Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
So viel Platz hatte ich bisher noch nie, denn ich lebte mit Mutter in einer engen Stadtwohnung. Sie hatte keine Zeit, mich zu beaufsichtigen, da sie arbeitete. Nun setzte ich mich aufs saubere Weglein und blickte auf den See hinunter. Er war wie ein blassblaues Spielfeld mit spitzen, weißen Hütchen besetzt; Mutter und ich machten manchmal am Sonntag das Hütchenspiel. Auch der Himmel und die fernen Hügel waren blassblau. Das Haus der Großeltern war neu und nicht nur innen, sondern auch außen weiß; ich wunderte mich, dass die Blumen, die die Großmutter in vielen Vasen im Haus verteilte, nicht erfroren.
Der Großvater arbeitete den ganzen Tag im Garten. Er schleppte am Morgen, wenn ich die Decke höher zog, schon Wasser; später pflückte er Bohnen oder Beeren, mähte den Rasen, zupfte Unkraut oder schnitt Blumen, und ich half ihm. Er bewegte sich langsam und ging stets mit geneigtem Kopf; die Sonne hatte seinen Rücken und die Kopfhaut rot-braun getönt. Er sprach kaum. Er durfte nicht mit den schmutzigen Turnschuhen über den hellen Spannteppich des Salons schlurfen und musste den Gesundheitszustand der Großmutter immer wieder erwähnen; es wurde erwartet, dass er von Zeit zu Zeit fragte: «Geht’s? Fühlst du dich nicht zu schlecht?» Dann jammerte die Großmutter, ließ sich bemitleiden und durfte sich mit einem Buch hinlegen.
Einmal gab die Großmutter am Abend eine «Party»: Wein- und Schnapsflaschen überragten die Blumen, und Leute saßen um den weißen Tisch unter dem Himmel wie unter einem finsteren Loch. Die Großmutter kreischte: «Einmal in meinem Leben möchte ich betrunken sein!» Der Großvater schien verlegen, während die andern Menschen sich anscheinend wohl fühlten. Ich saß am Boden und betrachtete die Gesichter, die wie fotografische Vergrößerungen im Dunkeln hingen und rot und gelb wurden, und die Füße; jene der Großmutter baumelten über dem Boden, während die andern – die des Großvaters in braunen Manchesterschuhen – unruhig hin- und her tanzten und manchmal gegeneinanderstießen. Ich wunderte mich über die Großmutter, da sie sich jeden Nachmittag mit «unerträglichen Kopfschmerzen» zu Bett legte und Lärm und Bewegungen anderer Leute verabscheute, weil sie immer müde war. Ich durfte niemals schreien oder rennen, nun aber schrie die Großmutter am lautesten und eilte hin und her, um neue Flaschen und Gebäck zu holen. Ihre feuerroten Lippen bildeten einen ovalen Rahmen um die langen Zähne, und sie schüttelte ihr Haar, das Ähnlichkeit mit staubigen Federn hatte. Ich versuchte, den Gesprächen der Leute zu lauschen, doch die Worte schoben sich durcheinander. Der hünenhafte Großvater wurde immer kleiner, während die winzige Großmutter auf den Stuhl stieg und mit sich überschlagender Stimme Witze erzählte; die Körper der andern bogen sich und zuckten krampfhaft, und Gelächter spritzte aus ihren verzerrten Mündern; sie schienen von einer beängstigenden Krankheit befallen. Der Großvater hatte den Einfall, für ihre Gesundung Zucchetti zu holen, doch statt dass sich die Leute beruhigten, brach nun der Tumult erst recht los; einer der Herren, ein dicker mit einer Knollennase, den die andern «Herr Doktor» nannten, verteilte die grünen, zigarrenähnlich geformten Gemüse an die Damen; ich sah erstaunt, dass die ganze Gesellschaft sich vor Lachen nicht mehr halten konnte: Die Großmutter stand nun auf dem Tisch und gestikulierte, während Flaschen und Gläser umfielen, und alle sangen.
Seit jenem Abend betrachtete ich die Erwachsenen – vor allem die Großmutter, die nun doch schon eine Zuflucht für mich bedeutet hatte – mit Grauen. Ich verstand nicht, dass die Großmutter am nächsten Tag so tat, als wäre es in Ordnung, dass sie sich schnell wieder zurückverwandelt hatte, so dass nichts mehr an das unheimliche Geschehen in jener Nacht erinnerte. Ich betrachtete sie manchmal verstohlen, ob nicht eine Naht sichtbar sei; ich stellte mir vor, irgendwo könne sich die Großmutter öffnen und hervor träte das Ungeheuer jener Nacht, um dann wieder in die Großmutter hineinzukriechen, worauf sich die Naht schließe. Ich dachte, dass von den Erwachsenen, außer von Mutter, das Böseste zu erwarten war. Sobald ich wieder zu Hause wäre, würde ich Mutter von der «Party» berichten. Der Großvater hatte einmal gesagt, Mutter sei hübsch, aber leichtfertig. Ich wusste nur, dass Mutter still und traurig war.
