Fern von hier. Adelheid Duvanel

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Название Fern von hier
Автор произведения Adelheid Duvanel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552208



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      Der kleine Rolf sitzt auf einem der Stühle mitten im roten Zimmer, das renoviert wird; eine Bohrmaschine lärmt, und ein Handwerker misst den Raum aus. Rolf darf die Stellung nicht ändern, um diesen Nachmittag nicht zu verstören. Er legt die rechte Hand langsam auf seinen warmen, runden Kopf und lässt den linken Arm hängen. So sitzt er unbeweglich. Die Bohrmaschine ist wieder still; nun hört Rolf die Stimme seiner Mutter, die stärker kratzt, wenn sie süß flöten möchte; sie sucht ihn, aber er antwortet nicht. Der dort ist ein Zechpreller, der Baum hinter dem Fenster, wo das rote Zimmer aufhört: Alle Töne tropfen in seinen Schlund, und der dicke Regen fließt hinein. Rolf kann die Schwimmhäute zwischen den Händen, mit denen der Baum in der blauen Luft rudert, wegreißen, aber er tut es nicht. Er will dem Baum nicht weh tun. Der Baum steht wie eine finstere Lampe im hellen Tag; er wirft keinen Lichtkreis, sondern einen Schat­tenkreis auf den Boden, und dort stehen Pilze rund um den Stamm. Der Baum hat einmal in Rolfs Haar gelangt und es gestreichelt. Der Autobus fährt am Baum vorbei; die vielen Menschen halten sich an den Stangen fest, um bei der Kurve nicht zu fallen; sie stehen und sitzen krumm wie verkrüppelte Pflanzen, der Baum aber, der morgen gefällt werden soll, steht gerade.

      Ein unbegreifliches Stück

      Lange Zeit stand ich an der Bushaltestelle; auf dem Flachdach des Hauses gegenüber saß eine Reihe von Möwen. Eine schlief nicht; im Licht des Mondes sah ich, dass sie sich putzte. Es war kalt. Ich stieg in den Bus, der hier, zwischen zwei Dörfern, nur auf Verlangen anhält. Hinter mir saß eine Frau, die den Schluckauf hatte. Ich kannte sie von früher; sie trat in meinem andern, milden, weit entfernten Leben auf, aber sie war hereingefallen ins Heute. Ich zog meine ledernen Handschuhe aus und zerknüllte sie nervös. Der Chauffeur sang Arien; er hatte einen schönen Bariton. Die Bäume an den Straßenrändern waren noch nicht leer; sie zeigten den Rest ihres Vermögens: magere, braune Blätter, auf denen der Schnee schon wieder geschmolzen war. Ich äußerte mich während der Fahrt ganz unverfroren, indem ich stöhnte oder «mhm» sagte oder «nönönö», was niemand wichtig nahm. Ich verfolgte in Gedanken Spuren, bezog Stellung und überblickte von gewissen Punkten aus das Ganze. Manchmal landete ich mitten in einer Szene aus meinem Leben, die verfälscht war, aber ich zog dieses falsche, vergoldete Leben meinem jetzigen Leben vor; ich liebte seine Tiefe, die ruhigen Bewegungen der Personen und das frohe Lachen im Hin­tergrund.

      Ich stieg nach einigen Stationen aus und stand vor einem schwarzen Haus. An einer Tür las ich: «Besser nicht eintre­ten»; die Formulierung irritierte mich, da sie Gefahr andeutete. Erst als ich mich der Schrift nochmals zuwandte, entzifferte ich: «Bitte nicht eintreten». Ich trat trotzdem ein, gab aber den Mantel an der Garderobe nicht ab, sondern ging sofort in einen dunkeln Zuschauerraum und setzte mich auf einen leeren Sitz vorne an der Wand. Der Bühnenvorhang war offen, die Bühne war leer, ohne Kulissen, aber das Stück hatte schon vor einer Stunde begonnen.

      Die wenigen Zuschauer zeigten sich unruhig; manche pfiffen oder fielen durch Rufe auf, andere verließen laut murrend den Saal. Anscheinend hatte noch niemand Tomaten oder Eier geworfen. Zwei Kritiker waren fest entschlossen, bis zum Ende auszuharren; sie saßen hinter mir und sprachen mit­einander. Ich, als Verfasserin des Stücks, fühlte mich krank. Eine Schauspielerin, die ich nicht kannte, trat auf; sie weinte während längerer Zeit und öffnete dann ihren Koffer. Das Publikum glaubte, nun sei der Zeitpunkt gekommen, den Atem anzuhalten. Der Koffer war leer. Mein Hass wuchs; er war wie ein Trompetenton; ich musste aufpassen, dass er mich nicht gegen die Wand schmetterte. Ich erhob mich, zog meinen Revolver aus der Handtasche, zielte und wollte abdrücken, doch die beiden Kritiker rissen mich zurück, drehten meine Arme auf den Rücken, entwanden mir den Revolver und sagten, dass auch sie das Stück nicht begriffen hätten, dass das aber doch kein Grund sei, die Schauspielerin umzubringen.

