Lieber Barack: Die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama. Claudia Clark

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Название Lieber Barack: Die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama
Автор произведения Claudia Clark
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991078296



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Interview für die New York Times, das den auffälligen Titel trug „Merkel ist bereit, Obama zu treffen, um ihm dann zu widerstehen.”20 Diese Schlagzeile dokumentierte Merkels große Befürchtungen gegenüber dem neuen Präsidenten. Während des einstündigen Interviews unterstrich Merkel ihre Position, dass sie nicht vorhabe, die Europäische Zentralbank dahingehend zu ermutigen, der Federal Reserve zu folgen und mehr Geld in das System zu pumpen. Auch würde sie es nicht zulassen, dass Deutschland weitere Gelder in wirtschaftliche Hilfspakete einzahlt. Sie sagte in ihrer Abschlussbemerkung, sie erwarte von Obama, dass er zu seinen Versprechungen stehe – nämlich, die amerikanische Staatsverschuldung zu kontrollieren, so wie es seine inländischen Konjunkturmaßnahmen vorsahen.21

      Obwohl die Amerikaner den vorgeschlagenen Maßnahmen gegenüber zögerlich blieben, erwartete die deutsche Regierung, dass sich Obama der Wirtschaftsreform-Bewegung auf dem bevorstehenden G-20-Gipfel in London am 20. April 2009 anschloss. Viele von Merkels unsprünglichen Bedenken dem neuen Präsidenten gegenüber stützten sich darauf, dass dieser zu viel rede und – so befürchtete sie – nicht in der Lage sei, seine Versprechen zu halten. Ihre in der New York Times genannten Abschlussbemerkungen demonstrierten diese Zögerlichkeit gegenüber Obama. Jetzt hatte sie ihre „Abwarten-und-Tee-trinken“-Haltung gegenüber dem US-Präsidenten an den Tag gelegt. Keine Frage, Merkel und Obama waren unterschiedlicher Meinung, wie die Wirtschaftskrise angegangen werden sollte. Aber Merkel war weder auf Obamas Demut vorbereitet, mit der er der Situation begegnen sollte, noch auf seine Bereitschaft darauf hinzuarbeiten, dass es in Zukunft solche Krisen nicht mehr geben würde.

      * * *

      Als sich die politische Weltspitze im April 2009 in London traf, gab es von Anfang an zwei Fraktionen: Die Vereinigten Staaten und Großbritannien gegen Frankreich und Deutschland. Sowohl der britische Premierminister Brown als auch Präsident Obama haben wiederholt angedeutet, dass Regulierungen und Steueroasen eine nebengeordnete Rolle im Stimulus-Paket spielen sollten, während Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy das Gegenteil forderten. Beide weigerten sich, weiterhin Gelder ohne Absicherungen zur Verfügung zu stellen; wie z. B. strengere Regulierungen, die eine erneute Krise verhindern würden. In einer gemeinsamen Pressekonferenz von Merkel und Sarkozy stellten beide Politiker klar, dass sie in dieser Situation am gleichen Strang ziehen würden. Wie der Spiegel berichtete, erklärte Nicholas Sarkozy: „In Bezug auf die Regulierung der Finanzmärkte gibt es keinen Platz für Verhandlungen.“22 Merkel bekräftigte ihren französischen Kollegen als sie hinzufügte: „Für Deutschland und Frankreich stehen die Regulierungen nicht zur Debatte. Wer das nicht versteht, der ebnet den Weg zur nächsten Finanzkrise.“23 Die Zeitschrift charakterisierte das Treffen der beiden mit „Sarkozy und Merkel gingen auf die Barrikaden.“24 Dies beschrieb die anfängliche Stimmung auf dem Gipfel recht gut, doch im Verlaufe der Tagung gab es viele Diskussionen, bei denen die Politiker niemals den Zweck des Treffens aus den Augen verloren – eine finanzielle Lösung zu finden, welche die Wirtschaft stimulieren und eine erneute schwere Rezession verhindern würde.

      Dem Spiegel-Artikel zufolge war die Anspannung unter den Politkern in London derart hoch, die Diskussionen hitzig und die Anschuldigungen verleumderisch, dass man sich wunderte, dass nach dem Gipfel alle noch miteinander redeten. Zum Beispiel verteidigte sich die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner laut Spiegel gegenüber Kanzlerin Merkel in einer angeblichen Meinungsverschiedenheit über Hilfe in Afrika mit den Worten: „Was Merkel sagt, hört sich so an, als möchte ich afrikanischen Ländern nicht helfen. Sollte ich diesen Eindruck vermitteln, dann entschuldige ich mich dafür. Ich verstehe, wie die Dinge hier ablaufen. Änderungen werden in der letzten Minute gemacht. Wir können so nicht arbeiten. Und, übrigens“, mit Blick auf Merkel gerichtet, „ich bin nicht mehr böse“.25

