Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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– „Ich habe hier aber keine Ausnüchterungszelle“, erwiderte ich auf der Stelle. Sie ließen allerdings nicht locker: „Wir auch nicht, unsere ist schon besetzt.“

      „Na schön“, stöhnte ich einwilligend. Ich nahm ihn in Empfang, hakte ihn bei mir unter und begleitete ihn auf die Station. Mit Ausnahme des erhöhten Alkoholspiegels war er diesmal kerngesund, abgesehen von einer nur leichten Unterkühlung. Er war wohl noch rechtzeitig von Passanten gefunden worden. Und er war keineswegs so volltrunken, dass er vollständig desorientiert gewesen wäre. Ich lenkte meine Schritte an der Gangkreuzung auf dem Flur nach rechts in Richtung unseres großen Badezimmers mit der freistehenden Badewanne, die er bereits kennengelernt hatte, er hingegen tendierte deutlich nach links in Richtung des ihm wohlbekannten Viersterne-Rundumversorgungszimmers. Er kannte sich inzwischen bestens aus. Wir drifteten ein wenig auseinander. Ein kurzes, aber hartnäckiges Tauziehen konnte ich zu meinen Gunsten entscheiden. „Nichts da, hier geht’s lang!“, sagte ich sehr bestimmt, worauf er mich sichtlich enttäuscht anblickte. Wir betraten also das gut beheizte Badezimmer. Dort musste ich ihm noch einige Regeln erklären: „Also hören Sie zu. Wir haben hier für solche Fälle ein Feldbett, das werden wir von dem Tragegestell auf den Boden setzen, dann können sie nicht mehr tiefer fallen. Die Schwestern bringen Ihnen warme Decken, und eine Kanne warmer Tee und einige Scheiben Brot werden sich auch noch finden lassen. Niemand darf wissen, dass sie hier übernachten. Ich habe einen sehr strengen Chefarzt, der kommt schon morgens um 7:00 Uhr ins Haus. Wenn der etwas bemerken sollte, bekomme ich großen Ärger!“ Er nickte ganz verständnisvoll, er hatte begriffen: „Is ja juut, Herr Dokter, isch tu allet, watse saajen“, lallte er in einem Gemisch aus rheinischem und berlinerischem Dialekt.

      Der Chefarzt betrat natürlich nicht um 7:00 Uhr frühmorgens das Krankenhaus, aber ich nach wenigen Stunden Schlaf in dem Dienstzimmer, das sich in dem Gebäude gegenüber der Klinik befand. Ich lenkte meine Schritte sofort auf die Station und öffnete die Badezimmertüre. Mein nächtlicher Gast war verschwunden und hatte den Raum sogar relativ ordentlich hinterlassen. Die leere Teekanne, ein Becher und ein Teller, den er bis auf den letzten Brotkrümel geleert hatte, standen einsam neben der Liege auf dem Fußboden. „Na also, hat doch prima geklappt“, sagt ich zu mir selbst. Dann öffnete ich weit die beiden großen Flügelfenster, und die Alkoholschwaden in dem Raum entfleuchten in die kalte, klare Winterluft.

      Ich konnte nicht behaupten, dass dieser Vagabund die Situation ausnutzte und aus unserem Krankenhaus seinen zweiten Wohnsitz machte. In den folgenden Jahren kam er vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr für eine Nacht, vorzugsweise in den kalten Wintermonaten und auffallenderweise immer dann, wenn ich Nachtdienst hatte. Inzwischen verhielt es sich schon so, dass sich die Nachtschwestern und ich uns in einer eisigen Winternacht fragten, wann uns unser Freund wieder besuchen würde, es wäre doch eigentlich genau sein Wetter. Kurze Zeit später suchte er dann tatsächlich eine wärmende Bleibe für eine Nacht. Vielleicht verhielt es sich aber auch so, dass meine Kollegen in ihren Nachtdiensten nicht die Geduld mit ihm aufbrachten und ihn, betrunken wie er war, direkt wieder auf die Straße setzten. Ich hegte auch den Verdacht, dass er diverse andere Möglichkeiten der Unterbringung kannte, zum Beispiel das nicht sehr weit entfernte Obdachlosenasyl. Unser gastliches Krankenhaus schien er immer nur dann aufzusuchen, wenn er sich woanders gerade einmal wieder sämtliche Sympathien verscherzt hatte. Auf seine Weise war er ein kleiner Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft, ohne festen Wohnsitz, der sich aber dennoch nicht aufgegeben hatte.

