Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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halb geöffnete Türen, geheimnisvolle Winkel, der Teppich, auf dem sie ihn mit dem Larousse zu erschlagen versuchte, weil er behauptete, ihr Französisch höre sich chinesisch an. Immer wieder hatte er sie anschauen müssen, während vor seinem inneren Auge Bilder zu Leben erweckt wurden, die sein Unbewusstes sorgsam aufbewahrte. Ihr schmaler, weißer Hals, den er in jener Zeit wer weiß wie oft geküsst hatte und den er sich meist erst erobern musste. Nur selten gönnte sie ihm den freien Anblick dieses sanft aus den Schultern wachsenden Kelches, auf dem ein langer, schmaler Kopf ruhte, da sie ihr dunkelbraunes Haar meist offen trug. Heute hatte sie es nach hinten gebunden und mit mehreren Hornklammern festgesteckt. Er sah ihre weichen und seltsamerweise ungeschminkten Lippen, an deren kaum merklichen Verformungen er noch immer ablesen konnte, was in ihrem Kopf vor sich ging, ihre gerade Nase, deren Flügel leicht zu beben begannen, wenn sie sich aufregte, aber auch wenn sie etwas als lustig empfand, ihre wasserblauen Augen, die einen festnageln konnten, bis eine Frage endgültig geklärt war und ihr versöhnliches Grübchen in der linken Wange. Aber während er sie anschaute, sah er zugleich die zornige, die ungerechte und jeder Logik zuwider argumentierende, verletzende und verletzen wollende Katharina. Dann wurde der Mund zum Strich, die Nase zum Horn, die Augen stießen Blitze hervor und die Ohrläppchen glühten. Es kam ihm vor, als sei ihre Beziehung so stehen geblieben, wie sie endete. Weder seine Affäre mit Petra, der Nachtigall von Magdeburg, noch seine inzwischen in ruhigeres Fahrwasser geratene Beziehung mit Ariane, schien daran gerührt zu haben. Das erschreckte ihn.

      Er schlug eine Straße ein, die zur Weihe führte. Die Häuser zu beiden Seiten standen in einer Front, und nur ein schmaler Bürgersteig trennte sie von der kaum befahrenen Straße. Niedrige Fenster luden ein, Blicke in fremde Wohnstuben zu werfen, soweit nicht Stores und knallige Kunstblumengestecke die Sicht versperrten. Ein alter Mann saß seitlich in einem Fensterwinkel, eine karierte Decke über den Schoß gebreitet, und schaute freundlich zur Straße hin. Georg hätte ihn gar nicht wahrgenommen, wenn ihm nicht eine winkende Hand hinter der Scheibe Bewegung signalisiert hätte, derer er sich erst bewusst wurde, als er bereits vorüber war.

      Die Weihe floss ruhig dahin. Die nach dem letzten Hochwasser aufgeschütteten Dämme zeigten noch immer erst spärlichen Bewuchs zum Wasser hin. Georg folgte dem Verlauf des Flusses. Zwei Achter zerhackten mit zackigen Kommandos die Luft, als sie gegen den Strom an ihm vorüberrauschten. Eine Zille glitt still neben ihm her und schob gurgelnd ihre Bugwellen an den Fuß des Dammes. Ihr folgte mit leisem Tuckern eine weitere, auf deren Achterdeck Pfeife rauchend ein glatzköpfiger Mann am Steuer stand. Eine Frau hängte Wäsche auf die Leine, die von seinem Ruderstuhl bis achtern gespannt war. Auch eine Form, sein Fernweh zu stillen, dachte Georg, immer auf dem Wasser, von Basel nach Dordrecht oder von Riesa nach Hamburg oder von Passau nach Bratislava. Er stellte sich dieses scheinbar zwanglose Schippern auf Europas Wasserstraßen romantisch vor, obwohl die Beschwernisse des Schifferalltags nicht außerhalb seines Vorstellungsvermögens lagen. Natürlich würde es Lade- und Löschtermine geben, Frachtbriefe und anderen Bürokram, nervige Enge in der Kajüte, falls es eine solche überhaupt gäbe, schlechte Sicht bei Nebel und Regen, unruhige Nächte und Gefahren bei Flussengen, Niedrigwasser oder Eisgang. Aber der Blick vom Wasser auf die Landschaften müsste all das aufwiegen, Auen und Weinberge, Felsen und Burgen, Stadtbilder und unberührte Natur. Ganz noch in Gedanken hob er die Hand und winkte. Niemand winkte zurück. In der Ferne sah er Hemden auf einer unsichtbaren Leine flattern.

      Solche Gedanken sind ihm nicht neu.

      Er sitzt auf den Elbwiesen, den Blick zur Hofkirche und Brühlschen Terrasse gewandt, das Japanische Palais im Rücken. Die Sonne senkt sich eben über Friedrichstadt, als ihn mit dunklen, schweren Schlägen das Geläut der Kreuzkirche erfasst. Die vertraute Fremdheit der bronzenen Klänge bannt ihn an seinen Platz. Mit geringfügiger Verspätung gesellen sich die Glocken der Kathedrale hinzu, andere fallen ein; und als die Dreikönigskirche in seinem Rücken ihr Lied anstimmt, bebt sein Herz, und seine Arme, mit denen er die angewinkelten Beine umschließt, vibrieren. Muss dieses Tosen in den Lüften nicht auch einen Atheisten ergreifen, denkt er und weiß zugleich, dass im Rathaus darüber beraten wird, wie man das Kirchengeläut untersagen könne. Angeblich liegen hinreichend Beschwerden von Werktätigen vor, die sich dadurch gestört fühlen, weil sie in Schichten arbeiten oder Glockengeläut für ein Relikt aus Zeiten religiöser Volksverdummung halten.

