Rabengelächter. Viona Kagerer

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Название Rabengelächter
Автор произведения Viona Kagerer
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Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783962298500



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in die Augen schaute. Prinzipiell zählte ich mich eher zu den Menschen, die andere Menschen hassten und es auch bei jeder Gelegenheit betonten. Ich war jemand, der sich in der Regel allein wohler fühlte als mit anderen. Wie sollte ich das dort alles nur schaffen? Was lernte man denn an so einer Schule? Ich wollte später studieren, aber nicht Nordische Kultur, sondern Biochemie (urteilt nicht zu hart über mich).

      Ich stand auf und suchte mir Anziehsachen heraus. Zugegeben, nicht ganz so schlicht wie sonst, ich musste schließlich klarstellen, dass dreckige und zerrissene Kleider nicht mein Markenzeichen waren. Also zog ich einen grünen Pullover mit Paillettenstickereien an, der gut mit meinem braunen Haar harmonierte. Die Hose blieb aber wie üblich schwarz und mein Schmuck beschränkte sich auf eine flache, bronzefarbene Armbanduhr, die größer als mein Handgelenk war, und zwei rotgoldene Ohrringe, die meine Mutter in kleine Schnörkel geschmiedet hatte. Ich tupfte mein nasses, schweres Haar ab und sah zufrieden in dem Schrankspiegel, wie dieses wie ein glatter, leicht welliger Vorhang über meine Hüfte fiel. Ich ließ das Handtuch auf meinem Bett liegen und öffnete meine Zimmertür. Davor stand kein Espen mehr. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

      Auf dem letzten Treppenabsatz angekommen, hörte ich die leisen Stimmen von meiner Mutter, Odin und Espen. Angestrengt lauschend, blieb ich stehen und hörte das tiefe Brummen meines Vaters: „Wir müssen sie so schnell wie möglich in die Halvarschule bringen, dort ist sie so sicher wie sonst nirgendwo. Selbst Walhalla ist zurzeit nicht so gut geschützt wie diese Schule.“ Schweigen. „Espen, kann ich mich darauf verlassen, dass du sie nicht aus den Augen lassen wirst?“

      „Natürlich, Odin, das steht außer Frage.“

      „Und pass auch im Hinblick auf ihre Mitschüler auf; viele werden ihr gegenüber feindlich gesinnt sein.“

      „Ich werde sie nicht aus den Augen lassen!“

      „Und denk dran, sie darf auf gar keinen Fall in eine romantische Beziehung verwickelt werden, das würde ihren Starrsinn nur noch weiter bestärken!“

      „Mach dir keine Sorgen, das ist ja dann auch in meinem Interesse.“

      Nun schaltete sich auch meine Mutter ein. „Unterstehe dich, Odin, dich in die Zukunft meiner Tochter einzumischen! Du wirst in meinem Haus nicht über dieses Thema reden!“ Verwirrt setzte ich mich leise, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen, hin. Was meinte mein Vater damit, dass ich keine romantischen Beziehungen haben dürfe? Glaubte er ernsthaft, dass ich mich an seine Sittenverbote halten würde? Und was meinte Espen damit, dass dies auch in seinem Interesse sei? Doch ich konnte nicht länger darüber nachdenken, die Diskussion in der Küche wurde fortgesetzt.

      „Hast du schon irgendeinen Hinweis, warum ein Ausgestoßener hinter Anouk her war, Espen?“

      „Nein, aber ich vermute, dass Hel ihn geschickt hat.“

      „Warum sollte die Totengöttin meine Tochter behelligen?“

      „Vielleicht weiß sie etwas, was Anouk in ihren Augen für sie wertvoll macht und ihr dazu verhelfen würde, ihre Macht zurückzugewinnen, nachdem sie letztes Jahr in die Verbannung geschickt worden ist.“ Seine Vermutung klang jedoch eher wie eine Frage. „Odin, du weißt, dass Hel nicht die Einzige sein wird, die Anouk für ihre Interessen missbrauchen würde. Da draußen sind viele Kreaturen, die sie einfach nur töten möchten, weil sie in ihren Augen ein Fehler der Natur ist. Selbst wir, ihre Eltern, wissen nicht, wie mächtig sie tatsächlich ist. Wahrscheinlich ist sie sogar mächtiger als alle Götter zusammen, du eingeschlossen. Das macht mir Angst.“

      Meiner Mutter machten diese Mutmaßungen Angst, mich bauten sie auf. Ich meine, wer hört nicht gerne, dass er sehr, sehr mächtig ist? Ich war also nicht nur irgendetwas Verbotenes, Schlechtes, sondern ich konnte auch etwas (außer zu leuchten, was mittlerweile schon wieder aufgehört hatte).

