Название | Die Seele im Unterzucker |
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Автор произведения | Mica Scholten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991072393 |
Dies führte zu weiteren schweren Depressionen meines Vaters, das Geschäft war stets sein ganzer Stolz und sein Lebenswerk gewesen. Nicht zuletzt das Vermächtnis der Familie. Und ganz bestimmt spielten hierbei natürlich auch der familiäre Druck und die damit verbundenen Schuldgefühle eine tragende Rolle. Hatte das über Generationen erfolgreiche Geschäft unter seiner Führung letztendlich versagt. So musste es sich für meinen Vater, welcher von Natur aus sehr sensibel und feinfühlig war, angefühlt haben. Aber über die Schließung sämtlicher „Tante-Emma-Läden“, ganz gleich in welcher Branche, müssen wir hier gar nicht erst anfangen. Dieses Thema versteht sich wohl von selbst. Verdammte Großkonzerne! Auf der einen Seite für den Otto-Normal-Bürger natürlich sehr praktisch, auf der anderen Seite aber auch verantwortlich für das Aussterben vieler Existenzen. Was bedeutet schon noch ein Einzelschicksal in einer Welt, in welcher es nur um Geld und Macht geht? Einen feuchten Scheißdreck!
Kurz vor der Schließung des Geschäfts war mein Vater bereits in eine andere Wohnung gezogen, da er die Miete für unsere ehemalige gemeinsame Wohnung direkt über dem Geschäft nicht länger aufbringen konnte. Diese Wohnung schloss ich von Anfang an ins Herz. Es war eine wunderschöne Maisonettewohnung, welche sich vom 1. Stock bis hin ins Dachgeschoss streckte. Sie besaß einen schnuckeligen kleinen Balkon, auf welchem mein Vater und ich uns stundenlange Schach-, Trivial Pursuit- und Sechsundsechzig-Runden lieferten. Oben im Dachgeschoss lag neben dem Wohnzimmer auch mein neues Kinderzimmer, in welches durch das große schräge Dachfenster die Sonne im Sommer nur so durchbrach. Längeres Spielen mit meinen Figuren war dann nicht mehr möglich.
Unten im Keller besaß mein Vater einen Raum, welcher als Werkstatt für diverse Reparaturen benutzt wurde. Nachdem das Geschäft geschlossen war, schaffte es mein Vater dank einiger langjähriger Stammkunden, sich auf selbstständiger Basis mit Reparaturen, Bestellungen und Arbeiten im Außendienst noch eine Weile lang über Wasser zu halten. Auf Dauer reichte es allerdings nicht für den Lebensunterhalt und die Selbstständigkeit musste aufgegeben werden. Er wurde arbeitslos. Gelegentlich fielen trotzdem einige Arbeiten an, welche mein Vater „unter der Hand“ für alte Kunden verrichtete. Auch mein damaliger Videorecorder und mein kleiner Röhrenbild-Fernseher lagen regelmäßig auf seinem Tisch zur Wartung.
Nachdem es mit seiner Werkstatt in den hauseigenen Wänden nicht mehr lief, begann mein Vater für eine Zeit lang in einer Firma zu arbeiten, welche sich ebenfalls mit Elektrotechnik beschäftigte. Aufgrund seines Status’ als Radio-Fernsehtechniker-Meister erhielt er dort auch einen ganz guten Posten als Abteilungsleiter. Seine Aufgabe bestand darin, die Arbeiter der Elektroteileherstellung zu überwachen und anzuweisen. Einmal durfte auch ich mitgehen und gelbe Sticker auf Platinen kleben. Ich freute mich für ihn, dass er wieder eine neue Stelle gefunden hatte. Aber irgendwie klappte dies nicht allzu lange und er wurde nach einigen Monaten wieder entlassen. Mir gegenüber begründete er es so, dass er die unmöglichen, nervigen Klatschweiber aus seiner Abteilung auf Dauer nicht aushielt und deshalb auf eigenen Wunsch hin kündigte. Was sich im Nachhinein als unwahr herausstellte, da ihm gekündigt wurde. Aber diesbezüglich mache ich ihm keinen Vorwurf, es ist nur zu verständlich, dass er in meinen Augen der vorbildliche Vater sein wollte, der immer alles im Griff hatte. Die Gründe für seine Kündigung sind mir bis heute unklar, allerdings kann ich mir mögliche Erklärungen zusammenreimen. Einerseits war es die ungewohnte neue Arbeitssituation als Angestellter, welche er auf diese Art nicht kannte. Er war in seinem Geschäft stets sein eigener Chef und selbstständig gewesen, was es ihm natürlich schwer machte, sich von heute auf morgen unterzuordnen. Eventuell spielten seine schweren Depressionen und sein gelegentlicher Alkoholkonsum ebenfalls eine tragende Rolle. Ich glaubte fest an ihn, dass er seine Fähigkeiten bald anderswo zum Einsatz bringen könnte, sobald er das Richtige gefunden hätte. Schließlich war er sogar Meister, kannte sich in Radio- und Fernsehtechnik blendend aus. Aber genau wie ich, so war auch mein Vater vom Wesen her ein Gewohnheitstier. Vermutlich wäre es ihm sehr schwergefallen, hätte er sich auf Computertechnik und ähnliches spezialisieren müssen.
