Die Seele im Unterzucker. Mica Scholten

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Название Die Seele im Unterzucker
Автор произведения Mica Scholten
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991072393



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Zeit keinen Anlass mehr, die Therapie fortzuführen. Die paar kleinen Kinderprobleme, die ich hätte, würden schon von selbst vergehen. Meine Mutter warf mir vor, dass ich ihn bewusst getäuscht hätte, um mich vor einer erfolgversprechenden Therapie zu drücken. Es mag schon sein, dass ich das eine oder andere Problem nicht offen ansprach und lieber den unbeschwerten, fantasievollen kleinen Unschuldsengel gab. Allerdings wusste ich zum damaligen Zeitpunkt auch nicht wirklich, was diesbezüglich von mir erwartet wurde. Bis auf meinen blöden Zucker war doch eigentlich nicht viel anders als bei „normalen“ Kindern. Oder …?

      In diesem Zeitraum hatte ich außerdem meine erste stationäre Schulung. Eine Woche allein im Krankenhaus auf der Kinderstation, um selbstständig zu erlernen, wie ich denn mit meinem Diabetes am besten umzugehen habe. Bisher hatten dies stets meine Eltern für mich übernommen.

      Auf der Station lernte ich mehr über die BE-Anzahlen und wie man jene errechnet. Außerdem erhielt ich eine komplett neue Mess-Spritz-Ausrüstung, inzwischen war diese schon wieder auf einem etwas neueren Stand. Die Nadeln der Spritzen waren inzwischen deutlich kürzer und ich erhielt ein neues Basalinsulin. Weiterhin ein neues Messgerät, welches mit einer kleinen Streifentrommel à 50 Stück versehen wurde. So musste nur noch vor jeder Messung ein kleiner Buttom nach oben geschoben werden, woraufhin ein winzig kleiner Teststreifen direkt aus dem Messgerät ausgefahren wurde. Das fand ich sehr viel praktischer als jedes Mal einen neuen Streifen einzuführen und fast 30 Sekunden auf das Testergebnis zu warten. Der Countdown vom neuen Gerät fiel deutlich kürzer aus.

      Außerdem war es nun langsam an der Zeit, selbst die Nadel in die Hand zu nehmen. Schließlich musste ich früher oder später selbst erlernen, wie ich mich (auf Lebenszeit?) mit Insulin zu versorgen hatte. Ich fürchtete mich anfangs davor und weigerte mich zunächst, es selbst zu versuchen. Die Macht der Gewohnheit eben. Meine Mutter bot sich während der Schulung tapfer an, dass ich es zuerst einmal an ihrer Bauchfalte probieren sollte, bevor ich mich selbst spritzte. Natürlich handelte es sich bei jenem „Probelauf“ nicht um echtes Insulin, sondern um eine harmlose Substanz, welche keinen Einfluss auf ihren Körper hatte. Ich glaube, es war Wasser. Jedenfalls klappte es recht gut und ich war motiviert, es nun auch an mir selbst zu versuchen. Schon bald hatte ich es gut raus und es wurde zur Gewohnheit, es nun täglich selbst zu tun. Allerdings achtete ich niemals vorbildlich auf das Abwechseln der Einstichstellen und verwendete auch mehrmals die gleiche Spritze. Das Resultat: Meine rechte Bauchfalte neben dem Nabel verhärtete und es bildete sich ein dicker Knubbel. Lieblingsdoktor Hofer zeichnete mit dem Kugelschreiber einen Kreis darum, welcher mich daran erinnern sollte, an anderen Stellen zu spritzen.

      Ferner erklärte er mir in einer weiteren Schulung einige Jahre später, dass BEs nicht nur in Form von Zucker allein, sondern durch Kohlenhydrate errechnet werden.

      So glaubte ich zuvor doch ernsthaft, dass die Knabberbox aus Chips und Salzbrezeln, welche ich mir am Krankenhauskiosk gekauft hatte, keine Broteinheiten zum Herunterspritzen enthielt. Tja, Pustekuchen aber auch …

      Doktor Hofer erschrak regelrecht, als er mich beim abendlichen Kontrollrundgang mit der Box auf meinem Bett erwischte und fragte entsetzt, ob mir denn bewusst wäre, wie viele BEs in solch einer „Sünde“ stecken würden. Ich verneinte.

      Tja, wieder was dazugelernt, auch ein Diabetiker lernt eben niemals vollständig aus. Ehrlich gesagt: Mit dem Auswendiglernen sämtlicher Inhaltsstoffe, geschweige denn BEs, war ich früher noch nie wirklich up to date. Da es bis dato auch immer meine Eltern für mich berechnet hatten. Natürlich trotzdem keine Entschuldigung dafür, dass ich mich selbst niemals intensiv damit beschäftigt hatte. Alles, was ich wollte, war normal zu sein, ohne ständiges Kopfzerbrechen und Berechnen. Dank meinen Eltern blieb mir dies auch recht lange erspart.

      Das nächste Handicap

      Nachdem ich mich in meiner alten Heimatstadt wieder eingelebt hatte und eigentlich alles zum Besten stand, da sollte schon wieder ein weiterer Schicksalsschlag erfolgen. An meinem rechten Fuß bildete sich nach und nach ein dunkler Fleck, die Haut versteifte immer mehr. Es sah optisch so aus, als hätte ich dort eine schwere Verbrennung erlitten. Und irgendwann kam ich mit meiner rechten Ferse nicht mehr auf den Boden.