      Schließlich, als es auf der Treppe zu ungemütlich geworden war, stand ich auf und ging mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck, den ich draufhatte, in die Küche. Diese wirkte mit meinem Vater, Espen und meiner Mutter darin viel kleiner als sonst; man bekam fast den Eindruck, den Kopf einziehen zu müssen. Espen stützte sich mit beiden Armen auf den Esstisch, mein Vater stand mit dem Rücken zu mir und meine Mutter thronte in einem Armstuhl. Die Raumbeleuchtung war hell und tauchte alles in ein gleißendes Licht, von den Haaren über das Gesicht und den ganzen Körper.

      Das weiße Licht ummantelte sie und leuchtete bereits ein paar Zentimeter vor ihrer Haut. Beim Betreten des Raumes wäre ich um ein Haar über eine ganze Waffenansammlung gestolpert, allem Anschein nach „Anhängsel“ von Espen und meinem Vater. Den Kopf über diese ganzen Schwerter, Äxte und Messer/Dolche schüttelnd, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen, schlug meine Beine übereinander und grinste Espen an, der mich einfach nur schweigend und mit großen Augen anstarrte. Tja, Pessimisten können nur positiv überrascht werden. Urteile nie nach dem Äußeren. Aus alt mach neu. Und so weiter und so fort. Jedenfalls hatte ich es geschafft, dass es dem Wunderknaben die Sprache verschlug.

      „Seid ihr fertig mit eurer Kriegsberatung, oder soll ich noch mal für ein paar Minuten im Wald spazieren gehen?“ Immer schön noch einen draufsetzen, das war meine Spezialität. Während Espen sich sammelte, übernahm meine Mutter das Wort und kam somit Odin zuvor.

      „Nein, das ist nicht nötig, aber schön, dass du es zur Sprache bringst“, sagte sie mit schneidender Stimme, „denn wir reden gerade noch darüber! Wir alle hier haben über deine derzeitige Lage beraten und – ich hoffe, du verstehst das – sind zu dem Entschluss gekommen, dass du auf die Halvarschule gehen wirst, weil es dort einfach sicherer als hier für dich ist.“ Bei den letzten Worten schaffte sie es sogar noch zu lächeln, das nenne ich jetzt mal niederträchtig!

      Ich spürte, wie sich erneut der Zorn in mir hochkämpfte, sich meinen Hals hochfraß und sich auszudehnen begann, bis mir schließlich der Kragen platzte. Das immer heller werdende Leuchten im Raum, das die anderen dazu brachte, die Augen zusammenzukneifen, registrierte ich in meinem beginnenden Wutrausch gar nicht. Auch nicht, dass alle Gläser auf dem Tisch und in den Schränken gefährlich zu wackeln und zu klirren anfingen.

      „WIR werden uns über überhaupt nichts unterhalten, wenn du mich auf diese Schule verfrachtest! Ich verstehe nichts, nada! Warum wollt ihr mich in diese Freakshow stecken? Aber keiner hält es ja für nötig, mir in knappen Worten zu sagen, warum ich von einer lebendigen Leiche gejagt werde und diese Hel mich für nützlich hält. Oder was das alles“, ich deutete auf uns, „zu bedeuten hat!“

      Mein Vater war herangetreten. Mit einem strengen Gesichtsausdruck unterbrach er mich. „Ano –“

      Ich tat es ihm gleich. Schließlich war er mein Vorbild, oder? Ich machte also einen Schritt auf ihn zu, sodass wir Nase an Nase (oder eher Brust an Nase) dastanden, und funkelte ihn an. „So nennen mich nur Menschen, die ich kenne! Von daher bin ich für dich Anouk! Und wer, glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du einfach mal so nach sechzehn Jahren aufkreuzen und in meinem Leben herumwirtschaften kannst?“

      Er öffnete den Mund, doch ich hob die Hand und lachte freudlos.

      „Sag jetzt nicht ‚Ich bin dein Vater‘, denn das bist du nur rein biologisch gesehen, und bilde dir bloß nichts auf dein Hauptgott-Getue ein, denn weißt du, wie sehr mich das beeindruckt? Nicht im Geringsten!“

      Wer dachte, dass ich jetzt fertig war, der irrte. Ich hatte noch nicht einmal richtig angefangen. Und das gespielte Gähnen von Espen war taktisch mehr als unklug. Ich wirbelte zu ihm herum und richtete meinen ganzen Zorn auf ihn. Was dachte dieser hirnlose Schönling eigentlich, wer er war, und wie kam er dazu, sich einzubilden, mit über meine Zukunft entscheiden zu können? Ich spürte, wie die Wut in mir immer stärker zu brodeln begann und mein eigentliches Ich von einem zerstörerischen Mantel der Brutalität überdeckt wurde. Die Wut kroch in meine Knochen, sie kroch in meine Zähne, sie kroch überallhin, sodass es regelrecht wehtat. Und bevor Espen wusste, wie ihm geschah, rutschte ein Stuhl, ohne dass ihn einer angefasst hatte, in ihn hinein und zwang ihn mit einem schmerzerfüllten Aufkeuchen zum Hinsetzen. Eine Sekunde später löste sich mit einem Scheppern ein Dolch aus dem Waffenhaufen, schwebte, wie von Geisterhand, in der Luft durch den