An einem Nachmittag erlosch der See und alles verschwamm, als blicke man durch beschlagene Brillengläser. In den Zimmern des Hauses schienen sich große, dunkle Fächer zu öffnen, die mit rätselhaften Bildern bemalt waren.
Plötzlich trat der Großvater ins Zimmer; in der Hand hielt er einen Brief. Er blickte uns nicht an und murmelte; als die Großmutter fragte, was er denn da sage, wiederholte er den Satz und ich verstand, dass Mutter gestorben war. Ich sah, dass die Augen der Großmutter sonderbar flockig wurden; ihr Mund war wie aus dickem, dunklem Leder im weißen Gesicht. Ich begann zu zittern und mein Herz schmerzte. Wie im Traum ging ich ans Fenster. Es regnete; die Blumen sanken zu Boden, die Kamine der Häuser lösten sich auf und rutschten über die Dächer. Ich würde nie mehr nach Hause zurückkehren, Mutter von der «Party» erzählen und spüren, dass sie um meine Angst wusste.
Das Telefon
Ein Vogel sitzt auf dem Kamin des gegenüberliegenden Hauses; der Blick in die Glasveranda ist durch einen roten Vorhang verwehrt und hinter dem Dach ragt von einer Baustelle ein Kran in den Himmel. Ich betrachte das Haus jeden Morgen und freue mich. Sonst habe ich nicht viel Grund, mich zu freuen; wenn ich mich in die Zeitung vertiefen will, lese ich statt «Tito möchte entlastet werden» – «Tito möchte entlaust werden» und statt «Bedachungen» – «Beobachtungen» – ich fürchte, nie mehr wird es mir gelingen, mich zu vertiefen, weder in die Zeitung noch in sonst etwas; ich lebe immer mehr ganz außen, und nichts mehr ist verständlich. Auch weiß ich, dass ich ein «Muffel» bin; in einer deutschen Zeitschrift, die Ingrid abonniert hat (ihre ganze Weisheit schöpft sie daraus und aus Frauenzeitschriften; jede Woche verkündete sie mir mein Horoskop, und einmal wusste sie zu berichten, das dritte Ehejahr sei ein Krisenjahr; wie recht solche Zeitschriften doch immer haben!), wurde ich mit «Sexmuffel» und «Krawattenmuffel» beschimpft, und außerdem bin ich ein Sport- und Nachmittagsmuffel; ich liebe nur den Morgen: die hellen, leichten Morgen, die beinah davonfliegen und viel versprechen.
Ich bin seit drei Wochen von Ingrid geschieden; «Ingrid und lsidor» hießen wir, als wären wir ein Mensch; heute verstehe ich nicht mehr, dass ich neben dieser seelenlosen, feigen Hündin mit dem Schlangenkopf leben konnte. Als ich sie zum ersten Mal mit dem Säugling im Arm sah, als dessen Vater ich galt, erschrak ich zutiefst; war sie dem Kind ausgeliefert oder das Kind ihr? Der Junge schielte und klemmte seine Zunge zwischen die feuchten Lippen; ich wandte mich ab, verließ bald das Spitalzimmer und sprang auf die erstbeste Straßenbahn; als sie anfuhr, trippelte ich schnell zu einem leeren Sitz und ließ mich fallen. (Obwohl ich noch jung bin, bin ich ziemlich dick und erwecke den Eindruck zu trippeln, auch wenn ich mich bemühe, elastisch zu schreiten.) Zuerst war es, als ob meine Gedanken um mich herumzufließen begännen, doch bald umkreiste ich die Gedanken, zog immer größere Kreise, geriet immer weiter weg und konnte nicht mehr zurückfinden.
Kaum war Ingrid mit dem Jungen zu Hause (der nicht mein Kind sein kann; während sie im Spital war, machte man mir Andeutungen, telefonierte mir anonym und im Briefkasten steckte ein Zettel mit einem gehörnten Ungeheuer), zog ich in ein Zimmer, das ich mir reserviert hatte; seither wohne ich hier. Die Möblierung ist karg, ja traurig; das liebe ich. Vor Gericht sagte man mir, ich hätte Ingrid böswillig verlassen und sei nun schuldig geschieden. Obwohl ich mir einrede, das beeindrucke mich gar nicht, stört es mich ein wenig, dass mich Herren, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, «schuldig» nennen. Sie haben mir sogar eine Strafe aufgebrummt, wie dies einst mein Vater oder die Lehrer taten; ich bin erstaunt; ich dachte, ich sei nun erwachsen und niemand mehr könne mich strafen oder mir etwas vorschreiben. Ich darf ein Jahr lang nicht heiraten; als ob ich den Wunsch geäußert hätte, heiraten zu wollen! Und ich muss Ingrid für den Jungen Geld schicken; ich verstehe nicht weshalb, denn ich liebe dieses Kind nicht.
Ich bin Cellist im Theaterorchester und kann nun üben, ohne dass Ingrid mich wegen des Jungen anschreit; ich kann ausgehen und nach Hause kommen, wann es mir passt, und rauchen, so oft und so viel ich will.
Seit