      In dem Moment tuckert eine Zille vorüber. Ein Mann auf Deck hält die Hände an die Ohren, als wolle er diese bombastische Begrüßung in sich speichern und mit nach Hamburg nehmen. Nimm mich mit in den Westen, ruft Georg: Nimm mich mit!

      Er kann ihn nicht hören. Und es ist gut, dass auch kein anderer Georgs Ruf verstehen kann.

      Polternd trieb eben ein rostiges Fass flussabwärts, schlug auf die Steine am Ufer, riss sich wieder los und krachte wenige Meter weiter erneut aufs Gestein. Georg stellte sich vor, eine Hand reckte sich aus dem Fass zum Ufer und eine knorrige Stimme riefe: Boätheite! Boätheite! Dann erschiene das greise Haupt des Diogenes am Tonnenrand und ängstliche Augen suchten den Horizont nach Hilfe ab. Und Georg würde hinzuspringen und rufen: Erchomai! Erchomai! Dann wäre sein Griechisch auch schon bald am Ende.

      Er schaute noch einmal zum Fluss hinab. Das Fass war kopflos weiter getrieben. In der Ferne glaubte er die Türme von St. Severin in Nahstedt zu sehen. Er nahm den nächsten Weg zurück zur Stadtmitte und lief, wie er erst jetzt bemerkte, direkt auf den Dom zu. Schon von Weitem sah er die Markisen der Marktstände. Und noch etwas erkannte er, das ihn Schlimmstes befürchten ließ. Wenn er jetzt nicht in eine Seitengasse auswiche, geriete er direkt in die Falle. Eine dichte Menschenmauer verriet, neben dem Markttreiben würde auch Straßentheater anzutreffen sein. Georg liebte Straßentheater in jedweder Gestalt seit Kindertagen. Aber diese Liebe hatte sich in den letzten Jahren zu einer verhängnisvollen Wechselbeziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn er sich in den Kreis der Zuschauer einreihte, wurde ausgerechnet er in die Mitte gezerrt und zum Mitspiel genötigt. Die ersten Male fand er das noch amüsant, doch der kleine Kitzel verlor sich bald.

      In Münchens Neuhauser Straße zum Beispiel muss er einem Wildfremden seine Umhängetasche anvertrauen, um, zusammen mit einer Zuschauerin, an einer kleinen Kriminalkomödie teilzunehmen, die ein muskulöser, schrill schreiender Amerikaner vorgibt. Auf seine knappen Anweisungen hin soll zuerst die Frau ihn, dann Georg sie und schließlich der Amerikaner Georg erschießen. Das Lustige daran ist weniger das Spiel als die Art, die einzelnen Schritte – amerikanisch-englisch natürlich – zu kommentieren. Die Lachsalven aus dem Publikum verraten ihm, der nur die Hälfte versteht, das Spiel kommt an – und – im Westen ist Englisch keine wirkliche Fremdsprache mehr. Am Ende jedenfalls liegen alle drei ohne zu atmen auf dem Asphalt, bis sie der Applaus wieder zu Leben erweckt. Georg freut sich über Münchens sprichwörtliche Sauberkeit; denn er trägt seine neue Hose und das neue Jackett erst den zweiten Tag. Und die Konferenz, die er heimlich besuchen will, beginnt erst morgen. Offiziell befindet er sich zum 75. Geburtstag seiner Tante Vero in Westberlin. Ein andermal muss er, in die Mitte gerufen, einem Jongleur, der auf seinem Einrad mit ständigem Vorwärts- und Rückwärtstreten sein Gleichgewicht zu halten sucht, erst zwei, dann eine dritte, dann eine vierte Keule zuwerfen. Dass Georg, als dieser ihm abschließend die Keulen zurückwirft, nicht eine einzige fängt, soll der allgemeinen Belustigung dienen, auf seine Kosten, wie er findet. Eine Frau in der ersten Reihe, in der einen Hand eine Bratwurst, in der anderen einen Bierbecher, lacht so laut und hässlich, dass sich Georg noch einmal bückt und ihr eine Keule zuwirft. Verblüfft, wie sie ist, lässt sie ihre Wurst und ihren Becher fallen, um die Keule zu fassen, was ihr ebenso wenig gelingt. Lächelnd bahnt sich Georg einen Weg durch die Zuschauer.

      Nach dem Vorfall in Hamburg hält er sich bedeckt. Georg befindet sich auf einer Städtereise durch Norddeutschland, wie sie in den Neunzigern häufig angeboten werden. Mit einem Lehrerehepaar aus Stendal, das im Bus hinter ihm sitzt, kommt er in diesen Tagen viel ins Gespräch. In Hamburg schlendert er mit Urte und Karsten, so heißen sie, durch die Stadt. Dabei erzählt er ihnen von seinem Missgeschick mit Straßentheater. Belustigt und etwas ungläubig hören sie ihm zu, während sie zum Rathaus gelangen. Auf dem Vorplatz hat ein Jongleur mit diversen Utensilien eine kreisrunde Fläche markiert, um die sich ein Menschengürtel bildet. Alles starrt gebannt auf den jungen Mann, der, auf dem Einrad sitzend und mit den Beinen strampelnd, diesmal rote Bälle in die Luft wirft. Kaum sind sie herangetreten, hören