Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
Die Frau lauschte schweigend; Schatten versenkten ihr Gesicht. Plötzlich hörte er ihre Stimme wie das Flüstern von Blüten im Wind: «Mein Haus ist meine Insel. In der Todesanzeige, die von Karls Arbeitgeber in der Zeitung veröffentlicht worden war, las ich: ‹Während über zwanzig Jahren hat Herr Wagner seine ganze Kraft und sein Können in den Dienst unserer Bank gestellt.› Nun erst begann ich zu weinen. Der Hass auf ihn und auf alle steigt manchmal in mir hoch wie Brechreiz, bleibt beim Herzen stehen und versetzt ihm Stöße.» Nach einer Weile setzte sie hinzu: «Siehst du den Mond? Er ist wie ein Katzenauge; einmal eng, einmal weit. Er belauert uns.» Sie saß ein wenig zur rechten Seite geneigt; den Arm hatte sie auf der Lehne des Sessels aufgestützt. Während der Gesprächspausen klemmte sie ihre Lippen zwischen Zeige- und Mittelfinger der mit der Innenfläche nach außen gedrehten Hand. Stämpfli Max erinnerte sich, dass sie vor ihrer Heirat Tänzerin gewesen war und als junges Mädchen den Ehrgeiz gehabt hatte, zu verhungern; dies war ihr als höchste Seligkeit erschienen. Sie war damals ein schönes Mädchen mit einer großen Nase, die sie aber später durch eine Operation verkleinern ließ, da Karl über die Nase gerne Witze machte. Nun hatte sie sich eingeschlossen in den Mauern der Nacht; keine Ritze, keine Luke ließ Licht hereinschimmern. Er erkannte sie nicht mehr. Er fühlte, dass sie dabei war, die Erinnerungen an einem geheimen Ort ihres Herzens zu verscharren. Die Bilder der Vergangenheit hatten ihm aus jener Welt geleuchtet, die klein ist wie das Nadelöhr und groß wie das Tor zum Paradies; diese Bilder hatten sein Herz erwärmt und erhellt und seinen Gedanken, die für einige Augenblicke leicht, ja, schwebend schienen, Süße verliehen. Nun herrschte Finsternis, und Kälte drang ins Zimmer.
Verwirrt wie einer, der Zeuge war, als eine Blume in wenigen Sekunden ein Wasserglas leertrank, erhob er sich und verließ die Frau, um das Schiff zu erreichen und auf seine Insel zurückzukehren. Dort sagte er zu seinem Papagei: «Ich habe einen Abstecher gemacht.»
Kavalier
Der magere Jochen möchte Isländer sein; er stellt sich vor, dass er dann das Recht hätte, zu schweigen und zu fischen.
Gedanken wie Blattgerippe: Veronika hält sie dem mageren Jochen vor; am Stiel. Sie dreht sie, wirbelt sie. Er weiß, dass sie als Kind viel gelitten hat. Man hat sie im Suppentopf gekocht, man hat sie geschält, man hat sie am Baum vor dem Haus aufgehängt; ein Rabe hat sie aufgefressen, wieder ausgespuckt. Noch immer lebt sie. Aber nein, natürlich wurde sie nicht im Suppentopf gekocht; man hat sie, abwechselnd, mit brühheißem und eiskaltem Wasser übergossen. (Die Vorstellung, dass es ihrer Katze gut geht, wenn sie durchs Quartier streift, sollte sie glücklich stimmen. Und dass die Katze nachher vor der kalten Zentralheizung sitzt und sie anbetet – vermutlich in der Erinnerung an den Winter, wenn der Heizkörper heiß ist.) Der magere Jochen beneidet Veronika; sie kann die kleine Tippmaschine am Bankschalter an der Grenze, wo die Leute Geld wechseln, flink bedienen. Sie rechnet im Nu, begreift immer, was die Bankkunden wollen. Auch der magere Jochen hat seine Vorzüge: Er erkennt die Busstationen, wenn er gewisse Orte in der Stadt aufsucht – zum Beispiel die am Arbeitsamt, an der Krankenkasse oder an der Volkszahnklinik. Er weiß, welche Gesichter die Häuser an welchen Stationen machen, wenn er auch die Gesichter nicht beschreiben könnte; es sind keine Einzelheiten, die ihm im Gedächtnis haftenbleiben. Die Häuser gruppieren sich immer ein wenig anders, die Bilder wechseln; eigentlich sind es verschwommene Zeichen, die ihm bedeuten: Jetzt bist du da, jetzt bist du – für eine Weile – angekommen.
