Название | Fern von hier |
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Автор произведения | Adelheid Duvanel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552208 |
Heilig
Es ist kalt und neblig. Kleine Dachfenster mit rostigen Fensterrahmen und magere Kamine beleben die Kulisse, die Veronika vom Gartenrestaurant aus betrachtet. Aus einem runden Betonbecken wächst Efeu, das ein fremder, roter Hund beschnuppert; er träumt davon, eine Herrin, die kleine Heilig mit den zu großen Augen, durch die Stadt zu ziehen. Außer Veronika und Heilig sitzt kein Gast unter den Bäumen. Das Restaurant befindet sich in einem Stadtteil, den Veronikas Mann nie aufsucht; als er dies erwähnte (ohne zu wissen, dass sie sich tagtäglich dort aufhält), klopfte ihr Herz glücklich und aufgeregt, was sie nicht verstand.
Jeden Tag wäscht Veronikas Mann sein erdnussfarbenes, schütteres Haar und pudert sein Gesicht. Er sammelt getrocknete Patisserien, farbige Pillen und Kapseln in Gläsern, die Veronika abstaubt und hasst. Eine Tochter hat sie sich selber geschenkt; sie nahm das Kind in Pflege, dessen Name man ihr am Telefon mitteilte. «Heilig?», hatte Veronika verblüfft gefragt, «ist denn das ein Name?» – «Nein, Heil-wig», hatte man ihr lachend geantwortet. Während ihr Mann mit dem Staubsauger von Wohnung zu Wohnung zog, Teppiche reinigte, den entsetzten Hausfrauen ein Mittel gegen Teppichflöhe, die er in ihren gepflegten Räumen angeblich entdeckt hatte, anpries und den Staubsauger dazu, erwartete Veronika ihre Pflegetochter, die von der Schule kam, jeden Abend in diesem Gartenrestaurant. Sie tut dies heute zum letzten Mal; sie muss Heilig (wie sie das Kind nach jenem Missverständnis nennt) zurückbringen in eine dunkle Welt, wo Heilig von niemandem erwartet wird. Veronikas Mann erträgt Heilig nicht.
Die Statue im Hintergrund des Gartens ist unter einer goldenen Farbschicht erstickt; ihre toten Augen glänzen. Die Blätter am Boden ähneln den Händen von Greisen, und der Baumstamm, an dem Heilig lehnt, gleicht einem von harter Arbeit gestrafften Männerkörper. Eine hässliche Zahnprothese, die Heilig auf dem Jahrmarkt gekauft hat, entstellt ihr spitzes Gesicht. «Es soll ein Witz sein», sagt sie und lächelt.
Veronika schlägt ihren Mantelkragen hoch und nippt am vierten Kaffee, den sie am Selbstbedienungsbuffet geholt hat. Früher bewegten sich Kellner wie große, vom Wind gefaltete Servietten zwischen den Bäumen; man gab Zeichen, die sie offenbar verstanden, denn sie trugen Flaschen und Gläser herbei. In Spanien klatscht der Gast in die Hände, was als Befehl gedacht ist, doch nie schlägt jemand auf eine Trommel, um sich den Kellnern mitzuteilen; Veronika möchte trommelnd durch die vom Nebel verdunkelten Straßen der Stadt ziehen und ausrufen: «Mein Mann hasst Heilig; er schickt sie fort; er nimmt sie mir weg!»
Der fremde, rote Hund balanciert seine Nase wie einen frischen Pilz, den er Heilig anbietet; sie kauert sich nieder und krault mit der behandschuhten Rechten seinen vom Nebel feuchten Nacken; ihre Draculazähne wackeln. Eifersucht schüttelt Veronikas Herz, macht es vor Angst schwach und schlaff; zitternd streichelt sie Heiligs Schulmappe, die vor ihr auf dem Tisch liegt.
Die Zeichnung
Der Regisseur sensibler Filme bewohnt eine geräumige Wohnung im obersten Stock. Wer zu einem der großen Fenster hinausblickt, glaubt, die Stadt sei eingesunken; die Häuser sind niedrig, und jenseits der Dächer, auf denen der Nebel hockt und die nassen Pfoten leckt, macht sich der Fluss davon. Manchmal tritt ein Turm aus seinem Versteck hervor. Kein Mensch bewegt sich hinter den dunklen Fenstern der Häuser, kein Vogel fliegt vorbei.
