Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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um sich «in seiner Seele zu ergehen», wie man es geschwollen ausdrücken könnte. Ist man wieder «Nicht-Patient», schrumpft die Seelenfläche. Seitdem die Kranken diese neuen Pillen schlucken, bleiben aber das Wachstum der Seelenfläche und die Erlebnisse meist aus; die Seelenfläche sackt ein, und die Pillen ersticken die Phantasie.

      Psychiater interessieren sich nicht nur für Erlebnisse, sondern auch für Unfälle. Sie sind Polizisten, die in Erscheinung treten, wenn sich ein Unfall ereignet hat: Sie stellen Pannendreiecke auf, markieren, fragen die Zeugen aus, notieren. Mehr können sie nicht tun; es liegt nicht in ihrer Macht, Verletzte zu heilen oder Tote zum Leben zu erwecken.

      Man kann so tun, als ob nichts wäre. Die junge Patientin Olga ist trainiert darauf. Aber eines Nachts träumt sie: In ihrem Zimmer im ersten Stock des Elternhauses auf den Holzdielen unter der reich verzierten Barockdecke stehen Kisten voller Hefte und Bücher. Im Kamin liegt bündelweise Papier, in den Ecken stehen Kartotheken, auf dem Tisch türmen sich lose Blätter. Olga sichtet, ordnet, schreibt und telefoniert. Sie hat ein Museum eingerichtet, das nie jemand besucht; es ist ein kleines Museum für Brillenge­stelle im Erdgeschoss. Sie glaubt an die wichtige Funktion dieser Gestelle und der dazugehörenden Gläser, die Gesichter veredeln, verdummen, verschönern oder verwüsten. Wenn jemand sein brillenloses Dasein gegen ein Dasein mit Brille eintauschen muss, kann diese Person eine ernst­zunehmende Identitätskrise erleiden. Frauen lassen sich ungern mit ihren Brillen fotografieren, Sekretärinnen tragen aber oft mit Selbstbewusstsein große Hornbrillen. Was wäre Schubert ohne seine Brille? Es ist Olga gelungen, das Gesicht von Proust mittels einer Brille auf ungeahnte Art zu verändern.

      Nett sind altertümliche Krankenkassenbrillen; die Gesichter erscheinen durch sie hilflos. Und wie viel verdankt ein guter Schütze seiner Schießbrille.

      Auch Sonnenbrillen und Schneebrillen sind nützlich. Man beachte die Erzählung von Edgar Allan Poe: «Die Au­gengläser»; da verliebt sich ein junger, brillenloser Mann mit schwachen Augen in eine alte Frau, die er für ein junges Mädchen hält. Oder man stelle sich die Frage, ob El Greco nicht ganz anders gemalt hätte, wenn er Brillenträger gewesen wäre. Das Hauptinteresse von Olga gilt aber einer einzigen Brille, die es noch nicht gibt; sie macht unzählige Entwürfe, umrandet die Augen ihres weit entfernten Vaters auf einer großen Fotografie ganz zart, zeichnet für ihn Brillen, die sie immer wieder mit einem weichen Gummi ausradiert. Sie skizziert ovale, runde, eckige, dünn- oder dick­ran­dige Brillen. Sie hofft fest, dass es ihr gelingen wird, das Gesicht des Vaters menschlicher erscheinen zu lassen. Je mehr sie zeichnet, je verzweifelter sie sich müht, desto grau­enhafter wird der Ausdruck der väterlichen Augen – ja, des ganzen Gesichts. Die Augen glitzern, starren sie an, blinzeln, als blende sie das Licht der Ständerlampe, unter der die Fotografie liegt.

      Nach einem halben Jahr Klinikaufenthalt kehrt Olga nach Hause zurück. Ihr Psychiater hat sich nicht in ihren Vater verwandelt. Kaum zu Hause, beschäftigt sie sich wieder mit dem Thema «Brillen», so dass sie, wenn sie unten über den großen Platz geht, zugleich oben in ihrem Schlafzimmer, dem Arbeitszimmer ihres Traums, am Fenster steht. Sie beobachtet, wie sie sich vor einem Café auf einen der weißen Plastikstühle, Jugendstilimitation, setzt, ein Cola trinkt und raucht. Bei schönem Wetter sitzen vor allem Touristen draußen unter dem Himmel, der die Türme der Kathedrale weit von sich weist. Olga sieht, wie sie mit dem Zigarettenstummel weiße Kreuze in die Asche im dreieckigen Aschenbecher gräbt. Sie ist als Gast dieses Cafés ausgestellt, aber von Zwängen frei, als säße sie auf einer hohen Leiter. Es gibt keine vier Ecken, wo Gottvater hockt. Olga schreibt einen Brief, den sie nicht an ihren Vater senden wird: «Da mir das Schreiben immer leichter fiel als das Reden, will ich mir treu bleiben. Es ist meines Erachtens besser, wir ändern die Rollen nicht, da wir zu ungeübt sind, um miteinander zu reden. Wann haben wir je miteinander geredet?» Um Olga zu charakterisieren, muss ich vielleicht noch erwähnen, dass sie nie die Bücher liest, die man gelesen haben muss, und nie die Filme be­sucht, über die man noch nach Jahren redet. Sie weiß nicht, welches Gesicht zu welcher Gelegenheit passt. Sie weiß nicht, dass es in unserer Stadt Menschen gibt, die Verbrechen begehen aus dem unbewussten Wunsch heraus, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden. Sie weiß aber, dass die Kirchen und die politischen Parteien um Gläubige werben. Vielleicht auch das Militär. Trotzdem ziehen Jugendliche, vaterlose Horden, durch die Straßen der Stadt, zertrümmern Schaufenster, plündern und legen Brände. Kinder, junge Frauen und junge Männer kleben keine Plakate an die Wände, um für sich zu werben. Sie beschriften aber die Mauern der Stadt mit Sätzen wie: «Wir wollen leben! Auch Beton welkt!» Ein Jugendlicher hat an die Wand des Elternhauses von Olga mit einer Farbspraydose, blutrot, das Wort «Vorsicht!» hingespritzt. An Sonntagen begeben sich Bürger in das Stadtinnere, um die Schäden zu betrachten. Das sind schöne Spaziergänge, die einen Kinobesuch ersetzen.

