Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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darauffolgenden Tag saß mein Patient freudestrahlend und kerzengerade in seinem Bett. Er war sogar ordentlich frisiert und rasiert worden und vollkommen umgeben von einer riesigen Duftwolke aus Fichtennadelöl und anderen Essenzen, die sich bis an die Türschwelle seines Zimmers ausgebreitet hatte. Die Schwestern mussten das Badewasser mit mindestens einer ganzen Flasche solcher Zutaten veredelt haben, denn diesmal wollten sie alles richtig machen. Ein neuer Mensch war geboren worden, so schien es, ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er thronte nun beinahe so stolz und glückselig in seinem Bett, dass es den Anschein hatte, als ob seine Hoheit die Untertanen wohlwollend und gnädig zu einer Audienz empfangen wollte. Mit diesem Eindruck sollte ich auch gar nicht so falschliegen.

      Nur wenige Tage später, es war inzwischen kurz vor Weihnachten, zogen mich die Schwestern fast flehentlich am Ärmel in ihr Stationszimmer und schlossen hinter mir sofort die Türe. Für ihr Anliegen hatten sie sich sogar des Beistands der Oberschwester versichert, der mein Patient schon immer ein Dorn im Auge gewesen war und die mich seit Tagen mit strafenden Blicken bei unseren Begegnungen auf dem Stationsflur würdigte. Ganz unvorbereitet traf mich aber die jetzige Zusammenkunft nicht, da sich die Schwestern schon mehrfach über meinen Patienten beschwert hatten. „Herr Doktor, wir müssen mit Ihnen reden“, verkündeten sie wichtig. Was dann folgte, war eine nicht enden wollende Litanei von neuen Beschwerden über meinen Patienten: „Der benimmt sich hier wie ein Prinz auf der Erbse, lässt sich von vorne bis hinten bedienen, klingelt pausenlos und wegen jeder Kleinigkeit, so als wäre er hier der einzige Patient, er sei ja so krank, fordert zu den Mahlzeiten immer einen Nachschlag, als wäre dies hier ein Viersternehotel, und … und …“ Ich unterbrach sie vorsichtshalber, denn ihr Vortrag hätte sich sonst sicherlich noch längere Zeit hingezogen. Ich konnte ihnen nicht gänzlich widersprechen, denn einen ähnlichen Verdacht hatte ich auch schon gehegt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl auf unserer Station, einmal abgesehen von dem gut fortschreitenden Genesungsprozess. Offensichtlich verfügte er auch über das Talent, gewissermaßen auf Vorrat essen zu können, denn der Winter war ja noch lange nicht vorüber. Wahrscheinlich war es ihm schon seit Jahren nicht mehr so gut gegangen. Ich erklärte ihnen aber auch, dass seine Lungenentzündung noch nicht vollständig auskuriert sei und er sicher über Weihnachten im Krankenhaus bleiben müsste. Auf diese meine Botschaft reagierten sie zunächst mit entsetztem Schweigen, gefolgt von einem mehrstimmigen Chor lautstarker, stöhnender Proteste und gekrönt von einem gemeinsamen, ohnmächtigen Augenrollen in Richtung der Zimmerdecke.

      Dem Patient erklärte ich allerdings bei der nächsten Gelegenheit, dass seine Rundumversorgung durch die Schwestern ab sofort beendet sei und er tagsüber sein Bett zu verlassen habe. Er zeigte dafür vollstes Verständnis, nickte dazu ganz brav und sagte: „Jawoll, Herr Doktor.“ Wohin ihn meine ärztlich verordnete Selbstständigkeit allerdings führen würde, sollte sich dann sehr bald noch erweisen.

      Die Gestaltung des Dienstplans für die Weihnachtstage und den Jahreswechsel gestaltete sich immer etwas schwierig, besonders aber die Besetzung des Nachtdienstes am Heiligen Abend. Es wurde, wenn möglich, Rücksicht genommen auf Kollegen mit Familie oder anderen Verpflichtungen. Wenn niemand bereit war, den Dienst zu übernehmen, wurde eben durch eine Streichholzziehung entschieden: Der Pechvogel, der das Zündhölzchen ohne Schwefelkopf gezogen hatte, hatte den Dienst gewonnen. Da ich noch keine Kinder hatte, meldete ich mich also freiwillig für den Nachtdienst am Heiligen Abend. Irgendwann wäre ich in jedem Fall an der Reihe, wenn nicht in diesem, dann sicherlich im nächsten Jahr.

      Es war Heiliger Abend. Den Weihnachtsbaum hatte ich einen Tag zuvor gekauft und bereits geschmückt, die Bescherung würde am ersten Weihnachtsfeiertag stattfinden. Also trat ich meinen Dienst an diesem 24. Dezember an, ein normaler Arbeitstag im Krankenhaus wie jeder andere auch. Zu Weihnachten waren die Stationen immer relativ leer, viele Patienten wünschten die Entlassung, um im Kreis ihrer Familien feiern zu können. Andererseits benötigten wir auch freie Betten, da die Arztpraxen über die Feiertage geschlossen waren und die Patienten ohne Einweisung direkt das Krankenhaus aufsuchten. So war es zu Beginn dieses Dienstes zunächst ziemlich ruhig auf den Stationen. In der Adventszeit waren die Stationen von den Schwestern liebevoll mit Gestecken aus frischen Tannenzweigen und Adventskränzen geschmückt worden, um den Patienten eine Freude zu bereiten. An der Wegkreuzung, dort, wo der Gang aus der Röntgenabteilung auf den sehr langen Quergang zu den beiden großen internistischen Stationen links und rechts mündete, hing ein riesiger Adventskranz mit dicken roten Wachskerzen von der Flurdecke. Hier und da hatte der Duft von Weihnachtsgebäck und frisch geschnittenem Tannengrün die üblichen Krankenhausgerüche verdrängt.