      Ein alter Freund unserer Familie, ein türkischer Arzt, seit Jahren im Ruhestand, fand einen ersten Anhaltspunkt: zirkumskripte Sklerodermie. Ein Besuch bei einer Fachärztin bestätigte diesen Verdacht.

      Eine sehr seltene rheumatische Erkrankung, bei welcher sich Flecken auf der Haut bilden und sich das Bindegewebe von innen zerstört. In meinem Fall hatte es den rechten Fuß erwischt und verhinderte somit das normale Wachstum der Sehne. Zu meinem Glück hatte ich „nur“ die äußere Form der Sklerodermie, welche sich auf Haut, Sehnen und Gelenke bezieht und deren Funktion einschränkt. Es gibt von dieser seltenen Krankheit auch eine innere Verlaufsform, welche Organe, Zellen und Gefäße befällt und in den meisten Fällen zum Tode führt. Glück im Unglück? Ansichtssache …

      Da ich das zusätzliche „Glück“ hatte, dass mich diese Krankheit noch im Wachstumsalter erwischte (bei Kindern sind nur sehr wenige Fälle dieser Krankheit bekannt), war ich in puncto Gehfähigkeit von nun an überwiegend eingeschränkt. Meine Ferse hing in der Luft, hinten konnte ich fortan nicht mehr auftreten. Ich lief ab diesem Zeitpunkt nur noch auf Zehenspitzen. Schuheinlagen vom Orthopäden schafften erste Abhilfe. Aber es sollte nie wieder so werden wie vorher.

      Nachdem wir nun wussten, um welche Erkrankung es sich handelte, vereinbarten meine Eltern einen Termin in einer Spezialklinik. Dort wurde eine spezielle UVA1-Licht-Bestrahlung in die Wege geleitet, zu welcher ich nun wöchentlich mehrmals hingehen musste. Dies sollte bewirken, dass die Krankheit zum Stillstand kommen möge, sich das Bindegewebe wieder erholen und die Sehne normal weiterwachsen sollte. Mir wurde ein Tuch um den Körper gelegt, welches ihn vor der Bestrahlung schützte. Zusätzlich trug ich eine spezielle Sonnenbrille in der Kabine, eine von denen, welche auch in richtigen Solarien zum Einsatz kommen. Jedes Mal saß ich nun etwa für 10–50 Minuten in der Kabine (Die Dauer wurde pro Tag um etwa 1 Minute gesteigert, um meine Haut an das Licht zu gewöhnen) und ließ mich in der besonderen Solariumkabine braten. Nebenbei hörte ich Musik über meinen Walkman, um mir die Wartezeit zu verkürzen.

      Parallel dazu erhielt ich eine zusätzliche Behandlung in Form vieler Tabletten. Cortison, MTX, Folsäure und viele weitere Präparate (von welchen ich weiß Gott die Namen nicht mehr weiß), wurden verschrieben, um mein Wachstum zu unterstützen. Ich hasste Tabletten wie die Pest und tat mir anfangs richtig schwer, die ganzen Dinger hinunter zu kriegen. Zum Glück nur eine weitere Gewohnheitsfrage.

      Einige Wochen später der nächste Schlag: Nun schien auch noch meine rechte Hand betroffen zu sein. Als ich im Geschäft meines Vaters auf der Treppe saß und spielte, entdeckte mein Vater eine kleine dunkle Verfärbung auf meinem rechten Handrücken. Er reagierte geschockt und flehte, dass es doch bitte nicht an dieser Stelle auch noch losgehen möge. Was für ein Unsinn, dachte ich mir anfangs nur. Meine Hand funktionierte einwandfrei. Elastizität und Bewegungsfreiheit waren bis dahin noch ganz normal. Jedoch änderte sich auch dies rapide in den nächsten Monaten der Wachstumsphase. Irgendwann konnte ich die Finger nicht mehr richtig herunterbiegen, eine normale Faust zu machen war inzwischen unmöglich. Und auch nach unten konnte ich das Handgelenk nicht mehr beugen. Auf der linken Seite blieb dagegen alles normal. Wie auch bei den Füßen. Rechtsseitig vorübergehend außer Betrieb, links entwickelte sich alles normal. Der Fleck breitete sich nach und nach immer weiter aus und erstreckte sich über meinen gesamten rechten Unterarm. Jene Stellen wurden von nun an auch bestrahlt.

      Doch damit immer noch nicht genug. Ein weiterer großer Fleck bildete sich an meiner rechten Hüfte und breitete sich übers Gesäß aus. Mehrere kleinere Flecken erstreckten sich nach und nach über meinen ganzen Körper, überwiegend auf der rechten Seite. Oberarm, Bein, Schenkel und Brustkorb waren bald übersät mit kleinen Flecken. Die meisten nicht viel größer als ein 2 €-Stück. Dies ist unter anderem auch der Grund, warum ich seit diesem Zeitpunkt nie mehr gerne öffentlich zum Schwimmen ging. Ich schämte mich zutiefst, auch für meinen hinkenden Barfußgang, und zog das private Schwimmen im Pool meiner Großeltern vor. Aufgrund dieses Problems gehe ich auch heute noch sehr ungern ins öffentliche Frei- oder Schwimmbad. Und wenn, so lasse ich zumindest immer ein Shirt