Da es von nun an beruflich für meinen Vater alles andere als rosig aussah, blieben irgendwann auch die regelmäßigen Unterhaltszahlungen an meine Mutter aus. Sie blieb ihm gegenüber stets fair und korrekt, hatte er doch die letzten Jahre immer regelmäßig bezahlt. Sogar meist mehr als er eigentlich hätte müssen, als es ihm finanziell noch deutlich besser ging. Es war eine noble Charaktereigenschaft von meiner Mutter, meinem Vater in dieser Hinsicht nicht unter Druck zu setzen, was ich ihr bis heute sehr hoch anrechne. Viele andere wären in dieser Situation schon wiederholt zum Anwalt gerannt und hätten ihre Unterhaltszahlung auf irgendeine Art und Weise eingeklagt.
Und jenes Geld fehlte uns von nun an. Doch meine Mutter schaffte es immer, uns gut über die Runden zu bringen. Wir lebten nicht im Luxus und sparten wo es nur ging. Zumindest meine Mutter. Mein Bruder und ich waren beide recht verwöhnt, was das Essen anging. Wobei hier fairerweise erwähnt werden muss, dass es bei meinem Bruder lange nicht so ausgeprägt war wie bei mir. Im Kleinkindalter aß er alles gerne, was man ihm vorsetzte. Sogar Dinge, welche mir persönlich nicht so schmeckten.
Meine Mutter ist von Natur aus ohnehin keine leidenschaftliche Köchin wie es mein Vater war. Obwohl mir ihr Essen meist auch sehr gut schmeckte. Beispielsweise ihr Brokkoli-Auflauf und ihre Lasagne waren phänomenal und auch bei der leckeren Bohnensuppe langten wir stets kräftig zu. Um Zeit und Geld zu sparen, gab es allerdings auch gelegentlich Ravioli oder Käsenudeln. So kann gesagt werden, dass wir durchaus eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung genossen. Ganz besonders mein tägliches Abendessen, welches zum Großteil aus Gemüse bestand, versorgte mich über viele Jahre mit den nötigen Vitaminen und Mineralstoffen. Auch dann, wenn es mittags mal schnell gehen musste, was auch nur allzu verständlich war im aktiven Berufs- und Schulalltag.
Da mein Vater nun noch mehr Zeit als sonst zum aktiven Kochen hatte, wollte er fürs bevorstehende Wochenende immer ganz genau wissen, was ich mir denn wünschte. So hatte er unter der Woche genug Zeit, alles Nötige dafür zu besorgen und vorzubereiten. Stundenlang schwelgten wir im Gaumenschmaus, anschließend wurden noch Mandelhörnchen und Vanilleeis genascht. Auf der einen Seite natürlich nachvollziehbar, dass man sich ein schönes und unbeschwertes Wochenende machen möchte, wenn man das Kind die ganze Woche über selten sieht. Aber trotz allem hätte auch er mich ein bisschen bremsen sollen, allein schon wegen meiner immer molliger werdenden Figur und meinem Zucker.
Essen als Ventil?
Es mag Menschen geben, für welche Essen einfach nur dazugehört oder eben ein Mittel zum Zweck darstellt, aber keine tiefgründigere Bedeutung aufweist. Natürlich schmeckt das eine deutlich besser als das andere, aber nach der Mahlzeit ist es dann auch wieder für eine Weile vorbei. Das war bei mir schon immer deutlich anders. War eine gute Mahlzeit zu Ende, war ich häufig traurig und holte mir einen Nachschlag, um das Gefühl des Genusses und der Befriedigung noch einige Zeit länger aufrecht zu erhalten. Selbst dann, wenn ich im Grunde eigentlich schon längst satt war und nur noch wegen des guten Geschmacks nachschaufelte.
Es hängt bestimmt auch mit meinem schon sehr früh eingetroffenen Diabetes zusammen, dass das Essverhalten in meinem Leben schon immer eine zentrale Rolle spielte. Was und wann darf bzw. sollte ich essen? Wie viel und wie oft muss ich dafür per Injektion korrigieren? Und mit wie vielen Einheiten? Als Typ 1-Diabetiker ist beim Essen permanentes Mitrechnen im Kopf Voraussetzung. Zumindest dann, wenn man es einigermaßen richtig machen will.
Aufgrund meiner Handicaps und meiner Sonderrolle nutzte ich das Essen nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als regelrechtes Ventil um mich gut zu fühlen. Dies führte dazu, dass ich natürlich auch immer ordentlich zulangte, dementsprechend viel Insulin benötigte und über die Jahre immer fülliger wurde. Ich war zwar niemals krankhaft fettleibig oder adipös, wie man es in der Fachsprache bezeichnet, aber trotz allem recht mollig und ausgefüllt. Lange machte ich mir diesbezüglich keinen Kopf, aber irgendwann begann es doch in mir zu arbeiten. Spätestens ab der Pubertät, wo man die eigene Optik gerne einmal genauer unter die Lupe nimmt. In