Rabengelächter. Viona Kagerer

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Название Rabengelächter
Автор произведения Viona Kagerer
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Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783962298500



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mit jedem Schritt, mit dem wir uns meinen Eltern näherten, wurde mir das Herz schwerer; was eben noch wie ein wirrer Traum kurz vor dem Erwachen schien, war jetzt Realität geworden; mein Gehirn wusste und akzeptierte, dass das alles echt war, und dafür hasste ich es. Ich wollte nicht irgend so ein Mischwesen sein. Halbgöttin-Halbalb, das hatte schon was, aber nur solange man es nicht selbst war. Ich blickte da irgendwie nicht ganz durch und kam mir wie im falschen Film vor.

      Espen war stehen geblieben und hielt mir einen Ast zurück, sodass dieser mich nicht streifen und meine Haut zerkratzen würde. Ich ging schweigend an ihm vorbei. Seinetwegen hatte ich meine nicht sehr erfolgreiche Flucht abbrechen müssen und musste nun wieder zurück nach Hause, da sollte er sich bloß nicht einbilden, dass er das wiedergutmachen konnte, indem er mir einmal einen Ast zurückhielt! Ich war schon gut drei Schritte weitergegangen, als seine Stimme das eisige Schweigen durchbrach: „Bist du zu allen so, die dir das Leben retten?“

      Oh bitte, nicht doch! Was sollte jetzt diese Ich-bin-beleidigt-weil-du-nicht-Danke-gesagt-hast-Nummer? Ohne zurückzuschauen, meinte ich lakonisch: „Nur zu denen, die mich nicht um Erlaubnis gefragt haben.“ War ich schon immer so unhöflich gewesen?

      Und da war es, mein Heim. Wir waren angekommen. Ich blieb stehen, atmete tief durch und wollte mir gar nicht vorstellen, was für ein Donnerwetter mich jetzt erwarten würde. Mit einem Blick auf die nachtschwarzen Raben, die nur durch das Aufblitzen ihrer Augen im Licht erkennbar waren (ja, ich leuchtete immer noch), murmelte ich leise: „Trautes Heim, Glück allein.“

      Ungeduldigen Schrittes ging sie auf und ab. Ihre langen Gewänder strichen bei jeder Bewegung mit einem sanften Rascheln um ihre Beine. Nur das hielt sie davon ab, zu glauben, dass dies ein Albtraum war. Nie musste sie lange auf eine Auskunft warten, nie! Sie ging die Stufen zu ihrem metallenen Thron hinauf und ließ sich auf die gepolsterte Oberfläche fallen. Ein Kratzen an der hohen, morschen, modrigen Tür ließ sie jedoch wieder aufspringen. Mit einem hastigen Wink ihrer Hand schwangen die beiden Türflügel auf. Durch den Luftzug drang der Geruch von Schwefel und säuerlich riechender Verwesung herein. In dem Schatten des Türrahmens erfassten ihre scharfen Augen eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt, auf die sie nun zueilte. Als befürchtete die Gestalt, geschlagen zu werden, hob sie ihre Arme schützend vor das Gesicht. Doch sie hatte andere Absichten. Sie packte die Gestalt, den von ihr ausgehenden Gestank nicht beachtend, an den Schultern und zerrte sie in einen helleren Teil des gewaltigen Saales. Sie blickte auf das unschöne Gesicht ihres Gegenübers. In dem gedämpften Licht konnte man das vermodernde Fleisch und die blanken Knochen aufblitzen sehen.

      „Berichte!“, forderte sie ihn rüde auf. Doch er gestikulierte nur stöhnend mit den Händen, kein Wort kam über seine eingefallenen Lippen. Das brauchte es auch nicht. Sie verstand auch so. Die Ihren hatten versagt. Und wie immer war es der Botschafter, den der Zorn der Mächtigen traf. Mit einem beinahe gleichgültigen, wenn nicht kalten Blick sah sie dem Torso beim Ausbluten zu und trat den abgerissenen Kopf beiseite. Dann wischte sie sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht. Dabei kratzten die Fingernägel über ihre Wange und hinterließen einen kleinen, feinen Schnitt. Ein dünnes Blutrinnsal floss ihren Finger entlang, und während sie zusah, wie sich das Blut an ihrer Fingerspitze sammelte, wich der angespannte Gesichtsausdruck einem feinen Lächeln. Was tat der Frieden, wenn es Krieg gab? Er starb. Und Anouk würde es ihm gleichtun, sie würde sterben.

      Der Blutstropfen fiel herab.