Das Mädchen kniet am Boden und skizziert den Erker mit dem leeren Vogelkäfig, den beinah verdorrten Feigenbaum und den chinesischen Wandschirm; der Regisseur, der auf dem breiten Bett liegt, erscheint nicht auf dem Blatt. Auf dem Bettrand vor der leeren Wand sitzt der Freund des Regisseurs, ein junger Drehbuchautor; er raucht und beobachtet das Mädchen. Plötzlich erhebt sich der Regisseur und tritt neben die Zeichnende, die ein wenig in sich zusammensinkt. «Sie ist ganz gefühllos», sagt der Regisseur zum Freund, indem er den Mund, der von einer Hornhaut eingefasst scheint, nur wenig öffnet, so als fürchte er, ein unbedachtes Wort könne entweichen. «Ich hab sie endlich gefunden; sie passt genau. Schau ihre Zähne und den Halsansatz an.» – «Auch die Augen», bemerkt der Freund. Das Mädchen denkt, seine Stimme sei im dünnen, weißen Rohr gefangen, das zum Lichtschalter führt. Der Regisseur, der die nackte Wade der Knienden mit seiner Schuhsohle leicht betupft, fährt fort: «Sie ist weder aufmerksam noch hat sie Phantasie; sie wird nie in unsere Welt vordringen. Sie kann unsere Melodie nicht wahrnehmen und unsern Rhythmus nicht spüren. Um mich zu ärgern, zeigt sie sich beleidigt, wenn ich ihr nicht die Namen aller Dinge ins Ohr hinein vorsage. Sie ist ahnungslos, kennt weder Erinnerungen noch Hoffnungen. Ich habe ihr verboten, mir je wieder eine Frage zu stellen, denn ihre Fragen sind …» Während er sich zur Tür begibt, wiederholt er: «Ihre Fragen sind … Schläge, mit denen sie mich töten will.» Der Freund zögert, deutet auf das barfüßige Mädchen im kurzen, gelben Kleid, schüttelt ein wenig fassungslos den Kopf und folgt dem immer noch Sprechenden zur Tür hinaus; sie wird abgeschlossen. Lautlos schwingt sich der Nebel aufs Sims.
Ein schwächer werdender, unsicherer Strich zeigt an, dass die Hand des Mädchens, die den Bleistift führte, leblos über das Papier zur Seite gerutscht und, sich langsam umdrehend, auf dem Steinboden gleich einer halboffenen Blüte liegen geblieben ist; der Kopf neigt sich tiefer, und die Haare bewegen sich wie helles, vom Wind gewelltes Gras. «Wenn er mich jetzt sähe», denkt das Mädchen nach einer Weile. Es richtet sich etwas auf, nimmt den Bleistift und zeichnet den Regisseur; er sitzt im Vogelkäfig, und von beiden Achseln hängen die Arme wie gebrochene Flügel herunter. Eulenhaft starrt er durch die Gitterstäbe, denn das Mädchen stellt ihn ohne die dunkle Brille dar, die am Tag und in den Nächten seinen Blick zusperrt.
Der Abstecher
Stämpfli Max, der von der Insel, auf der er zwanzig Jahre lebte, zurückgekehrt war, erzählte von den Alten Zeiten. Er sprach vom Greis, der mit Bleistiften, deren Spitze abgebrochen war, unermüdlich Geisterschrift geschrieben hatte, Briefe oder Gedichte, die niemand, selbst der Alte nicht, hatte lesen können. Als Kinder hatten sie ihn verspottet. «Er wollte nach dem Tod seiner Frau», sagte Stämpfli Max, «die Augen nicht mehr anstrengen; sie waren auf die weiße Leere gerichtet, die er überschreiben, die er mit Worten zudecken wollte, aber er vermochte es nicht.»
Stämpfli Max und die Frau seines toten Schulfreundes saßen am hohen Bogenfenster. Die Tanne im Garten, die der Sturm gebrochen hatte, war gestern weggeräumt worden; nur ihr Stumpf ragte noch aus der zerwühlten Erde. Überraschend war der Blick über die Ebene frei geworden. Blumen lagen zerfetzt und Sträucher stützten sich gegenseitig. Die Autos, die sich auf der fernen Straße im Gänsemarsch fortbewegten, schienen auf der Suche nach einer saftigen Weide; die alte musste verdorrt oder abgegrast sein. Der Abend schleppte müde seinen mattgoldenen Mantel über die Wolkenklippen und sprang in das Rauschen der Nacht. Stämpfli Max trank einen Schluck Wein und leckte sich den ergrauten Schnurrbart, den er wie sein lockiges Haupthaar wild wuchern ließ. Er war ein kurzer, breiter Mensch,