      Maikäfer, flieg

      Nachdem der Verleger der Buchreihe «Aberwitz» (goldfar­bener Einband, Fr. 19.50) sich mit seiner Haarbürste den Rücken gekratzt hat, trinkt er im Garten vor seinem Haus eine Tasse Kaffee. Die Trauerweide, von seinem Sohn gepflanzt, hockt wie ein zottiges Ungeheuer beim Gartentor. Der Verleger hat eins der neuen Bücher, einen Gedichtband von Salomon Spatz, vor sich auf dem Tisch liegen. Der Verleger verfasst in seiner Freizeit auch Gedichte, die allerdings ein wenig dilettantisch sind. Er träumt davon, sie herauszugeben und berühmt zu werden, ein Dichter zu sein wie Salomon, Lindas Entdeckung. Linda heißt des Verlegers kleine Frau, die wie auf Rädchen durchs Haus rollte und die mit Salomon Spatz durchgebrannt ist. Der Verleger kritzelt in sein Notizbuch, das er immer bei sich trägt: «Wenn alle Münder der Erde sich öffnen / Wenn alle Augen der Erde sich öffnen / Wenn die Erde sich mitteilt / Schreit sie / Gebiert sie Blüten und blutet.» Die Zeilen sind ihm eben zugefallen; auf die Wendung «Blüten und blutet» ist er besonders stolz. Er lässt seinen Blick vom Feuerbusch zum Quittenbaum und von da zum Fliederstrauch schweifen; soll er noch Zeilen mit den Worten «Qual, so harte Quitten» oder «fliegende Blüten des Flieders» hinzufügen? Nein, so gut ist das nun auch wieder nicht. Der Verleger trinkt den kalt gewordenen Kaffee und tritt, das Buch unter den Arm geklemmt, ins Haus.

      Draußen zieht der Sohn des Verlegers, der Bücher hasst, einen großen Rechen über den gemähten Rasen, um das geschnittene Gras einzusammeln. Die blaue Himmelsfahne wird eingerollt; es gibt heute nichts zu feiern. Früher, da war das Leben ungestüm zum Verleger gekommen; er hielt es nicht an der Leine, sondern ließ es frei, freute sich, wenn es ihn umhertrieb. Der Verleger gehört aber zu jenen Menschen, die einen Tramführer nicht von einem Polizisten und einen Polizisten nicht von einem Postboten unterscheiden können. Salomon Spatz kann dies wohl. Der Verleger gehört auch zu den Menschen, die nicht Abschied nehmen können; sie zerbrechen daran. Er beherrscht die Sorgfalt nicht, mit der zum Beispiel ein Salomon Spatz mit der Zeit umgeht und so das Abschiednehmen entschärft. Jener hat eine genaue Vorstel­lung davon, wie lange eine Stunde, ein Tag, ein Monat, ein Jahr währt, und er verzweifelt nicht; gelassen schleppt er seine ganze Kindheit mit den vielen Abschieden mit sich.

      Bevor Linda mit Salomon Spatz durchbrannte, schrieb sie einen Abschiedsbrief, den der Verleger nicht lesen kann. Schon immer hat Linda ihn mit ihrer «Charakterschrift», wie sie sagte, genarrt. Der Verleger hat diesen Brief in das Buch von Salomon Spatz gelegt; jedes Mal, wenn er das Papier in die Hand nimmt, hämmert sein Herz, und er fürchtet, er könne die Zeilen plötzlich entziffern und es handle sich um ein böses Gedicht, das Salomon Spatz sich für ihn ausgedacht und Linda diktiert habe. Er stellt sich einen Vers in der Art von «Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt» vor; er glaubt sogar, das Wort «Maikäfer» entziffern zu können. Letzte Nacht träumte er, Pommerland sei abgebrannt, und sein Weinen ließ nicht nach, als er aufwachte.

      Das Brillenmuseum

      Wie sich doch die psychiatrische Klinik dieser Stadt vergrößert; es wird ständig gebaut. Die Klinik wirbt mit Plakaten: «Kommen Sie zu uns! Werden Sie Patient! 1000 Psychiater erwarten Sie!» Ich wollte einmal über diese Klinik eine Erzählung schreiben. Ich wollte zum Beispiel den Satz: «Die Patientin warf ihrem Arzt einen fetten Traum vor» verwen­den. Die Ärzte hätten es aber nicht geschätzt, mit gierigen Tieren verglichen zu werden, mit entthronten Löwen, denen nicht der Löwenanteil zusteht, sondern die froh sein müssen über jeden Happen Traum, den ihnen die Patienten hinwer­fen. Wenn die Patienten dies nicht täten, müssten die Psychi­ater hungern an ihrer Seele und an ihrem Geist. Sie ziehen den Patienten eine Haut nach der andern ab und verzehren diese Häute. Ich wollte über eine Patientin schreiben, die den größten Teil ihrer Häute für sich behält; die Ärzte dürfen an ihren Häuten zwar riechen und lecken, aber nur selten und wenig davon fressen. Oft lassen die Ärzte einen Patienten mit nur noch einer Haut austreten; sie erklären ihn für gesund, doch nach einigen Wochen ist er wieder in der Klinik. In Wirklichkeit können sie niemanden für immer gesund machen; diese Tatsache wollte ich in meinem Text nicht verschweigen. Die Ärzte testen an ihren Patienten Pillen; manche dieser Medikamente bewirken Unruhe, Halbblindsein, Nicht-mehr-schreiben-Können. Die Patienten knüpfen ihren zerrissenen Geduldsfaden immer wieder neu. Wenn der Fa­den zu kurz geworden ist, wenn er sie nicht mehr zusammenhält, bleiben sie für immer in der Klinik als alt und schal gewor­de­ner Fraß, dem kein Psychiater mehr Interesse entgegenbringt.

      Die