Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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aber nicht hinderte, ihr zu misstrauen. (Am Tage vorher war ich unfreiwilliger Zeuge einer peinlichen Szene geworden; ich hörte, wie Tante Monika außer sich schrie: «Du bist kein Mann, ich hab’s endlich satt; ich werde schon anderswo auf meine Rechnung kommen, du blöder Kirchgänger, du!», und heulend und türenschlagend im Schlafzimmer verschwand.) Onkel Raymond hielt sich in seinem Studierzimmer auf und ich sollte Schularbeiten machen, trödelte jedoch herum, trank Zitronenwasser, aß Biskuits und blätterte in alten Fotoalben, in welchen ich nur fremde Menschen sah, die mir wie Sektenmitglieder vorka­men, die Farbe als Sünde betrachten; alle trugen sie graue und schwarze Schatten als Kleider und Kopfbedeckungen, als Augen, Nasen und Wangen, und alle waren sie umsorgt von ernsten Hauswänden, lichtlosen Himmeln und trübse­li­gen Baumgruppen. Niederschmetternd war aber für mich die Feststellung, dass Onkel Raymond – dieses in meiner Vorstellung furchterregende Kriegsschiff, das sich durch feindliche Gewässer geschoben und Schreckliches im Schild geführt hatte, sich nun aber vor mir versteckt hielt in der Erwartung, dass ich aufbrechen würde, um es zu suchen – als mageres, bleichsüchtiges Studentlein erschrocken neben einer glotzenden Riesenkuh stand; richtig, ich entsann mich, dass Tante Agnes einmal angetönt hatte, dass er aus kleinbäuerlichen Verhältnissen stammte und einen Bruder hatte, der irgendwo Pächter war. Ich hatte mich also getäuscht: Auch er hatte nie gelebt; es war sinnlos, ihn am Horizont zu suchen, war er doch gewiss immer noch das kümmerliche Studentlein, das, falls ich in seinen Lederhandschuh beißen würde, nur ein hohes, furchtsames «Au» hervorstieße, obwohl es mit den Jahren massig geworden war.

      Ich geriet in Wut und fühlte mich betrogen, wurde es mir doch jetzt noch deutlicher als vorher bewusst, dass es die Wellen gab, auf welchen ich schaukelte, und die Winde, die mich hierhin und dorthin bliesen, und die wie erloschene, aber gewiss heiß leuchtende Tiefe, und das Versteck am Horizont, klein wie ein Nadelöhr …

      Schnurstracks lief ich in Onkel Raymonds Studierzimmer, ohne anzuklopfen, ohne vorher einen Blick in den Spiegel geworfen zu haben. (Auch so war mir bewusst, dass ich meine Bluse nur nachlässig zugeknöpft hatte; ich hatte mir ange­wöhnt, in Onkel Raymonds Haus in einer Weise herumzuge­hen, von der ich annahm, sie sei «sexy»; Vorbild war mir Tante Monika. Oft tat ich so, als wäre ich erschrocken, wenn ich frühmorgens im kurzen Nachthemd über den Korridor lief und er mir begegnete; sein verwirrter Blick bereitete mir Vergnügen, denn obwohl ich davon überzeugt war, hässlich zu sein, wusste ich nun, dass mir endlich kleine Flügel wuchsen; sie sollten mich dorthin tragen, wo die gefährlichen Schiffe lauerten, auf ihren Kapitän oder Feind warteten …) Mitten in sein dunkles, dickes Gesicht erzählte ich ihm nun, dass Tante Monika ihn seit Monaten mit einem Friseur betrüge. Er starrte mich an; seine Augen waren wie erfrorene Blumen, seine Lippen grau. Er wies zur Tür, indem er den Ellbogen nur ganz wenig hob und sagte: «Agnes, du hast mich enttäuscht – wenn du wüsstest, wie du mich enttäuscht hast.»

      Ich durfte nicht mehr in jenem Haus bleiben; einige Tage später packte ich meinen Koffer, um auch mein vierzehntes Jahr in einem Heim zu verbringen. Ich galt nun nicht mehr als nur verstockt, sondern auch als lügenhaft und verdorben. Ob Tante Monika ihren Friseur weiterhin besucht, weiß ich nicht. Von Onkel Raymond träume ich seit langer Zeit immer dasselbe: Er öffnet eine Tür und heißt mich eintreten; er ist zwergenhaft, stützt sich auf zwei Krücken, trägt Pantoffeln an den Füßen und blickt mich süß an, doch das Zimmer, in dem er steht, ist mit dornigen Gewächsen gefüllt, die kreuz und quer durch den Raum ragen; an einigen sehe ich Blut. Ich habe einen schweren Sack in der Hand und friere; trotzdem kann ich mich nicht entschließen einzutreten, sondern stehe lange Zeit, vor Erwartung und Grauen wie angenagelt, auf der Schwelle – so lange, bis Onkel Raymonds Gesicht sich vor Zorn rötet und entstellt und er mir mit hasserfüllter Gebärde und wie von Ekel gepackt die Türe weist. Dann drehe ich mich um und steige die Stufen hinunter. Wenn ich dann glaube, erwacht zu sein, sind meine Wangen von Tränen nass und ich bin der Meinung, auf den Tod krank zu sein, und entsinne mich, dass ich meine Bettnachbarin gebeten habe, den Arzt zu holen – der Arzt aber ist Onkel Raymond. Nun steht das Mädchen vor mir, keuchend noch vom Laufen, und erklärt: «Der Arzt will nicht kommen; er sagt, er sei von dir enttäuscht.» Mit einem Stöhnen der Verzweiflung erwache ich, höre das Atmen und leise Schnarchen wie von tausend Tierchen, die in kleinen Schachteln verpackt sind, und manchmal den Wind, der das Haus mit vielen Regenvorhängen umwickelt.

