Seite auch immer, nicht zum Zuge kämen.

      Eine Wachmannschaft aus der Bürgerbewegung heraus wäre einem großen Zugeständnis gleichgekommen, für bekennende Pazifisten quasi ein Opfer zugunsten der historischen Wahrheit. Dieses Archiv musste, so wie es war, erhalten bleiben. Ich war fest davon überzeugt, der Polizei die sensiblen personenbezogenen Unterlagen anzuvertrauen, käme einer Aktenvernichtung à la Mielke gleich, nur mit anderem Etikett. Im Übrigen waren wir ja nicht alle Wehrdienstverweigerer. Die meisten von uns konnten mit einer Waffe umgehen, Gediente also, die erst die Volksarmee zu Pazifisten gemacht hatte.

      Offensichtlich hat aber die polizeiliche Bewachung in den ersten Tagen und Nächten eine Aktenvernichtung im großen Stil verhindert. Kann man das so sagen?

      Richtig, gab er zu. Heute bin ich froh, damals überstimmt worden zu sein. Wer weiß, falls es überhaupt dazu gekommen wäre, welche Überraschungen wir dann erlebt hätten. Wir waren uns ja auch nicht aller unserer Mitstreiter und Mitstreiterinnen sicher. Aber du wolltest ja von mit hören, worüber wir gestritten haben.

      So ist es, sagte sie und verteilte weitere Notizzettel über den Tisch.

      Dann ging es um die Frage der Absetzung alter SED-Funktionäre und eventuelle Interimsbesetzungen, um den Streit über die Kaderabteilungen in den Volkseigenen Betrieben, um die ersten Gespräche zwischen Volksarmee und Bürgerbewegungen, die umstritten blieben und um die Neutralisierung der Medien und Parteizeitungen sowie erneut um die Frage einer schnellen oder verzögerten Wiedervereinigung.

      Katharina musste inzwischen bestimmt an die dreißig Blatt Papier mit Notizen versehen haben.

      Mehrmals mahlte die Espressomaschine krachend und knirschend Bohnen und ergoss befreit grunzend ihr braunes Gebräu in Katharinas dünnwandige Goldrandtässchen, die so winzige Henkel haben, dass man sie von Puppentassen kaum unterscheiden kann.

      Die Mittagszeit war schon lange vorüber. Er fühlte sich nicht müde, aber matt. Er mochte nicht mehr reden, nicht mehr nachdenken müssen. Er verspürte das Bedürfnis, eine Stunde an die Luft zu gehen. Sie wollte sich ihm anschließen, aber er lehnte ab. Er brauche eine Stunde für sich, sagte er. Sie quittierte diese Deutlichkeit mit dem ihm bekannten Blick, der Trotz und Kränkung vereinigte und dann eben nicht! zu sagen schien.

      Er zog bereits seine Jacke an, wand sich den Schal um den Hals und nahm seinen Lenin vom Haken, in Erwartung eines neuen Angebots.

      Da gab sie sich einen Ruck, schaute ihn an und erklärte mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete: Du gehst jetzt und machst, was du willst. Ich habe auch zu tun. Heute Abend, sagen wir 20 Uhr, hole ich dich vom Hotel ab und lade dich zum Abendessen ein. Mhm, machte er.

      Ich verspreche dir auch, ich bringe meine Mappe nicht mit. Vielleicht erzählen wir uns ein bisschen von den anderen Dingen des Lebens.

      Gut, sagte er. Du denkst dir ein Lokal aus?

      Natürlich, sagte sie.

      Als er die Stufen hinabsprang, hörte er die Haustür ins Schloss fallen.

      Georg brauchte Abstand. Die physische Nähe zu Katharina weckte in ihm Gefühle, die er verloren glaubte. Es bestand wohl keine Gefahr einer erneuten inneren Annäherung, obwohl er auch das nicht völlig ausschließen konnte. Was er aber klarer als je zuvor wahrnahm, er war mit dieser Ost-West-Beziehung, die so abrupt und glanzlos geendet hatte, noch nicht ganz fertig. Dieselben