      Das Kind

      Manchmal rede ich mit dem Kind, es ist ein kleines Mädchen, doch ich kann nicht beurteilen, ob es mich ernst nimmt. Heute ist es als Clown bemalt; seine kleine Nase leuchtet rot, das Kinn ist weiß und der Mund mit roten Strichen verbrei­tert, so dass es zu lachen scheint. Es hat sein Haar unter einer Mütze versteckt und trippelt neben seiner Mutter um den runden Weiher im Garten. Ich höre, dass es fragt: «Mama, wo ist das Unglück?» Sieht es denn nicht, dass der Hagel die Bäume nicht verschont hat? Zweige und Blätter und verschie­dene bohnen- und raupenförmige Früchte, die man nicht es­sen kann, liegen am Boden. Die Mutter klettert über einen großen, abgebrochenen Ast, aber das Kind will nicht klettern; es bleibt stehen und streckt beide Arme in die Luft.

      Ich sitze auf dem Sims am offenen Küchenfenster. Neben mir am schwarzen Brett hängen die Öffnungszeiten des Krämerladens und der Post, auch die Zeiten für den Gottesdienst sind angeschlagen, obwohl niemand unserer Wohngemeinschaft die Kirche besucht. Wir sind Randfiguren, Städter, die sich in diesem Dorf zusammengeschlossen haben. Durch die Anwesenheit des Kindes gibt es so etwas wie einen Alltag. Kürzlich hat das Kind einen Indianer gezeichnet und an die Wand in der Küche geheftet. Auch ein kleines, rotes Haus in einem großen, durchsichtigen Haus hat es gemalt, ein Motiv, das ich noch nie gesehen habe. Die Enten im Garten vermehren sich; das Kind zählt die Jungen. Ohne das Kind wären wir nur eine Siedlung von Enten, die von ein paar Menschen betreut werden. Wir schreiben phantasievolle Namen, die das Kind für die täglichen Speisen erfindet, auf einen Zettel, den wir am Schwarzen Brett befestigen. Das Kind enttäuscht uns nie, weil es sich keinen Augenblick lang vor uns verstecken will; es greift uns offen an.

      Ich habe den Eindruck, es verstehe uns gut, aber wir sind ständig erschöpft; trotzdem führe ich ein Tagebuch und schreibe in den Nächten schamvoll Satz um Satz.

      Heute Abend ist die Mutter des Kindes mit den andern ins Dorf gegangen, um in einer Gartenwirtschaft etwas zu trinken. Ich bleibe zu Hause und sitze vor dem Fernseher; plötzlich geht das Kind leise durchs Zimmer und stellt den Apparat ab; das andere Licht und das fremde Geräusch waren ihm vielleicht unangenehm. Ich erhebe mich, nehme es an der Hand und führe es in den Garten. Wir setzen uns auf zwei Stühle, die beim Weiher stehen. Das Wasser ist dunkelgrün mit einem Lichtstreifen; es zittert. Dort, wo eine Ente taucht, bildet sich ein kleiner, ein größerer, ein ganz großer Ring. Ich erzähle, dass ein alter Mann im Altersheim, in dem ich arbeite, immer in einem Kleiderkasten Lift fuhr, bis ich ein Schild mit dem Hinweis «Lift defekt» an der Kastentür befestigte. Das Kind lacht nicht. Der Himmel fließt schnell und kommt uns näher mit seinen schwarzen Vögeln. Ich denke an den Traum, den ich in der vergangenen Nacht hatte: Das Kind schwebte als Schatten durch einen langen Korridor, verschwand in Türen, war aber immer wieder vor mir, leicht, fast nicht sichtbar. Ich denke schon seit einiger Zeit daran, dem Kind ein Geschenk zu kaufen. Es ist nicht so, dass ich es freundlich gegen mich stimmen möchte, aber an manchen Tagen ist der Drang, ihm etwas zu schenken, groß.

      Das Ungeborene

      Es regnet schon wochenlang nicht mehr; der Himmel scheint mit etwas schwanger zu gehen: mit einer geheimen Glut. Die Geburt zögert sich hinaus; schrecklich wird die große Glut sein, die der Himmel aus sich herausstoßen, von sich werfen, auf die verdorrte Erde schleudern wird.

      Astrids Betäubung gleicht der Verwirrung der Tiere, die kein Wasser finden; der Schwindel, der wie Nebel ihren Kopf umhüllt, der ihren Blick trübt, ihn angestrengt und dunkel