Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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Miene, offenbar war ihm unser Wiedersehen an diesem Ort und in dieser Situation nicht angenehm. Ich blickte ihm von hinten über die Schulter auf seine Zeichnung und konnte es kaum glauben: Mit scharfer Beobachtungsgabe und erheblichem künstlerischem Talent hatte er die Gesichtszüge dieser Passantin mit wenigen Bleistiftstrichen und einigen Schraffierungen so gekonnt zu Papier gebracht, als würde sie nicht vor uns stehen, sondern aus dem Zeichenblock herauswachsen. Besser hätte man dieses Porträt nicht gestalten können. Die Art und Weise, wie er die Zeichnung angefertigt hatte, sagte sehr viel über ihn aus.

      Ich hatte schon immer geahnt, dass in diesem rätselhaften Menschen viel mehr steckte, als nur ein hoffnungsloser Alkoholiker. Seine Augen, sein Blick und seine Gestik bei unserer ersten Begegnung, damals kurz vor Weihnachten, hatten es mir verraten. Als die Passantin ihr Porträt zufrieden zusammenrollte, unter den Arm klemmte und ihren Weg fortsetzte, fragte ich ihn, wie viel er denn für seine Kunstwerke nehmen würde: „Och, was die Leute so geben, Herr Doktor, meistens zehn Mark.“ „Und dann?“ Er sagte nichts, blickte mich nur an und wies mit einer Kopfdrehung und einer kurzen Anhebung des Kinns in die Richtung des nahegelegenen Kiosks, der dort am Marktplatz stand. Dort gab es neben Zeitungen und Tabakwaren sicherlich auch Schnaps, und er würde das Entgelt für sein Kunstwerk gewiss nicht in eine Zeitung investieren. Er war ehrlich, ich hatte seine Geste wohl verstanden.

      Ich hatte mir über die Jahre, die ich ihn kannte, nie eingebildet, ihn von seiner Alkoholabhängigkeit befreien zu können. Dazu wäre sicherlich eine sechsmonatige Entziehungskur erforderlich gewesen, mit allerdings nur fraglichem Erfolg. Stattdessen habe ich ihn aber ein wenig bedauert, weil er mit seinem Humor, seiner Schlitzohrigkeit und seinem zweifelsohne vorhandenen künstlerischen Talent sehr viel mehr aus seinem Leben hätte machen können.

      Dennoch hatte ich nie den Eindruck gehabt, dass er mit seinem Lebensstil unglücklich war, vielleicht aber doch mit einer einzigen Ausnahme: einer frostigen, bitterkalten Winternacht ohne ein wärmendes Dach über dem Kopf.

      7 Das Schulzeugnis

      Die Arbeit der letzten Tage war anstrengend genug, und die Innere Abteilung war mit Patienten nahezu voll belegt. Mein letzter Nachtdienst lag noch nicht lange zurück, und nun trat ich bereits den nächsten Nachtdienst an. Warum mussten eigentlich die meisten ernsten Notfälle nachts in die Klinik kommen und warum auch noch ausgerechnet in meinen Diensten? Ich haderte mit meinem Schicksal und ertappte mich bei finsteren Verschwörungstheorien, so als hätten es alle erdenklichen lebensbedrohlichen Notfälle nur auf meine Dienste abgesehen. Dies war natürlich nicht der Fall, denn schließlich waren auch meine Arztkollegen in ihren Diensten gut beschäftigt, aber so war an diesem Abend eben die Stimmungslage.

      Ich erhielt einen Anruf von unserem Pförtner, der mir mitteilte, dass sich der Notarzt „mit einer Tablettenvergiftung“ angekündigt hatte. Nun war es seinerzeit nicht so, dass der Notarzt jeden Patiententransport in die Klinik telefonisch ankündigte. Dies geschah in der Regel nur bei besonders dringenden Notfällen. Daher begab ich mich sofort in die große Halle neben der Notfallambulanz, in die der Notarztwagen einfahren würde, und wartete dort zusammen mit den Ambulanzschwestern.

      Die Bezeichnung „Tablettenvergiftung“ konnte nun allerhand bedeuten. Abhängig von dem eingenommenen Medikament und der Dosierung konnte es sich um eine relativ harmlose oder aber auch um eine lebensgefährliche Vergiftung handeln. Über die Gründe der Vergiftung, die von einer versehentlichen Überdosierung über einen dummen Streich bis zu einem ernst gemeinten Selbstmordversuch reichten, fehlten uns ebenfalls jegliche Informationen. In dieser Ungewissheit warteten wir also auf den Notarztwagen.