      Zu unserem Krankenhaus führte ein schmaler Zugangsweg durch ein kleines Waldstück mit dicht stehenden hohen Kiefern der angrenzenden Heidelandschaft, die Durchfahrt war jedoch nur für Rettungsfahrzeuge gestattet. Dennoch nutzte ich, wie übrigens viele andere Mitarbeiter auch, diese Zufahrt auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig, bedeutete sie doch eine wesentliche Abkürzung, so dass ich morgens zehn Minuten länger zu Hause schlafen konnte. Eines Morgens erschienen auf dem Zugangsweg hinter einem mächtigen Kiefernstamm in dem Waldstück zunächst die rote Kelle, dann der uniformierte Arm und schließlich der dazugehörige Polizist, nebst einem Kollegen. Ich war in einen gemeinen Hinterhalt geraten und ertappt worden. „Führerschein und Zulassung bitte“, sagten sie streng. Es folgte ein ausführlicher Vortrag über die begangene Verkehrswidrigkeit, die mich trotz intensiver Beteuerungen meiner Unabkömmlichkeit im Krankenhaus zehn Deutsche Mark kostete. Es war auch nur ein schwacher Trost, dass an diesem Morgen noch zahlreiche andere Mitarbeiter der Klinik mein Schicksal teilen mussten. Ärgerlich war nur die Tatsache, dass diese beiden Ordnungshüter in einer Rekordzeit so viele Mitarbeiter zur Kasse gebeten hatten. Während des Mittagessens in der Kantine an diesem Tag gab es nur ein Thema: Wir Ärzte fragten uns natürlich fachübergreifend, wer die gewinnbringende Anregung zu dieser modernen Form einer Wegelagerei gegeben hatte. Chirurgen, Neurologen und Internisten waren sich in ungewohnter Eintracht sehr schnell einig, dass diese Idee nur von „ganz oben“ gekommen sein konnte.

      Viele Monate nach meiner grob fahrlässigen Verkehrswidrigkeit hatte ich wieder einmal Nachtdienst, und in dieser Nacht gab es nun wirklich überhaupt nichts zu tun. Ich saß gemütlich mit den beiden Nachtschwestern bei einer Tasse Kaffee zusammen. Diese friedliche und harmonische Runde wurde spät abends abrupt unterbrochen durch drei nebeneinandergehende Personen, die langsamen Schrittes über den langen Stationsflur auf uns zukamen. Die mittlere Person zeigte ein auffallend unsicheres Gangbild, ähnlich einem schwankenden Schiff auf stürmischer See, sodass sie von den Begleitern kräftig gestützt werden musste. Schon von Weitem erkannte ich sie alle drei, Gesichter konnte ich mir schon immer gut einprägen: Es handelte sich um den König der Landstraße mit langem Rauschebart und der üblichen kräftigen Alkoholfahne und um die beiden Polizisten mit der roten Kelle, die mich um die horrende Summe von zehn Deutschen Mark erleichtert hatten.

      Sie konnten sich wohl nicht mehr an mich erinnern, denn an jenem Morgen hatten sie einfach zu viele Verkehrssünder zur Kasse bitten müssen. Sie fragten: „Guten Abend, könnten Sie bitte bei diesem Mann eine Blutprobe abnehmen?“ Darauf wollte ich erst einmal wissen, was er denn überhaupt ausgefressen hätte. „Der hat mal wieder randaliert“, erklärten sie. Ich flunkerte ein wenig und teilte ihnen voller Bedauern mit, dass ich momentan furchtbar überlastet wäre, dass gleich mehrere dringende Aufgaben auf mich warten würden und ich die Blutprobe daher leider nicht entnehmen könnte. Bei diesen meinen Worten schien es mir fast so, als hätte ich bei einem kurzen Seitenblick ein fröhlich-triumphierendes, wenn nicht sogar ein dankbares Aufblitzen in den Augen meines Lebenskünstlers wahrgenommen, mit dem sich seine Gesichtszüge sichtbar entspannten. Jedenfalls blieb den beiden Polizisten nichts anderes übrig, als darauf achselzuckend mit dem Randalierer in ihrer Mitte und unverrichteter Dinge die Klinik wieder zu verlassen. Und ich erinnerte mich an meine dringende Aufgabe und kehrte zufrieden zu meiner Tasse Kaffee zurück, die ich nicht kalt werden lassen wollte. Wohlgelaunt dachte ich an ein geläufiges Sprichwort: „Man sieht sich doch immer zweimal im Leben“.

      Bevor ich gemäß der Ausbildungsordnung zum Internisten die Klinik wechseln musste, begegneten wir uns noch ein letztes Mal, und diesmal nicht in einem kalten Winter, sondern im Hochsommer. Es gab in unserem Stadtteil eine kleine Fußgängerzone mit einigen Geschäften wie Bäckereien, Weinhandel, Blumenladen, Discounter und anderen mehr. An dem schönen Sommertag war die Fußgängerzone gut besucht, einige Passanten saßen unter den großen, rot-weiß gemusterten Sonnenschirmen vor den Bäckereien und nahmen einen kleinen Imbiss oder eine Tasse Kaffee zu sich. An meinem freien Nachmittag schlenderte ich gemächlich an den Geschäften entlang, um einige Besorgungen zu machen.

      Schon von Weitem sah ich ihn an einer Straßenecke auf einem niedrigen Höckerchen sitzen, seine Füße hatte er auf einen kleinen Schemel gestützt, seine Hemdsärmel waren in der warmen Nachmittagssonne hochgekrempelt. Auf seinen angezogenen Knien ruhte ein großer Zeichenblock, auf dem er eine vor ihm stehende Frau offenbar mit Bleistift und Kennermiene porträtierte. Sein Blick richtete sich immer wieder auf ihr Gesicht und den Zeichenblock, einige Striche skizzierte er sogar, ohne die Augen von ihrem Gesicht abzuwenden. Mehrere Passanten standen um ihn herum und bewunderten sein Werk. Ich musste zweimal hinschauen, denn ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, unser letztes Zusammentreffen lag schon viele Monate zurück: Von seinem Rauschebart hatte er sich getrennt, seine Haare waren mehr als ordentlich frisiert, er war für seine Verhältnisse relativ ordentlich gekleidet, und seine mir nur allzu gut bekannte Alkoholfahne fehlte ebenfalls.