Название | Die Seele im Unterzucker |
---|---|
Автор произведения | Mica Scholten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991072393 |
Wenigstens mein Vater schien zu mir zu halten. Um mich zu schonen behauptete er, nicht zur Feier zu gehen, weil er ebenfalls am Folgetag aufstehen müsste. Diese Tatsache erleichterte mir die schmerzliche Erkenntnis, ausgeschlossen worden zu sein. Immerhin ging mein Vater auch nicht hin … so dachte ich zumindest.
Einige Tage später erfuhr ich durch meine Großeltern, dass er wohl doch bei der Feierlichkeit dabei gewesen war und fühlte mich hintergangen. Nicht, dass ich es ihm nicht von Herzen gegönnt hätte, so wie allen anderen auch. Aber es fühlte sich so gemein an, dass es allen anderen vergönnt war, nur nicht mir. Was hatte ich wohl alles verpasst? Ich besuchte sie anschließend für einige Zeit nicht mehr und war äußerst eingeschnappt.
Ich verspürte ein ähnlich starkes Gefühl der Ausgeschlossenheit, als für meine Klasse im 7. Schuljahr eine Woche im Schullandheim bevorstand. Diese sollte hauptsächlich aus langen Wanderausflügen und Tagen im Kletterwald bestehen. Als ich erstmals davon hörte, freute ich mich sehr darauf. Bis mir meine Lehrerin verkündete, ich dürfe aufgrund meiner Sehnenverkürzung nicht mitgehen. Sie hielt es körperlich für zu anspruchsvoll, da sie einen vergangenen Schulausflug im Zoo noch deutlich vor Augen hatte. An jenem Tag tat mir nach vielen Stunden des Laufens der rechte Fuß unendlich weh und ich musste mich des Öfteren hinsetzen und pausieren. Es wäre daher nur in meinem Sinne und auch in jenem meiner Klasse, da nicht 35 andere Kinder ständig Rücksicht auf einen Einzelnen nehmen könnten. Ich sollte diese Woche in der Parallelklasse verbringen, welche ganz normalem Unterricht nachging.
Meine Mutter fand diese Entscheidung ebenfalls nicht korrekt und versprach mir dafür zu sorgen, dass ich jene Woche wenigstens zuhause bleiben dürfte und nicht „zur Strafe“ noch den regulären Unterricht besuchen müsste, während sich meine Klassenkameraden im Kletterwald amüsieren durften. Nachdem sie mit meiner Klassenlehrerin gesprochen hatte, bestand das Ende vom Lied darin, dass ich jene Woche nun doch in der Parallelklasse verbringen musste. Angeblich waren meine Noten so bescheiden, dass mir eine Woche zusätzlicher Lernstoff alles andere als schaden würde. Vielen Dank auch fürs Gespräch …
Die innere Frustration über meinen eingeschränkten Fuß und die allgegenwärtige bildliche Vorstellung meiner Klassenkameraden, welche nun Spaß haben durften, während ich im regulären Unterricht saß, nagten an meinem Gemüt.
„Gesunde“ Kinder dürfen nun einmal Spaß haben, Krüppel nicht. Mein Selbsthass hatte mal wieder ordentlich Futter bekommen. Dass dies aus reiner Rücksicht für alle Parteien erfolgte, kam mir nicht in den Sinn. Heute verstehe ich meine Lehrerin und ihre Entscheidung nur zu gut. Ihr tat es im Grunde ja selbst leid, was sie mir im Nachhinein auch noch einmal beteuerte. Sie schenkte mir zum Trost ein kleines Notizblöckchen, auf welchem lustige Kühe abgebildet waren. Als mir meine Mitschüler von der Zeit im Schullandheim erzählten, wollte ich nichts hören. Zu groß war die Angst, etwas besonders Schönes verpasst zu haben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Verdrängung? In Wirklichkeit interessierte es mich brennend …
Immer häufiger begann ich damit, mich selbst zu verletzen. Im Gesicht hatte ich es mittlerweile aufgegeben, da ich dort keine bleibenden Narben riskieren wollte. Ich suchte mir andere Stellen aus, überwiegend den Unterarm. War doch ohnehin schon verunstaltet von den Narben meiner Hautkrankheit, warum nicht noch ein bisschen mehr nachhelfen? Diesmal jedoch aus eigener, selbstbestimmter Kraft. Was du kannst, kann ich schon lange, du erbärmlicher, dämlicher Körper!!!