      Nach wenigen Minuten hörten wir in der Ferne schon das Martinshorn, das langsam näher kam und immer lauter wurde. Die Krankenwagenfahrer ließen das Martinshorn bis unmittelbar vor dem Krankenhaus eingeschaltet, obwohl auf der Zufahrtsstraße zu dieser Nachtstunde so gut wie kein Verkehr herrschte. Auch dieser Umstand deutete eher auf einen sehr dringenden Notfall hin. Kurz darauf fuhr der Notarztwagen schon in die Halle hinein. Als die Rettungssanitäter aus dem Wagen sprangen und die Wagentüren öffneten, sah ich zwei 14-jährige Mädchen mit sehr blasser Hautfarbe und somit in schlechtem Zustand. Ich reagierte mehr als erstaunt, denn auf gleich zwei Patientinnen war ich nicht vorbereitet worden. Entweder der Notarzt oder der Pförtner hatte bei seinem Anruf die zweite Patientin unterschlagen. Dem Notarzt war es bei beiden nicht gelungen, eine Infusionskanüle in die Vene zu legen. Den Grund hierfür sah ich gleich: Obwohl beide Mädchen gertenschlank waren und die Venen daher eigentlich gut sichtbar sein mussten, war dies eben nicht der Fall, denn sie waren kaum mit Blut gefüllt. Bei beiden Patientinnen war der Puls am Handgelenk nur sehr flach tastbar, und dazu vollkommen unregelmäßig und viel zu langsam. Auch die Blutdruckwerte waren erheblich erniedrigt. Das schaffte ich unmöglich alleine, denn ich konnte unmöglich beide gleichzeitig versorgen. Ich bat den diensthabenden Anästhesisten (Narkosearzt) um Unterstützung.

      Laut dem Bericht des Notarztes hatte die erste junge Patientin die Versetzung zum Ende des Schuljahres nicht geschafft, sie war also sitzen geblieben. Die zweite Patientin hatte zwar die Versetzung geschafft, war aber als beste Freundin der Handlungsweise der Sitzenbleiberin gefolgt. Letztere hatte bei ihrer Großmutter auf der Ablage des Badezimmerspiegels über dem Waschbecken ein fast volles Röhrchen mit Herztabletten gefunden. Den Inhalt hätten sie sich geteilt und vor mehreren Stunden mit einem Schluck Bier eingenommen. Sie waren aber keinesfalls alkoholisiert, denn ich konnte keine Alkoholfahne riechen. Das leere Tablettenröhrchen hatte der Notarzt mitgebracht.

      Damals wurde dieses Medikament, in der Regel eine Tablette täglich, zur Stärkung des Herzmuskels bei Patienten mit einer Herzmuskelschwäche verordnet. In massiver Überdosierung eingenommen, wie in dem vorliegenden Fall mit mindestens zehn Tabletten bei jeder Patientin, kann es jedoch zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen mit Todesfolge führen. Wenn das Medikament einmal ins Blut gelangt ist, wird es leider nur sehr langsam über zehn Tage abgebaut. Die Tabletteneinnahme lag bereits so viele Stunden zurück, dass die Tabletten bereits aus dem Darm resorbiert worden waren und ihre gefährliche Wirkung am Herz entfaltet hatten, wie am Puls der Mädchen unschwer zu erkennen war. Ein Gegenmittel gab es nicht, was bedeutete, dass mir nur die Behandlung der äußerst ernst zu nehmenden Folgeerscheinungen der Vergiftung blieb. Nun klagten die beiden über Schwindel, Benommenheit und Farbensehen, also die bekannten Nebenwirkungen bei einer Überdosierung. Glücklicherweise gehören hierzu auch Übelkeit und Erbrechen, und sie hatten sich zu Hause bereits mehrfach übergeben, wie sie sagten. Immerhin war es ihnen so schlecht gegangen, dass sie noch soeben den Notarzt rufen konnten.

      Die aktuelle Situation war nicht dazu geeignet, um sich tiefgreifende Gedanken über die näheren Umstände der unüberlegten Handlungsweise der beiden Schülerinnen zu machen. Das jugendliche Alter der beiden, die grundlose Mittäterschaft der versetzten Schülerin und der Aufenthaltsort in Großmutters Wohnung sprachen für sich. Durch ihre Dummheit hatten sie mich in ernsthafte Bedrängnis gebracht. Wäre die aktuelle Lage nicht so ernst gewesen, dann hätte ich ihnen gerne eine ausführliche Standpauke gehalten. Was blieb also zu tun?

      Ich dachte zunächst an eine Magenspülung, ließ den Gedanken aber wieder rasch fallen, denn der Zeitpunkt der Tabletteneinnahme lag viel zu lange zurück, und außerdem hatten sie erbrochen und damit den Magen entleert. Sie erhielten allerdings in Wasser aufgelöste Kohletabletten mit dem Ziel, die Resorption noch im Darm befindlicher Tablettenreste zu verhindern. Als sie die Gläser mit der pechschwarzen Kohleflüssigkeit sahen, verzogen sie simultan das Gesicht. „Runter damit, sonst werdet ihr sterben!“, sagte ich bewusst streng. Damit wussten sie nun endgültig, worum es ging, es ging um ihr Überleben! Wir befanden uns keineswegs in einer Situation, die langwierige Diskussionen und Erklärungen erlaubte, sondern rasches Handeln erforderte. Meine Worte verfehlten jedenfalls nicht ihre Wirkung, und sterben wollten sie offenbar doch nicht. Und wir hatten reichlich Kohletabletten aufgelöst, die kann man nicht überdosieren. Sie hoben die Gläser, hielten sich demonstrativ mit zwei Fingern die Nase zu, schauten sich gegenseitig an und leerten sie gemeinsam mit widerwilliger Miene bis zum letzten Tropfen.

      Auf dem Handrücken, am Unterarm und in der Ellenbeuge meiner Patientin war zunächst keine Vene sichtbar, trotz eingehender Stauung mit dem Stauschlauch am Oberarm. Also musste ich die Venen tasten. Am Unterarm fand ich nach längerer Suche