Название | Rabengelächter |
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Автор произведения | Viona Kagerer |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962298500 |
„Mein Name ist Anouk, Anouk Nelson!“ Warum antwortete ich eigentlich? Der Griff wurde fester. „Ich fragte nicht, wer, sondern WAS du bist.“ Jetzt wurde ich sauer! Ich hielt nichts von Typen, die Mädchen wehtaten. Ich versuchte, mich zu befreien und ihm die größtmögliche Dosis an Schmerz zuzufügen. „Hast du keine Augen im Kopf, du nordischer Arsch? Ich bin eine verdammte Halbgöttin, deren Daddy dir den Hintern versohlen wird, wenn du sie nicht sofort runterlässt!“ Ja, so weit war es also schon gekommen! Ich drohte ihm mit meinem Pseudo-Gott-Vater und bezeichnete mich als Halbgöttin. Psychiatrie, wir kommen!
Die Rinde des Baumes riss meinen Parka auf, während der gut aussehende Brutalo mich langsam herunterließ und den Griff um meine Kehle lockerte. Ich nutzte die Gelegenheit und trat ihm mit aller Kraft auf den Fuß, doch er schien es nicht einmal zu bemerken. Wieder betrachtete er mich kritisch von oben bis unten. „Halbgöttin, sagst du?“ „Ja, eventuell! Hast du ein Problem damit? Übrigens, du hast da einen Pickel.“ Ich deutete auf seine Schläfe. Ich hatte keine Angst, nicht vor ihm – wenn er mich hätte töten wollen, läge ich jetzt hier bestimmt mit einer Axt im Schädel.
Ich linste über seine Schulter, während er sich in das Gesicht fasste. Er schien völlig aus der Bahn geworfen zu sein. In dem sanften Licht konnte ich eine Gestalt ausmachen, die in einer merkwürdig zusammengekrümmten Haltung dalag. Ich machte mich klein, schlüpfte unter den Armen von Mr. Superkrieger durch und huschte, bevor er mich wieder packen konnte, zu der Gestalt. Entsetzt sah ich das Messer in der Brust des absolut hässlichsten Wesens unter der Sonne stecken. Entgeistert drehte ich mich wieder um und zeigte anklagend auf ihn. „Du hast Hugo umgebracht! Mit einem Scheißmesser!“ Ich wusste, dass ich ihm eigentlich dankbar hätte sein sollen, dass er mir das Leben gerettet hatte, trotzdem lag da ein totes Irgendwas. Nicht dessen Tod schockierte mich, sondern dass der Tod unmittelbar in meiner Gegenwart eingetreten war.
„Das ist kein Messer, das ist ein Dolch. Und es tut mir leid, wenn ich eurer kleines Versteckspiel unterbrochen habe; vielleicht wollte Hugo ja einfach nur Hallo sagen!“ Mir reichte es, und zwar gründlich! „Ich geh jetzt! Und wehe, du folgst mir!“ Wütend wollte ich mit dem letzten bisschen Würde, das mir geblieben war, an ihm vorbeistolzieren, als er schon wieder vor mir stand. „Oh, ich werde dir nicht folgen, denn du bleibst schön hier!“ Mein Versuch, in die andere Richtung davonzumarschieren, scheiterte kläglich, und so fand ich mich ihm gegenüber auf meinen vier Buchstaben sitzend wieder. Oh, wie ich es hasste, wenn man mich bevormundete! Anscheinend sah man mir mein Missfallen deutlich an, denn er hob beschwichtigend die Hände. „Ich will nur reden.“ „Vielleicht will ich aber nicht reden!“ „Wir werden sehen“, meinte er nachdenklich und strich über sein Messer oder seinen Dolch oder was auch immer.
„Ich heiße Espen.“ Er blickte mich hochmütig an, als wäre das etwas ganz Besonderes, und ich entschloss mich, mal wieder den Kulturtrampel zu spielen und prustete los. „Also wie das Espenlaub?“ Ich ahmte ein übertriebenes Zittern nach. Er schien das allerdings nicht so lustig zu finden und sagte mit geschwellter Brust: „Eher wie Herrscher, aber das kann eine zu groß geratene Lichtalbi wie du ja nicht wissen!“ Ich schaute ihn an. „Kumpel, wenn deine Beleidigung sitzen soll, dann musst du mir erst mal erklären, was eine Lichtalbi ist …“ Moment mal, hatte mein Vater nicht so was erwähnt? Auch egal, wie es aussah, überraschte ich diesen Typen immer wieder aufs Neue. „Du hast keine Ahnung, was ein Lichtalb ist?“ „Nein, und ich kann dir auch versichern, dass ich keiner bin! Ich bin einfach nur ich, mit komischen Eltern.“ Als ich auf meine Hände schaute, kickste ich erschrocken auf; jetzt wusste ich, woher das Licht kam. Ich leuchtete, und zwar heller und strahlender als jede Christbaumbeleuchtung. Entgeistert nahm ich eine Haarsträhne zwischen meine Finger und krempelte meine Hose hoch. Ich war eine lebendige Glühbirne und hatte es in meiner Panik die ganze Zeit nicht bemerkt.
