Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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Isidor» stehen auf Ingrids Seite; meine Berufskollegen scheinen sich nicht sonderlich viel aus mir zu machen und ich mir nicht aus ihnen; ins Wirtshaus gehe ich recht selten und Nachbarn kenne ich keine mit Na­men. Da sitze ich also neben dem Telefon und starre hinaus; die Häuser sind bleich heute und die Fenster dunkel; der Nachmittag schlägt alles tot, was ich liebe. Aber wenn der Morgen kommt wie ein stolzer, silberner Prinz, schlagen die Häuser ihre Augen auf, und ich halte den Atem an und lächle, dann grüße ich demütig, denn nicht ich bin es, der sie ins Leben zurückrief. Manchmal erscheint jemand an einem der Fenster und glotzt wie ein Fisch, dann gehe ich schnell zum Tisch, decke ihn geschäftig, wärme Milch oder Suppe und warte vor Freude zitternd, ohne zu wissen, auf was oder wen.

      Jetzt wird es Abend; bald wird die Nacht die Häuser begra­ben, auch meines; ich werde mich aufs Bett legen und nicht einschlafen können unter dem schweren Hügel. Ich muss nicht arbeiten heute und mag nichts tun. Ob ich Ingrid anrufen soll? Ich werde meinen Namen nicht nennen und auf ihren Atem lauschen; vielleicht erkennt sie den meinen? Vielleicht sieht sie wie in einem Traum die Stille um mich und die Angst; vielleicht flüstert sie meinen Namen oder schreit ihn in plötzlicher Wut?

      Ich hebe den Hörer ab und stelle die Nummer ein; mein Knie schlägt gegen den Tisch; ich bebe am ganzen Körper. Ingrid sagt zweimal «Hallo» in mein Ohr. Ob sie nicht hört, wie mein Herz davonrennt? Im Hintergrund fragt eine Män­nerstimme ungeduldig, wer ich sei, da hänge ich wieder auf und lasse meine Hand auf den Tisch fallen und dann den Kopf; die Brille klemmt mein Nasenbein. So sitze ich lange in der Finsternis, ganz tief in mir drinnen; niemand könnte mich sehen, auch Ingrid nicht, wenn sie hereinträte. Ich habe mich zugeschlossen und bleibe bei mir; endlich bin ich in der Tiefe angelangt. Ich werde nicht mehr auf die hellen, leichten Morgen hoffen und ihnen nicht mehr glauben.

      Enttäuschung

      Ich weiß nicht, ob es leidenschaftliche oder zu wenig leidenschaftliche Naturen sind, die nie eine Sonnenbrille, beim Nähen keinen Fingerhut und zum Geschirrwaschen keine Gummihandschuhe tragen; was andere Menschen nötig finden, um Augen, Fingerspitzen oder Hände zu schonen, war Agnes ärgerlich, muss sie als eine lästige Wand zwischen der Wirklichkeit, zwischen dem Leben und ihrem Ich, dem Erfühlen dieses Lebens empfunden haben. Sie war meine Patin; ich war nach ihr getauft worden und verbrachte, nachdem man mich von meiner liederlichen Mutter weggenommen hatte, deren uneheliches Kind ich war, ein halbes Jahr bei ihr; nachdem sie aber schwer erkrankt war, wurde ich in ein erstes, zweites und drittes Heim gesteckt. In jedem fühlte ich mich wie eines von fünfzig oder hundert Schaumkrönchen, die von den Leiterinnen umher- oder weggeblasen werden konnten. Dass es Wellen gab und Tiefe, ahnte ich, und dass es Schiffe gab, die stampfend und Aufruhr bringend über einen hinwegfahren konnten, wusste ich, seit mein Onkel Raymond nach Tante Agnes’ Tod mich aus dem Heim holte; ich war nun dreizehn Jahre alt. Riesengroß stand er vor mir, überragte er mich bei Tisch, wo er laut vorbetete, warf er Schatten, als ob er Läden hinter sich geschlossen hätte, um das Sonnenlicht für immer von mir fernzuhalten. Hinter den Läden klopften die vielen Bäume wie Stiefel ums Haus. Ich hatte keine Freundinnen, auch keine Puppe; ganz allein war ich von Heim zu Heim gewandert, unansehnlich wie ein Gepäckstück in meinen fremden, abgetragenen Kleidern, und dass Onkel Raymond – der Mann meiner verstorbenen Tante Agnes, dieser wortkargen, kränklichen Frau, die aber mit den Augen gewärmt und deren Stimme wie ein Feuerchen geknistert hatte – mich zu sich sperrte, wurde mir von der Leiterin des letzten Heims als Glücksfall geschildert. Ich galt als bockiges, unzugängliches, verträumtes und faules Kind. Es war das erste Mal, dass sie zu mir allein redete, dass ich mich nicht als ein Teilchen einer Kindergruppe fühlte, nicht als eine in der Fabrik verfertigte Puppe, die ebenso langweilig wie alle andern aussah, die wartete und wie im Traum Befehle hörte, die allen galten: Hände waschen, Zähne putzen, Schulaufgaben lösen, beten, zu Bett gehen. Nein, nun war ich ein Einzelstück, sozusagen eine selbstverfertigte Puppe aus einer Boutique; ich erinnere mich, dass ich mir mit einem Brennen im Herzen wünschte, die Leiterin möge beachten, dass das eine meiner Augen heller war als das andere und dass meine Mundwinkel, obwohl ich ein langgezogenes, trauriges Gesicht hatte, sich leicht nach oben bogen. Ich stellte mir auch vor, sie würde mir etwas erzählen oder erklären, was ich schon lange gerne gewusst hätte: Weshalb es Wellen gab und wie es in der grauen Tiefe aussah, von der man glauben konnte, sie sei gestorben, so still schien sie, und ob ich mich als Teil dieser Tiefe betrachten durfte oder ob ich nur aus Schaum mit ein bisschen spitzem Licht bestand; ja, das Licht war spitz und tat weh, aber die Dunkelheit, in der Onkel Raymond mich verstecken wollte, erhoffte ich mir rund und weich.