Tat ich dies anfänglich eventuell nur aus der ursprünglichen Intension etwas Aufmerksamkeit zu erhalten, wurde es irgendwann zur regelrechten Sucht. Der kurze Moment des Schmerzes, wenn es mir kurz heiß-kalt den Rücken herunterlief, ließ mich vergessen und verdrängte den inneren Druck. Mein Vater, welchem die teilweise sehr tiefen Schnitte auf Dauer natürlich nicht verborgen blieben, behauptete, ich hätte ein Borderline-Syndrom. Jene psychische Erkrankung, von welcher auch Onkel Beck angeblich betroffen war, wie man mir sagte. Bei ihm äußerte sich jene „Erkrankung“ allerdings nicht in Selbstverletzung wie bei mir, sondern eher in aggressivem Verhalten, was durch Alkohol verstärkt wurde. Bestimmt litt auch er unter Depressionen. Und jene äußern sich bei jedem Menschen etwas anders. Ob ich oder er tatsächlich explizit unter Borderline litten bzw. leiden, wurde jedoch niemals eindeutig diagnostiziert. Jene Symptome sind zwar typisch für diese psychosomatische Erkrankung, allerdings passen sie auch gleichzeitig zu mindestens zehn anderen psychischen Krankheitsbildern. Dass ich Symptome davon aufzeigte, streite ich nicht ab.
Zweimal versuchte ich mir mithilfe einer Überdosis Insulin in frühen Jugendjahren das Leben zu nehmen. Ich wusste damals noch nicht, dass es quasi unmöglich ist, auf diese Weise zu sterben. Ich dachte immer, ist der Blutzuckerwert auf 0 mg/dl, so stirbt man ganz automatisch. Das stimmt allerdings so nicht ganz. Man verliert zwar irgendwann das Bewusstsein und fällt in eine massiv komatöse Unterzuckerung, aber die Leber arbeitet systematisch dagegen an und gibt zuvor gespeicherte Zuckerreserven ins Blut ab, welche es quasi unmöglich machen zu versterben.
Zweimal zog ich mich abends in mein Zimmer zurück, zog mir 3 prall gefüllte Spritzen mit Kurzzeitnsulin auf und spritzte mir diese in den Bauch. Irgendwann schlief ich friedlich ein, wurde aber beide Male rechtzeitig von meiner Mutter entdeckt, welche mir Traubenzucker fütterte, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Ich erzählte nichts von meiner Absicht, begründete es einfach damit, mir versehentlich ein bisschen zu viel gespritzt zu haben. Das war auch nicht weiter verwunderlich für sie, es kam häufiger vor, dass ich ein bisschen zu tief war, was beim Typ 1-Diabetes beinahe unvermeidlich ist. Ob ich es damals wirklich mit vollem Herzblut tun wollte, bezweifle ich heute ein bisschen. Ich hatte weder meine Zimmertüre verschlossen noch einen Abschiedsbrief verfasst. Bestimmt handelte es sich auch hierbei um einen unbewussten Hilferuf.
Allerdings war dieser Gedanke gar nicht so abwegig. Ich träumte sehr oft von einem schnellen und schmerzlosen Tod, welcher den durchgehenden Sturm in meinem Kopf in Form von Selbsthass, Unsicherheit und Trauer ein für alle Mal beenden sollte. Es war doch alles so sinnlos, niemals würde mich jemand verstehen oder so akzeptieren wie ich war. Jeder hackte meiner Ansicht nach nur auf mir herum und wusste es besser. Die Anfeindungen aus der Schule und meine Sonderrolle, die Sorge, dass ich durch meine schlechten Noten ohnehin keinen guten Abschluss bekommen, geschweige denn einen guten Beruf erlernen würde. Die Tatsache, dass ich niemals ein Leben ohne körperliche Einschränkungen führen werde, die immer wiederkehrenden Schuldgefühle und Ängste …
Ich hatte einfach genug von dieser ungerechten Welt und brachte dies auch gelegentlich zur Sprache. Was meiner Mutter mehr zu schaffen machte als ich ursprünglich dachte. Eines Tages erzählte sie mir, dass sie sehr empfindlich gegenüber dem Thema Selbstmord eingestellt wäre. Der Grund: Mein Opa, ihr Vater, von welchem bis dato alle immer nur in lustigen Erinnerungen schwelgten, hatte sich während der Feier zu seinem 50. Geburtstag das Leben genommen …
Auch er litt angeblich unter schweren Depressionen, welche es ihm unmöglich machten weiter zu leben. Ich war schockiert. Bis dato dachte ich immer, dass er schwer krank gewesen wäre, was in diesem Sinne ja auch keine Lüge war. Nur handelte es sich eben nicht um eine körperliche, sondern um eine psychische Krankheit, welche ihn letztendlich tötete. Als ich bewusst reflektierte, fiel mir auf, dass tatsächlich niemals über jenes Thema in meiner Gegenwart gesprochen wurde und auch meine Oma immer gleich abblockte, wenn es darum ging, wie er denn genau gestorben war. Was auch nur allzu verständlich ist.
Auch mit meinem Vater sprach ich die Tage noch einmal über jenes Thema und erzählte ihm, dass ich von nun an auch Bescheid wüsste. Daraufhin erzählte mir mein Vater Genaueres über jenen Tag. Auch wir waren damals zur Geburtstagsfeier meines Opas anwesend. Die Feier fand im Gartenhäuschen meiner Großeltern statt und war in vollem