„Ich unterbreche deinen Selbstfindungskurs ja nur ungern, aber wer, sagtest du, waren deine Eltern?“ Mir war sein lauernder Blick nicht entgangen, doch ich tat ihm den Gefallen und antwortete wahrheitsgemäß: „Mein Vater ist der festen Meinung, Odin zu sein, dieser Rabengott halt, und meine Mutter hat beschlossen, eine Lichtelfe, oder wie auch immer du sie nennen willst, zu sein.“ Als ich mein Hosenbein wieder in Ordnung gebracht hatte und aufblickte, schaute ich in sein verblüfftes Gesicht „Du bist Odins Tochter?“ „Ähm, ja, ist das etwa so schwer vorstellbar?“ Er stand auf und bot mir seine Hand an, die ich erneut ignorierte. Umständlich rappelte ich mich hoch. Er verdrehte die Augen. „Komm, wir bringen dich zu deinen Eltern.“
Der Ton, in dem er das sagte, duldete keinen Widerspruch, und da ich schon einige Male die Erfahrung hatte machen müssen, dass ich sowieso nicht abhauen konnte, fügte ich mich widerwillig und brummend. Während er nun so vor mir lief, hatte ich genug Zeit, ihn ausgiebig zu betrachten. Anscheinend war da, wo er herkam, der Wikingerlook angesagt, und ich musste zähneknirschend zugeben, dass diese Kriegermode echt verdammt gut aussah. Espen trug Oberkörper-, Arm- und Beinschützer, und zu meiner großen Verwunderung Jeans und Sneakers. Als hätte er meine Blicke gespürt, wandte er sich zu mir um. „Ach übrigens, das ist kein Pickel, das ist ein Muttermal.“ Sagte es, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.
Kapitel 9
Als ich nach einer Weile nicht mehr mit seinen langen Beinen mithalten konnte, blieb ich keuchend stehen. „Um Gottes willen, ich kann nicht mehr!“ Er drehte sich zu mir um. Sein Gesicht zeigte nichts als Verachtung. „Und du willst Odins Tochter sein?“ Seine Geringschätzung traf mich kein bisschen. „Sieht ganz so aus“, erwiderte ich lässig und ließ mich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt heruntergleiten. Espen stellte sich neben mich. Nach einer Weile setzte auch er sich zu mir. „Warum bist du hier draußen gewesen, Anouk?“ Es klang schön, wie er meinen Namen aussprach, das „k“ klang wie ein „g“. Ich zuckte mit den Schultern. „Wollte weg von meinen Eltern. Sie haben versucht, mir weiszumachen, dass ich eine Art Halbgöttin wäre. Tut mir leid, aber aus dem Alter bin ich raus.“
Wieder machte sich Schweigen zwischen uns breit, bis er schließlich meinte: „Das alles ist kein Scherz! Hast du nicht genug gesehen, um deinen Eltern Glauben zu schenken?“ Es stimmte, ich hatte viel gesehen, und ich fühlte mich immer unwohler. „Was war das da vorhin für ein Ding?“ Jetzt war er es, der mich einfach nur anschaute. „Du hast nicht den leisesten Schimmer vom nordischen Leben, oder?“ Ich musste grinsen. „Ach, so was Ähnliches habe ich heute schon mal gehört.“ Er schüttelte nur den Kopf. „Das war ein Ausgestoßener, er hätte gar nicht hier sein dürfen.“ Den letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst als zu mir, und ich beschloss, jetzt nicht auch noch zu fragen, wer oder was dieser Ausgestoßene war, um nicht wie der letzte Idiot dazustehen.
Er nahm sich einen kleinen Zweig und fing an, damit im Boden herumzustochern. Ich beobachtete ihn mit halb geschlossenen Augen. Ein paar weiße und hellblonde Haarsträhnen hatten sich aus dem mit einem Lederband zusammengebundenen Pferdeschwanz gelöst und umspielten sein Kinn; seine vollen, geschwungenen Lippen waren aufeinandergepresst. Alles in seinem Gesicht hatte einen leichten Schwung: seine mandelförmigen blauen Augen, seine hohen Wangenknochen; nur seine gerade Nase bildete eine Ausnahme. Ohne aufzublicken, meinte er: „Jemanden unauffällig zu beobachten, kommt dir wohl nicht in den Sinn, was?“ Hoppla! „Bild dir bloß nichts drauf ein! Man wird ja wohl noch seine Schlüsse ziehen dürfen!“ Er schmunzelte. „Und die wären?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist arrogant, humorlos und nicht mein Typ.“ Na, wenn diese Lüge nicht zum Himmel schrie! Doch zu meinem großen Ärger fing er an zu lachen. „Na dann!“ Er beugte sich leicht vor. „Vielleicht kann ich dich ja noch vom Gegenteil überzeugen.“ War das gerade eine Anmache gewesen? Meine Wangen wurden heiß. „Viel Spaß dabei!“, murmelte ich, stand auf und marschierte davon. Erst als ich sein Gelächter hörte, merkte ich, dass ich in die falsche Richtung gelaufen war.
Meine Fußsohlen brannten, meine Beine spürte ich nicht mehr und mein Magen hing mir zwischen den Kniekehlen. Doch das Letzte,