      Am Abend wurde ich in die Ambulanz gerufen. Dort erwartete mich eine betagte Patientin mit schwerer Atemnot. Meine Untersuchung mit dem Stethoskop ergab eine akute Herzschwäche mit Wasseransammlung in der Lunge, einem Lungenödem. Sie war von den Ambulanzschwestern bereits mit einer Sauerstoffsonde in der Nase versorgt worden und glücklicherweise noch kreislaufstabil. Ich verabreichte ihr sofort eine Entwässerungsspritze. Die noch bestehende Kreislaufstabilität musste ich ausnutzen, denn würde der Blutdruck infolge der Herzschwäche kritisch absinken, so wären die Nieren nicht mehr ausreichend durchblutet, und das Entwässerungsmittel würde nicht mehr wirken. Dann hätten wir verloren. Dieses Stadium der Herzschwäche war durchaus ein ernster Notfall. Wir fuhren die Patientin rasch in die Röntgenabteilung, das Röntgenbild bestätigte voll und ganz die Diagnose in Form einer „weißen Lunge“ durch die massive Wassereinlagerung. Die Patientin musste sehr schnell auf die Station gebracht und wieder an die Sauerstoffflasche angeschlossen werden, und sie benötigte umgehend die nächste Spritze zur Entwässerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, auf welche filmreife Szene ich zusteuern sollte.

      Ich schnappte mir also das Bett mit der Patientin und schob es eilig mit wehendem Arztkittel in Richtung der Station. Genau in diesem Augenblick ertönte der wunderschöne Gesang eines großen Frauenchors, der mit klaren, hellen Stimmen das schöne Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ sang. Es war eine große Gruppe unserer indischen Nonnen, gekleidet in ihre langen schwarzen Gewänder und schwarzen Hauben, die seit vielen Jahren als Krankenschwestern an unserer Klinik ihren Dienst verrichteten. Der Gesang hallte ungemein laut an den kahlen Wänden der langen Stationsflure wider, die hohe Tonlage ließ tatsächlich an den Gesang von Engeln denken. Die Schwestern hatten zuvor alle Türen der Patientenzimmer geöffnet, damit die bettlägrigen Patienten an dem schönen Vortrag teilhaben konnten. Langsam kam der Gesang näher. An der Flurgabelung, unter dem großen Adventskranz mit den dicken roten Kerzen, bog der Nonnenchor schließlich um die Ecke.

      Von der anderen Station, also aus der Gegenrichtung der Nonnen, stimmte plötzlich eine raue, leicht grölende Männerstimme, zweifelsohne ein guter Tenor, in den Gesang mit ein. Um die Ecke bog etwas torkelnd der sichtlich genesene Stadtstreicher, fröhlich über dem alkoholselig geröteten Kopf langsam im Takt des Liedes eine bereits halb geleerte, große Schnapsflasche schwenkend. Er war unverkennbar in seinem Element. Erstaunlicherweise kannte er sogar den Text dieses schönen Weihnachtsliedes. Die Herkunft der Schnapsflasche konnte ich trotz gründlicher Recherche nie aufklären. In unserer Krankenhauskantine gab es ganz sicher keinen Schnaps. Welch eine schöne Bescherung! Na warte, mein Freund, dachte ich relativ humorlos. Ich raste mit meiner Patientin im Bett mitten durch den Nonnenchor hindurch, der dadurch zwar in zwei Gruppen zerteilt wurde, seinen Vortrag aber keineswegs unterbrach, ebenso wenig wie natürlich der Stadtstreicher. Einen Heiligen Abend wie diesen hatte ich noch nie erlebt.

      Die Patientin überlebte ihre akute Herzschwäche, und den König der Landstraße konnte ich noch vor Neujahr vollkommen geheilt entlassen. Damit kehrte unter den Schwestern auf meiner Station endlich wieder Ruhe ein, und der Groll der Oberschwester gegen mich verrauchte mit der Zeit.

      Der Winter war noch lange nicht vorüber. Anfang Februar war es bitter kalt geworden, und die Stadt war inzwischen von einer dicken, gefrorenen Schneedecke überzogen. Ich hatte einmal wieder Nachtdienst. Immer wenn ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor der Klinik hielt, verhieß das in der Regel nichts Gutes. Eskortiert und gestützt von zwei Wachtmeistern erschien wenige Minuten später eine kümmerliche Gestalt auf dem Stationsflur, eine deftige Alkoholfahne eilte ihr wie immer weit voraus. Es war der mir inzwischen bestens bekannte Stadtstreicher. „Den haben wir hilflos auf einer Parkbank gefunden“, erklärten sie. Dieser Ruheplatz war bei dem Dauerfrost und in alkoholisiertem Zustand gar keine gute Idee