      Der Berg

      Als der Journalist mit dem Pseudonym «Mimi» in die kleine Stadt zog, regnete es. Es regnete wochenlang; die kleine Stadt stand ohne Kulissen, nur mit Regenvorhängen drapiert, im Halbdunkel. Der Journalist, der eine spitze Feder führte und bald in der einzigen Tageszeitung regelmäßig eine Klatschspalte veröffentlichte, wurde rasch zum heimlichen Oberhaupt der kleinen Stadt. Es war nicht auszuschließen, dass er bald Redaktor sein würde. Er nahm zu an Gewicht, und namentlich die älteren und alten Damen betrachteten mit Wohlgefallen sein weiches, lockiges Haar. «Sie leben so sehr in der Realität!», jubelte einmal ein Fräulein, als Mimi sein Stammlokal betrat. Manche Herren zitterten heimlich vor Mimi.

      Das Wetter besserte sich, und jetzt, da Sonnenlicht auf die Stadt fiel, sah Mimi, dass im Hintergrund ein hochmütiger Berg stand, der seinen Scheitel manchmal hinter einem dünnen Schleier verbarg. Er spielte nicht mit den weißen Wolken, die um ihn herumtanzten, und die andern Berge buckelten vor ihm und schauten niemanden an als ihn. Mimi, der von seinen Lesern gemästet schien, begann an seelischen Verstimmungen zu leiden. Er unternahm lange Autofahrten oder ging auf dem äußersten Rand des Gehsteigs wie auf einem Seil. Immer deutlicher wurde in ihm die Vorstellung, er müsse sich einigen Bergsteigern nähern und sie fragen, ob er mit ihnen zusammen den Berg bezwingen dürfe. Er hätte beim Berg ein- und ausgehen mögen, doch auch wenn er mit der Zahnradbahn in seine Nähe gelangte, wurde seine son­derbare Unruhe nicht gestillt. Er kaufte sich Bergschuhe, dann eine ganze Bergsteigerausrüstung. Die Bergsteiger ­lachten ein wenig über ihn, doch nahmen sie ihn mit und anerboten sich, ihm zu helfen, bis zum Scheitel des Berges hochzuklettern; von dort würde er auf die kleine Stadt hin­un­terblicken können.

      Niemand weiß genau, weshalb Mimi dann eigentlich abstürzte; vielleicht konnte der Berg ihn nicht leiden. Manche Herren atmeten auf, die älteren und alten Damen aber weinten an der Beerdigung heftig, und das Fräulein, das gefunden hatte, Mimi lebe «so sehr» in der Realität, warf eine Alpenrose und ein Edelweiß in die Grube.

Anna und ich

      Sommer

      Was soll der Vater mit seiner Selbstfindung machen, zu der ihm der Psychiater in jahrelangen Therapiesitzungen nach dem allzu frühen Tod seiner Frau verholfen hat? Soll er sein entkleidetes Bildnis einrahmen und an die Wand hängen? Soll er es unterentwickelten Völkern schenken? Der junge Psychiater, der hinter einem netten Gesicht ruht, das, so findet der Vater, dem Buchstaben E gleicht, hat den Vater nicht vom Zwang erlöst, sich einmal umbringen zu müssen. Der Vater fürchtet sich davor, als unerlöste Seele dann mitten auf einem Platz zu stehen, als helles Licht, Sommer für Sommer, eine Ewigkeit lang. Alle Häuser wären weit zurückgetreten, winzig klein und knallgelb, und der Lärm und die Autoabgase würden die unsichtbaren Ohren und die große, unsichtbare Nase des Vaters füllen. Der Psychiater, älter und noch perfekter geworden, würde seinen ehemaligen Patienten nicht grüßen, da er ihn nicht erkennen könnte.

      Aus diesem Grauen heraus küsst der Vater Rebekka, eilt nach der ungeliebten Arbeit als Versicherungsagent jeden Abend durch farblose Unterführungen (oben fahren Autos und Straßenbahnen), um seine einzige Tochter zu erreichen und in die Arme zu schließen; da er als ehemaliger Pfadfinder wichtige Wege nie verfehlt, kommt er stets sehr schnell zum Ziel, auch wenn er sich in fremden Außenquartieren befindet.

      Rebekka hat ihr Nachthemd über den halboffenen Balkonflügel ihres Zimmers gehängt und tanzt mit gotischen Füßen auf dem roten Teppich. («Sie hat gotische Füße», stellte vor einiger Zeit die Nachbarsfrau schrill fest, die Vaters Haushalt führt und nebenbei Rebekka zu erziehen versucht. Sie erinnert sich noch an den Tag, als der Vater Rebekkas Mutter geheiratet hatte; er rannte an der Seite seines Schwiegervaters an einem Maisfeld entlang und redete atemlos über Mais, während die schwangere, sehr junge Frau weit hinten lächelnd ging und ein weißes Täschchen in der Hand trug. Ihr Ehering glänzte. Sie starb nach Rebekkas Geburt und hörte im Sarg nicht auf zu lächeln.)