      Mein Onkel hatte wieder geheiratet; die Frau glich Tante Agnes überhaupt nicht; ich sah sofort, dass sie an hellblauen Tagen eine Sonnenbrille aufsetzte, ihre Hände während der Hausarbeit mit Gummihandschuhen schonte und zum Nähen einen Fingerhut trug – wie es sich gehört!, betonte sie. Ich weiß nicht, weshalb mich das erschreckte; ich wurde immer mutloser, wagte nichts zu fragen, gab das Warten auf: Die Wellen und die Tiefe waren weiter entfernt als je, auch Schaum und Licht gab es nicht mehr, und das mächtige Schiff, als das mir Onkel Raymond erschienen war, wurde kleiner und kleiner, bis der Horizont es einsog. Es wohnte dort hinten in der Dunkelheit in einem winzigen Loch, und die neue Tante – Monika hieß sie – lebte zwar im Vordergrund, doch irgendwo in der Luft: Vielleicht auf einer Wolke hatte sie ihre Polstermöbel aufgestellt, ihre polierten Tischchen und Kommödchen, ihre staubfreien, echten Teppiche, den Nagellack und den Lippenstift und die Teetassen und die blonde und die schwarze Perücke.

      Wer war ich? Meinen Vater kannte ich nicht, an meine Mut­ter erinnerte ich mich kaum (einmal hatte sie mich mit einer Kelle geschlagen, und als die Kelle ihr aus der Hand und hinter den Herd gefallen war, nahm sie eine zweite, um mich weiterzuprügeln, bis ich blutete …) und Tante Agnes wurde in meinen Wachträumen eine Art vornehmes Skelett, das mit Vorliebe französische Brocken ins Gespräch eingestreut hatte; ich wusste nur noch: «Oh lala» und flüsterte das manchmal heimlich, um mich mit irgendjemandem verbunden zu fühlen. Sie hatte einen stimmlosen Hund besessen, den Onkel Raymond töten ließ, und war immer sehr aufrecht geschrit­ten und steif in hochlehnigen Stühlen gesessen. Ich weiß nicht, was sie in ihrer Kindheit alles hatte schlucken müssen, dass sie so steif geworden war. Ich stellte mir vor, dass sie niemanden geliebt hatte; auch mich nicht – seltsamerweise tat mir das, obwohl es mich quälte, wohl.

      Ich besuchte die Schule im Dorf und saß neben einem Mädchen, das wie meine Banknachbarin im letzten Heim Grete hieß, nur dass es rotes Haar hatte, während jenes braun gewesen war. Während der Schulstunden träumte ich davon, wie ich einen Vorstoß unternehmen würde; was ich mir unter «Vorstoß» vorstellte, hätte ich nicht mit Worten erklären können. Ich wollte aus meiner Starre aufgeschreckt werden, mich fortbewegen, zu jenem Loch im Horizont schwimmen oder fliegen, wohin das große Schiff verschwunden war, wo es so tat, als ob es ein harmloser Wasserkäfer wäre; lächerlich schwach oder gar nicht vorhanden. Oder ich wollte in die Tiefe tauchen, immer tiefer und tiefer; vielleicht erwartete mich dort ein anderes Schiff, das zwischen silbernen Fischleibern äugte und dröhnend lachte, wenn es mich sah; natürlich hätte ich mich verwandelt, wäre ein wunderschönes Mädchen, ein Fräulein aus dem Film, eine Sängerin mit einer Stimme wie ein Wind so klar und fürchterlich geworden.

      Onkel Raymond sahen wir nur übers Wochenende und auch dann nicht immer. Er war in einem kleinen Museum als Konservator tätig und ich nahm an, er müsse sehr gescheit sein, ein Genie vielleicht; sogar seine Zähne dünkten mich melancholisch, weil sie breit und gelb und schwer waren. Ich liebte es, wenn er Lederhandschuhe trug; ich hätte gerne hineingebissen bis ins Fleisch und dann seinen Schrei gehört; einen wilden, bösen Vogelruf. Ich wollte und konnte nicht annehmen, dass alles wie tot war: Ich sehnte mich nach Aufruhr, Blitz, Getöse, Leben und Mord. Ich wollte die Ferne in die Nähe zwingen, sie befühlen, drücken, an mich reißen, mich in ihr wälzen – ob Tante Agnes das getan hatte? Und Tante Monika? Ich wusste, dass Tante Monika sich oft in der Stadt mit einem faden, dünnhalsigen Friseur traf, dessen Namen ich vergessen habe; sie telefonierte ihm fast täglich und fuhr jeden Montagnachmittag mit ihrem kleinen, dummen Rosawagen in die Stadt, wo ich sie einmal mit ihm Arm in Arm entdeckte. Sie betrachteten einen Hutladen. Ich hasste sie – aber nicht nur; widerwillig stellte ich fest, wie es mich freute, dass sie Onkel Raymond betrog.

      An einem Samstagnachmittag, der unter einem schlaffen Himmel umsonst