      Kapitel 10

      Mein „Vater“ hüllte sich in demonstratives Schweigen und meine Mutter weinte, was mir alles hätte passieren können und dass ich jetzt tot sein könnte. Im Nachhinein tat es mir leid, einfach so mir nichts, dir nichts verschwunden zu sein, ohne Auf Wiedersehen gesagt zu haben, doch als mein Vater mich darauf ansprach, schaute ich ihm, dem Menschen/Gott, der nie für mich da gewesen war, in die Augen und meinte: „Das nächste Mal werde ich Tschüss sagen.“

      Ich drehte mich um und ging die Treppen ins Bad hoch, knallte die Tür zu und setzte mich mit einem tauben Gefühl auf den Boden. Ich zog meine Beine an und legte mein Kinn auf meine Knie. Ich war so wütend! Da la, mein Vater, ein ach so toller Gott, der es sechzehn Jahre nicht für nötig gehalten hatte, ein Lebenszeichen von sich zu geben, einfach so zu uns, stellte mein Leben auf den Kopf und erwartete dann auch noch, dass ich ihm jubelnd um den Hals fiel! Ich stand auf und drehte mich zum Spiegel herum. Oh mein Gott! War das ich?! Meine Haare quollen unter meiner Mütze hervor und hatten den halben Wald mitgenommen. Der Dreck in meinem Gesicht kam einer Kriegsbemalung gleich und durch das vermaledeite Leuchten sah ich aus wie eine dreckige Glühbirne. Ich zog meine schmutzigen Klamotten aus und duschte. Als ich mich endlich von dem ganzen Schmutz befreit fühlte, wickelte ich mich in ein übergroßes Handtuch ein und widmete mich meinen Haaren.

      Meine Haare nass und entknotet, das Handtuch immer noch um mich gewickelt, drückte ich die Klinke der Badezimmertür herunter und stieß direkt mit diesem Espen zusammen, der sich wie ein Türsteher vor mir aufgebaut hatte. „Was machst denn du hier?“, fragte er. Die bessere Frage wäre wohl gewesen, was er immer noch hier machte. Hinter ihm tauchte Odin auf. „Espen ist ein angesehener Schüler der Halvarschule, und er ist mein persönlicher Schüler“, Odin klopfte ihm mit väterlichem Stolz auf die Schulter. Ein kurzer Stich der Eifersucht durchzuckte mich. „Er wird dein Mentor sein, also habe ein bisschen mehr Respekt vor ihm. Er ist auf meinen Befehl hier, um sicherzugehen, dass du nicht noch mehr unüberlegte Dinge tust.“ Unüberlegte Dinge? Ich?

      Espen lächelte mich nur herablassend an und zog eine Augenbraue hoch. „Aber ich denke, in diesem Aufzug würdest selbst du nicht einen erneuten Fluchtversuch wagen.“ Mit brennenden Wangen wurde mir bewusst, dass ich nur in einem Handtuch eingewickelt vor meinem fremden Vater und einem gut aussehenden Krieger stand. Ich warf meine Haare über die Schulter und rauschte mit einem „Seid euch da mal nicht so sicher!“ und einem gemurmelten „Spanner!“ in mein Zimmer.

      Als die Tür mit einem befriedigenden Knall hinter mir zufiel, setzte ich mich auf mein Bett und stellte mir, um den Überblick zu behalten, eine Personen- und Sachverhaltsliste auf. Also: Mein Vater, er war gut aussehend. Das war’s dann aber auch schon bei „positive Eigenschaften“, wenn man „Hauptgott“ nicht dazuzählte. Er wollte mich auf diese Schule schicken, auf der seltsame Kinder wie ich das ABC lernten, nur war ich anscheinend noch seltsamer als die anderen, da meine Mutter und er ja „Romeo und Julia“ hatten spielen müssen. Kommen wir zu meiner Mutter: Soweit ich bis jetzt wusste, war sie eine Lichtalbi/Elfe und hatte mir freundlicherweise das Tausend-Watt-Leuchten weitervererbt (wie konnte man das nur ausstellen?). Sie stand natürlich ganz und gar hinter der Entscheidung meines göttlichen Vaters, wie das nach sechzehn Jahren Trennung eben so ist. So weit, so gut. Espen hatte mir das Leben gerettet und sich nach ein paar Stunden Bekanntschaft schon vor meiner Badezimmertür positioniert. Nicht zu vergessen: Er war so schön, machohaft, herablassend und verwirrend, dass es fast schon wehtat. Und dann war da noch ich. Alles hatte sich verändert, trotzdem hieß ich weiterhin Anouk Nelson, und war so blass, dass ich eher einem Vampir als einem gebräunten Gott ähnelte. (Wer weiß, vielleicht war Dracula ja mein Onkel?) Ich war eine Halbgöttin-Halbelfe (das konnte doch alles nicht wahr sein!!!) und hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles hier bedeuten sollte. Ich wurde vor ein paar Stunden von einer potthässlichen Kreatur angegriffen und verfolgt, und wenn ich ehrlich war, herrschte in meinem Kopf so ein Durcheinander, dass mir das komplett egal war.

      Ich musste, ob ich wollte oder nicht, auf diese Schule und Espen sollte mein Mentor sein. Das konnte ja heiter werden, aber wer weiß, vielleicht war er ja gar nicht so übel, wie ich dachte. In mir krampfte sich alles zusammen. Ich hatte Angst. Angst, wie ich mich in dieser Schule für Abnormale einfinden sollte. Ich war noch nie auf einem Internat gewesen und es war immer schwer für mich gewesen, Anschluss zu finden. Ich konnte mit Gleichaltrigen und ihrem komischen Verhalten einfach nichts anfangen. Die meisten sechzehnjährigen Mädchen waren albern und selbstverliebt und vertuschten hinter ihrem Beste-Freundinnen-Getue nur ihren Hass und ihren Neid und sprachen eine andere Sprache. In dieser hieß: „Hi, der neue Look steht dir, kauf dir mehr von diesen Sachen!“ so viel wie: „Oh mein Gott, das sieht so