Veronika und der magere Jochen leben in einem Betonhaus, dem hässlichsten Haus der Straße, im Parterre. Die Geräusche im Mietshaus sind aufdringlich: die Glocke, der Türöffner, die Fernseher, Schritte und Stimmen. Der Autolärm hinter dem Fenster ist laut, unaufhörlich, unhöflich. Der Himmel bildet ganz oben am Fenster einen gezackten, blauen oder grauen Rand; die Zacken entstehen, weil spitze Dachfenster wie winzige Häuser auf den schrägen Dächern stehen. Wer dahinter wohnt, kann man nicht ahnen. Der magere Jochen und Veronika sehen den Himmel, wenn sie sich bücken; sie bücken sich, um zu schauen, ob es regnen wird.
Sie nehmen das Mittagessen in einem dunkeln Restaurant ein, das keinen schlechten Ruf hat. Veronika trinkt zu viel Weißwein, raucht zu viel und spricht nicht wenig, aber im Restaurant schreit sie nicht oder nur selten. Immer am gleichen Tisch sitzen zwei Frauen zwischen vierzig und fünfzig und haben sehr enttäuschte Gesichter. Der magere Jochen nimmt sich am zweiundzwanzigsten April nach dem Mittagessen vor, am Abend seinen Wecker und seine Schlafpillen in einen Papiersack zu legen und mit dem Bus in ein stilles Hotel zu fahren, um dort zu wohnen. Er wird mit seinem Wecker reden; der Wecker heißt Kavalier und weckt ganz sanft, mit zupfenden Tönen; wenn man den Wecker nicht abstellt und einfach weiterschläft, beginnt er zu schrillen. Der magere Jochen erwacht immer schon beim ersten, sanften Stupfen; es ist, als ob der Wecker ihn mit den Tönen betupfen würde. Übrigens ist Veronika nicht allein, wenn er sie verlässt; sie hat eine große, eine mächtige Freundin, die ihr jedes Mal, wenn sie Veronika erblickt, aus einer kleinen Flasche Parfum an den Hals spritzt und dann fragt: «Du willst doch?»
Nein, der magere Jochen wird Veronika nicht verlassen, weil er sich ihre Rabenaugen nicht nur vorstellen will – wie sie aussehen, wenn sie lacht oder lächelt oder weint, und ihr Rabenhaar, durch das er mit allen fünf Fingerspitzen der rechten Hand auf die Kopfhaut drückt. Er erschrak einmal, als er sah, dass ihre Kopfhaut weiß ist; er hatte sie sich schwarz vorgestellt.
Fräulein Heim
Die Lampe auf Fräulein Heims Pult, das in einer Ecke stand und durch Tageslicht wenig beleuchtet war, brannte nicht. Man bedeutete Fräulein Heim, ein Herr Kinkelmann oder Hunkelmann ersetze die defekte Birne; sie ging zu dem Herrn, der eine Ärmelschürze trug und ihr eine neue Birne gab, die Fräulein Heim jedoch nicht in die Lampe einschrauben konnte. Fräulein Heim suchte den Herrn abermals auf, doch der sagte, er sei nicht Herr Kinkelmann, obwohl die Ärmelschürze dieselbe war. Er zeigte Fräulein Heim, dass ein Ring, der an der defekten Birne angebracht war, an die neue gesteckt werden müsse; doch auch mit diesem Ring konnte Fräulein Heim die neue Birne nicht in die Lampe schrauben; sie arbeitete im Halbdunkel.
Als Fräulein Heim um zwölf Uhr aus dem Büro auf die Straße trat, hatte sie den Eindruck, Spinnen webten ein dichtes Netz von Dach zu Dach. Im Gartenrestaurant, wo sie das Mittagessen einnahm, setzte sie sich unter einen roten Baum, der inmitten von grünen Bäumen stand. Sie äugte durch ihre große Brille und hatte dabei einen Ausdruck im Gesicht – nicht hart, nicht vulgär, aber furchtbar, als ob sie etwas Entsetzliches erlebt hätte. Ein junger Mann mit Pferdeaugen trat auf sie zu und fragte, ob der Platz neben ihr noch frei sei; Fräulein Heim bejahte, dann aber sah sie, dass der Mann den Stuhl, nicht den Platz meinte, denn er trug den Stuhl fort an einen andern Tisch. Fräulein Heim saß dort viele Stunden und rauchte. Sie dachte daran, dass Hirten die Gesichter von Tieren lesen können. Wer die Gesichter von Menschen liest, gerät manchmal ins Stottern. Die Fähigkeit von Fräulein Heim, Gesichter wiederzuerkennen, war sehr beschränkt. Sie stellte sich vor, dass es vielleicht leichter sei, Rosen voneinander zu unterscheiden als Menschen. Sie lebte jeden Tag nur für wenige Stunden oder Minuten; dann nahm sie Konturen wahr; den Rest des Tages, den größten Teil des Tages hing sie wie eine noch nicht abgebetete Perle eines Rosenkranzes im Leeren, wanderte fühllos, bis der Beter sie hochzog, zwischen die Fingerspitzen nahm und leicht drückte. An den gestrigen Tag