      Eine Lösung zu finden erwies sich als so starke Herausforderung, dass selbst Politiker, die normalerweise die gleiche Meinung vertraten, über die Art und Weise stritten, wie man nun am effektivsten das Problem angehen sollte. So zum Beispiel waren sich Premierminister Brown und Präsident Sarkozy darüber einig, dass eine Liste von Banken, die sich weigerten, den in London erwirkten Richtlinien zu folgen, veröffentlicht werden sollte – aber das Wie wurde zum Streitpunkt. Brown argumentierte, dass diese Namen schon über die OECD (Organization Economic Cooperation and Development) publik gemacht wurden, während Sarkozy darauf bestand, dass alle Banken im Abschlussbericht des Gipfels genannt werden sollten. Brown versuchte ihn zu beruhigen: „Nicolas, denke daran, auf was wir uns geeinigt hatten. Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei.“26 Offensichtliches Fazit dieser Auseinandersetzungen ist jedoch, dass trotz der Uneinigkeit darüber, wie man nun das Ziel erreiche, alle G-20-Teilnehmer die gleiche Vision teilten – es muss das getan werden, was notwendig ist, um die Wirtschaft in ihren Ländern und für ihre Menschen zu stimulieren.

      Nach stundenlangen Verhandlungen, vielen Differenzen und noch mehr Kompromissen konnten sich die politischen Akteure der Weltbühne darauf einigen, wie die größte Wirtschaftskrise seit 1930 zu meistern sei: Schlussendlich verpflichteten sich die Länder, neue Regelungen in ihren Finanzmärkten einzuführen, Steuerparadiese abzuschaffen und Kredite an ärmere Länder zu vergeben. Die deutschen Beiträge würden hierbei aus den Tresoren der Bundesbank stammen, statt aus den einzelnen Bundeshaushalten. Auch einigte man sich auf die Einführung einer neuen Kontrollinstanz, dem Financial Stability Board (FSB). Sarkozy war ebenfalls zufrieden, weil sich im G20-Abschlussbericht eine Liste von Steueroasen befand.27

      Die in London erreichten Ergebnisse waren sicherlich nicht perfekt. So gab es zum Beispiel keine Lösung für das Angehen des immer größer werdenden Unterschieds zwischen Nationen mit großer Konsumentenverschuldung, wie in den USA, und Nationen wie Japan und Deutschland mit hohem Exportüberschuss.28 Ein Spiegel-online-Artikel fasste den Gipfel so zusammen: „Die G20-Teilnehmer haben es geschafft, einen offenen Konflikt zu vermeiden, aber ihre Uneinigkeit hat bestehende wirtschaftliche Unterschiede noch vergrößert. Die Welt, die wir in London sahen, war eine Welt im Wandel. Es war nicht mehr die alte Welt, aber auch noch keine neue Welt, die in der Lage ist, übereinstimmend zu denken.“29

      Unter all den Übereinkünften und Zugeständnissen kam wohl das bedeutendste Entgegenkommen von Präsident Obama: Gegen Ende des Gipfels, als sich Merkel, Brown, Sarkozy und andere G20-Politiker immer noch die Köpfe heißredeten, blieb Obama ungewöhnlich still. Er beendete sein Schweigen jedoch, als der italienische Premierminister Silvio Berlusconi dem neugewählten Präsidenten direkt in die Augen schaute und anmerkte, dass die Wirtschaftskrise seinen Ursprung in den USA habe und Obama somit eine Verpflichtung habe, eine Lösung zu finden.30 Sehr zur Überraschung aller Beteiligten im Raum, insbesondere Merkel, antwortete Obama: „Was mein italienischer Freund sagt, ist richtig. Die Krise begann in den USA. Ich übernehme dafür die Verantwortung, auch wenn ich zu dem Zeitpunkt nicht Präsident war.“31

      Es ist durchaus möglich, dass Obamas Kommentar als das wichtigste Zugeständnis eines Weltpolitikers der Neuzeit in die Geschichtsbücher eingehen wird. Dem Spiegel nach machte sich Obama die größte Finanzkrise seit 100 Jahren zu eigen. Er gab zu, dass sicherlich auch andere Länder für die Krise verantwortlich waren, aber dass der Großteil der entstandenen Probleme auf Amerika mit seiner schier unendlichen Gier nach Profit zurückgehe. Obamas Fähigkeit, dieser Krise die Stirn zu bieten, statt Verantwortung zu scheuen, galt als starkes Signal der Hoffnung für die anderen G20-Staaten, die nun erwarteten, dass er Maßnahmen implementieren würde, die eine zukünftige Weltwirtschaftskrise verhindern.

      Merkel rief darauf sofort ihren Finanzminister an und informierte ihn über Obamas Bekenntnis.32 Obwohl es noch eine Weile dauern sollte, ehe Merkel ihre Vorbehalte gegenüber Obama komplett ablegte, so war dieses Eingeständnis die Basis für ihre Beziehung, die sich später entwickeln sollte.

      Gegen Ende des Gipfels hatte Obama für seine Kollegen noch ein paar Tipps für den Umgang mit den Medien parat: „Den Journalisten die Ergebnisse des Gipfels nicht unter Wert zu verkaufen, ihnen nicht die Uneinigkeit zu zeigen, die sie so gerne sehen würden, sondern Selbstbewusstsein auszustrahlen.“33

      In einem Spiegel-Artikel reflektierte die Kanzlerin besonnen die Ereignisse in London – Obamas Ratschlag im Hinterkopf behaltend – mit den Worten „ein sehr, sehr guter Kompromiss“ wurde erreicht, ein fast sogar,historischer Kompromiss‘.34 Tatsächlich hatten die Resultate des Londoner Gipfels die Welt vor